Montag, 31. Dezember 2007

Englische Kurzgeschichten - von Scott bis Stevenson

Heute möchte ich mal eine Lanze brechen für eine Buchreihe, die mir in den letzten Jahren sehr ans Herz gewachsen ist. Die wunderbaren Bändchen der Sammlung Dieterich aus der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung in LEIPZIG. Die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung ist Trägerin eines der ältesten Verlagsnamens Deutschlands. Sie wurde 1765 von Johann Christian Dieterich in Göttingen gegründet und konnte mit Johann Christoph Lichtenberg einen der bedeutendsten und bekanntesten Autoren seiner Zeit verpflichten.1937 begann Wilhelm Klemm, der das Verlagshaus 1927 erwarb, in Zusammenarbeit mit dem Philologen Rudolf Marx die Herausgabe der "Sammlung Dieterich", die nach dem 2. Weltkrieg in geteilter Form in Leipzig und Wiesbaden/Bremen weiter erschien.1982 erfolgte dann die Wiederbegründung der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung in Mainz.

Die englischen Kurzgeschichten (Band 56 der Sammlung Dieterich, die "schönen Taschenbände der Weltliteratur"), stammen aus der Leipziger Zeit, erschienen 1948. Die Bände haben ein ausgesprochen handliches Format (knapp größer als die bekannten Manesse-Bändchen), gebunden in Leinen mit Goldprägung und Lesebändchen, also wirklich sehr schön! Heute kann man die Bände in jedem ordentlichen Antiquariat finden, so auch z.B. bei den online-Antiquariaten ZVAB, booklooker oder aber auch besonders günstig bei ebay.

Bleiben wir aber bei den englischen Kurzgeschichten. Generell lese ich Kurzgeschichten, Short Stories, Novellen und andere epische Kurzformen ganz gerne. Die Kürze der Darstellungsform zwingt den Autor dazu, den Leser mit möglichst wenigen Worten mitten in das zu berichtende Geschehen hineinzuversetzen (Hemingway ist der absolute Großmeister der "wenigen Worte"...). Leider ist diese Gabe nicht jedem Autor gegeben, daher sind die wirklich guten Kurzgeschichten auch dünn gesäht. Der vorliegende Band mit 22 Kurzgeschichten chronologisch geordnet von Sir Walter Scott bis Robert Louis Stevenson bietet einen reichen Querschnitt der englischen Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts, darunter auch in Deutschland weniger bekannte Autoren, wie z.B. Thomas Crofton Crocker, Thomas Hood, Charles James Lever oder Richard Harris Barham. Allen voran aber Charles Dickens, der Meister der Schilderung mit der "Geschichte eines Handlungsreisenden", William Makepeace Thackeray, Antony Trollope, William Wilkie Collins oder aber auch Oscar Wilde. Viele der Geschichten machen vor allem Appetit auf mehr (insbesondere werde ich mir in nächster Zeit mal Wilkie Collins mit seiner "Frau in Weiß" und dem "Monddiamanten" vornehmen). Abgerundet wird das Ganze mit einem kleinen Anhang mit Anmerkungen und Erklärungen zu den einzelnen Geschichten. Neben den englischen Kurzgeschichten gibt es natürlich auch noch Bände mit französischen, amerikanischen und deutschen Kurzgeschichten, auf die ich bei Gelegenheit noch einmal zurückkommen werde.


Links:

  • Englische Kurzgeschichten - von Scott bis Stevenson, Sammlung Dieterich Band 56, Dieterichsche Verlagsbuchhandlung bei booklooker

  • Meine Bücher bei booklooker

Sonntag, 30. Dezember 2007

Barocker Bildungsthriller, die Zweite...

Die Zeit "zwischen den Jahren" verläuft glücklicherweise meist ziemlich ruhig. Die letzten Spuren des weihnachtlichen Familienchaos sind beseitigt und man macht sich so seine Gedanken über das zurückliegende Jahr. Meine Güte, es ist schon über einen Monat her, dass ich das letzte mal hier einen Beitrag verfasst habe...und ich bin dazu schon wieder drei Bücher im "Rückstand"...

Das letzte große Werk, dass ich noch vor Weihnachten beendet hatte, war Monaldis & Sortis "Secretum.", der zweite Band um das ereignisreiche Leben und die Abenteuer des Atto Melani, Kastrat und Geheimagent im Dienste des Sonnenkönigs Ludwig XIV. Große Erwartungen waren bereits durch die Lektüre des ersten Bandes "Imprimatur." geweckt, und wie so oft hat es ein Folgewerk schwer, diese hochgesteckten Ziele zu erfüllen. Aber dem will ich erst einmal nicht vorweg greifen.

Wir schreiben das Jahr 1700. Rom feiert (ein weiteres) heiliges Jahr, abertausende von Pilgern aus ganz Europa strömen in die heilige Stadt. Kardinal Spada, Staatssekretär des Kirchenstaates, richtet in seiner prachtvollen Villa die Hochzeit seines Neffen aus und unter den illustren Gästen finden wir auch den gealterten Atto Melani. Die schwere Krankheit des Papstes und das aus diesem Grunde bevorstehende Konklave machen dieses gesellschaftliche Ereignis zu einem politischen Event erster Güte, und Atto Melani versucht geschickt im Sinne seines Auftraggebers, des französischen Königs, die Fäden zu ziehen. Ebenfalls der namenlose kleinwüchsige Erzähler aus dem ersten Band findet sich als Gärtnergehilfe und Vogelmeister (der sich um die prächtigen Volieren des Kardinals kümmert) inmitten des Geschehens wieder. Melani heuert ihn als Gehilfen an, lässt ihn aber wie stets über seine wahren Absichten im Dunkeln. Neben der bevorstehenden Papstwahl geht es zudem auch noch um die spanische Erbfolge. Der spanische König liegt kinderlos auf dem Sterbebett und sowohl Kaiser Leopold (des heiligen römischen Reiches deutscher Nation) und der Sonnenkönig erheben Anspruch auf den spanischen Thron. Wir geraten erneut in eine wilde Verschwörung, bei der seltsame -- aber wohlorganisierte -- Bettlersekten, korrupte Polizisten, ein sprechender Papagei und eine Spukvilla den Rahmen für eine mitunter turbulente Handlung bieten.

Erneut ist die Handlung in den fiktiven Rahmen einer Korrespondenz zwischen dem (ehemaligen) Bischof Lorenzo dell'Agio, jetzt strafversetzt nach Rumänien (-> Anspielung auf Ovid) und dem Sekretär der Kongregation für die Heiligsprechung eingebettet (man verdächtigte den Bischof von Como, er hätte das Manuskript zu "Imprimatur" heimlich und ohne Zustimmung der Kirche veröffentlicht) und wieder geht es um ein Manuskript, das dem Bischof von seinen untergetauchten "Autorenfreunden" zugesandt wurde. Einheit des Ortes und Einheit der Zeit scheinen dem Autorenduo Monaldi und Sorti am Herzen zu liegen, beschränkt sich die Handlung erneut auf gerade einmal 10 Tage und der Ort des Geschehens ist größtenteils das Anwesen der Villa Spada und diesmal das "oberirdische" Rom. Die Protagonisten sind ebenfalls größtenteils bereits aus dem ersten Band bekannt, auch wenn dessen Handlung bereits 17 Jahre zurück liegt. Ebenfalls wird der Band mit HInweisen zu Originaldokumenten abgeschlossen, die die Authentizität der behandelten Fakten belegen sollen und zudem sehr interessant sind.

Eines muss man den Autoren lassen. Wenn sie etwas schreiben, dann schreiben sie es gründlich -- wie der geneigte Leser auf den mehr als 1000 Seiten des Romans erfahren mag. Durchaus kommt es diesmal auch zu einigen Längen. Natürlich sind die historisch untermauerten Schilderungen oft hochinteressant, aber einige "schräge" Details waren dann auch mir zuviel. So etwa der sprechende Papagei -- der natürlich auch nur spricht, wenn der Erzähler zugegen ist -- der der Richtung der Handlung mehrmals eine neue Ausrichtung gibt (...bei Raumschiff Enterprise waren diese "Kunstkniffe", die die Handlung an einem toten Punkt weiter bringen sollten, üblicherweise das "Beamen" oder eine "Subraumanomalie"...). Andererseits auch die seltsamen "Phantome" der Geistervilla, die als "il Nave" (das Schiff) bezeichnet wird mit ihrem seltsamen Bewohner, dem holländischen Geiger, der immer nur ein einziges Stück, eine "Folia" (Verrücktheit), spielt. So auch die Verschwörungstheorie mit den "Carretanern" (Bettler oder Ketzer....wer weiss), die für anscheinend jede Untat in der heiligen Stadt verantwortlich zeichnen. Alles eben durch und durch "barock".... Aber für mich diesmal ein wenig zuviel des guten. Bot der erste Band noch atemlose Spannung plus detaillierte Schilderungen des barocken Roms, fällt es den Autoren diesmal ziemlich schwer, die Spannung zu halten. Hinter der prallen und farbenfrohen Welt des barocken Roms bleiben leider erneut die Figuren leidlich blass. Insgesamt ist die Serie auf sieben Bücher angelegt, der dritte Band "Veritas" ist bereits erschienen. Allerdings hoffe ich, dass die Folgebände wieder etwas an Profil zulegen können. Zunächst einmal ist mein Bedarf an historischen Kriminalromanen für einige Zeit gestillt...

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Donnerstag, 22. November 2007

Arthur Schnitzler meets Stanley Kubrick

Im Rahmen der Stanley Kubrick Reihe zeigt arte heute abend (20.40 uhr) Kubricks letzten Film 'Eyes Wide Shut'. Wie eigentlich bei allen Kubrick-Filmen spaltet auch dieser das Publikum und wie bei vielen anderen Kubrick-Filmen auch, hat sich der Regisseur ein überaus interesantes Werk der Weltliteratur herausgepickt und verfilmt: Arthur Schnitzlers Traumnovelle.
Ich hatte schon einmal eine Kritik (allerdings in englischer Sprache) zu diesem Buch geschrieben, die ich anlässlich des heutigen Programms auf arte übersetzen (und überarbeiten) möchte.

Ich glaube, ich kam eigentlich nur auf die Idee, dieses Buch zu lesen, weil ich den Film damals im Kino gesehen hatte...aber wie schon so oft, nachdem ich das Buch gelesen hatte, musste ich feststellen, das das Buch eigentlich ja noch viel besser ist als der Film.

Ähnlich wie im Film dreht sich das Buch um ein Ehepaar, das allerdings im Wien der Jahrhundertwende, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebt. Der Ehemann ist von Beruf Arzt und die Geschichte startet auf einem Ball, den die beiden besuchen -- also ganz ähnlich wie im Film. Wieder zu Hause zurück, erzählt die Frau ihrem Gatten von einem Traum und von einem Zwischenfall während des letzten gemeinsamen Urlaubs. Im Hotel ihres Urlaubsort gab es einen Fremden, zu dem sich die Frau stark hingezogen fühlte...und -- so sagt sie -- er hätte nur ein einziges Wort sagen müssen und sie wäre mit ihm gegangen und hätte ihren Mann verlassen ohne Rücksicht auf irgendwelche Konsequenzen. Aber sie tat es (natürlich) nicht.
Der Arzt ist wie vor den Kopf gestoßen und kann diese Enthüllung von Seiten seiner Frau gar nicht fassen. Da wird er in das Haus eines Sterbenden gerufen, aber er kommt zu spät, sein Patient ist bereits verstorben. Als er wieder gehen will, eröffnet ihm die Tochter des Verstorbenen (mit Tränen der Trauer in den Augen und ihrem Verlobten wartend im Nachbarzimmer...), dass sie ihn liebt. Noch eine Enthüllung, die ihn sehr bewegt. Er wandert durch die nächtlichen Straßen Wiens und möchte noch nicht nach Hause gehen, immer noch in Gedanken auf irgendeine Art von "Rache" sinnend, wie er seiner Frau den "imaginären" Fehltritt heimzahlen könnte.

Er folgt einer Prostituierten in ihre Wohnung, aber bevor sie "zur Sache" kommen können, ist er schon wieder aufgebrochen. In einer Bar trifft er einen lange verscholenen alten Freund, der seinen Lebensunterhalt jetzt mit Klavierspielen verdient. Der erzählt ihm, dass er an einem geheimen Ort eingeladen sei, um dort Klavier zu spielen, und dass die Gesellschaft dort irgendwelche seltsamen Praktiken und Rituale vollführte. Der Arzt überredet seinen Freund, ihn in die Gesellschaft hineinzuschmuggeln. Allerdings benötigt er dazu eine Maske, um seine Identität zu verbergen. Also macht er sich auf den Weg (mitten in der Nacht), um in einem Geschäft eine Maske zu leihen (und wieder entspinnt sich eine obskure Geschichte um einen Geschäftsmann, der seine Tochter als Prostituierte verkauft..).
Letztendlich gelingt es dem Arzt mit Hilfe der Maske Zugang zur geheimen Gesellschaft zu erlangen, doch eine seltsam schöne (und überaus nackte) Frau erkennt ihn als Außenstehenden, der an diesem Ort nichts zu suchen hat. Sie warnt ihn, aber er läßt sich nicht einschüchtern. Als auch andere Mitglieder misstrauisch werden und er die Frage nach dem Passwort nicht zufriedenstellend beantworten kann, soll er "bestraft" werden. Doch die seltsame Schöne steht für ihn ein, die für ihn bestimmte Strafe auf sich zu nehmen.
Am nächsten Tag erfährt er von einem obskuren Mord an einer Adligen in einem Hotel letzte Nacht und er beschließt, auf eigene Faust herauszufinden, ob die beiden Fälle -- der Mord und die Bestrafung -- miteinander zusammenhängen.

..Ok, ich werde das Ende nicht verraten. Aber wer "Eyes Wide Shut" gesehen hat, der kann sich denken, wie das Buch ausgeht. Aber ich kann das Buch nur wärmstens empfehlen, insbesondere glaube ich, wem der Film gefällt, der wird das Buch erst recht lieben! Schnitzler ist ein Meister des Unbewußten und der Andeutung. So überlässt er es gerne dem Leser, sich selbst ein Bild von den geschilderten Umständen zu machen....und Kubrick verstand diese meisterhaft in Szene zu setzen. Wie bei jedem Film kann man auch hier behaupten, der Film sei nur eine ganz bestimmte Lesart des Regisseurs und nicht jeder ist vielleicht mit dessen Interpretation einverstanden. Kubrick's Umsetzung aber ist brilliant.....nur, ich kann Tom Cruise nun mal nicht leiden (der einzige Film, in dem ich ihn gut fand, war Magnolia...aber auch in diesem Film wurde er von Philip Seymour Hoffman an die Wand gespielt).

Fazit: Lest das Buch! Es eröffnet über Kubricks Film hinaus neue Möglichkeiten, wie eure Fantasie mehr Licht in diese seltsame und obskure Geschichte bringen könnte....Eine absolute Empfehlung. Dazu ist es auch nicht allzu dick, so dass man es bequem auf einer längeren Zugfahrt (oder an einem dieser langen Novemberabende) an einem Stück lesen kann...

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Montag, 5. November 2007

Schön wie ein Traum - Michael Ondaatje 'Der englische Patient'

Ich glaube dies. Wenn wir denen begegnen, in die wir uns verlieben, hat unser Geist etwas von einem Historiker, ein wenig von einem Pedanten, der sich ein Zusammentreffen vorstellt oder sich an eines erinnert, bei dem der andere arglos seines Weges gegangen war ... Aber alle Teile des Körpers müssen für den anderen bereit sein, alle Atome müssen in eine Richtung drängen, damit Begehren entsteht. Ich habe jahrelang in der Wüste gelebt, und nun glaube ich an dergleichen.


Es stand schon lange im Regal, und endlich habe ich mich entschlossen es herauszuholen. Wir alle haben den Film gesehen, 9 Oscars (12 Nominierungen), und fast jeder war von der Wucht der Bilder und der wunderbaren Geschichte beeindruckt. Schwierige Situation, erst den Film gesehen zu haben und danach das Buch zu lesen. Jede Figur hat bereits ihr Gesicht, die Szenerie entsteht nicht beim Lesen, sondern wird wiedererkannt. Jeder Handlungsstrang wird mit den Bildern des Films automatisch synchronisiert. Trotzdem war dieses Buch wunderschön -- auch wenn sich die Handlung nicht geradelinig, sondern vielmehr in Kreisen und Spiralen um sich selbst entwickelt und das Lesen damit nicht einfacher macht.

Aber erst einmal kurz zur (eigentlich allbekannten) Handlung: Michael Ondaatje versetzt uns in die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Vier Personen treffen sich in einer zerbombten toskanischen Villa, in der zuvor ein alliiertes Lazarett einquartiert war. Nach dem Abzug des Lazaretts bleibt die junge kanadische Krankenschwester Hannah mit einem nicht transportfähigen englischen Patienten, der bei einem Flugzeugabsturz in der Wüste Afrikas schwerste Verbrennungen erlitten hat, zurück. Nicht zufällig trifft auch dort David Caravaggio ein, ein alter Freund von Hannas Vater, dem als Spion der Alliierten von den Deutschen beide Daumen abgetrennt worden sind. Dazu gesellt sich später noch der indische Pionier Kirpal Singh -- genannt Kip -- der im Auftrag der britischen Armee Bomben entschärft.

Alle vier tragen sie sichtbare Spuren des Krieges mit sich und versuchen mit ihrer Vergangenheit zurecht zu kommen. Caravaggio glaubt die wahre Identität des englischen Patienten zu kennen und ihm diese unter Morphiumgaben zu entlocken. Er ist ein ungarischer Graf (Laszlo de Almásy -- den es tatsächlich gab), der für die Deutschen spionierte. Aber vielmehr kommt dabei die verzweifelt tragische Liebesgeschichte zwischen dem englischen Patienten und Catherine, der Frau eines Forscher-Kollegen zu Tage, die sich in den Jahren kurz vor dem Krieg in Ägypten und der lybischen Wüste zugetragen hatte.

Kip und Hannah verlieben sich ebenfalls ineinander. Aber der Pionier, der jeden Tag erneut sein Leben beim Entschärfen der unzähligen, vom Krieg übrig gebliebenen Mienen und Bomben aufs Spiel setzt, verzweifelt, als er die Nachricht vom amerikanischen Atombombenabwurf auf seinem Heimatkontinent Asien erfährt.

Ondaatje erzählt die Geschichte in einzelnen, oft unverbundenen Episoden und Rückblenden. In einem Interview zu seinem Schreibstil befragt, bekannte er, dass er einfach darauf los schreiben würde, ohne sich vorher ein vollständiges Konzept für einen Roman zurechtzulegen. Im Laufe des Schreibens gewönnen seine Figuren dann an Farbe und Charakter, so dass sie eine Art Eigenleben entwickeln. Zum Glück für den Lesen sind diese oftmals kurzen Fragmente aber nicht vollkommen zusammenhangslos. Man sollte aber nicht versuchen, das Buch in kurze Happen für das Lesen vor dem Zubettgehen zu zerteilen, da man sonst tatsächlichh Gefahr läuft, den Faden zu verlieren.
Ondaatje wechselt oft die Erzählperspektive, die Zeiten und die handelnden Personen, aber der Reichhaltigkeit der Schilderung ihres Gefühlslebens tut dies keinen Abbruch.

Und natürlich ist 'Der englische Patient' wieder ein Buch, das vom Reichtum bereits erzählter Bücher lebt. Die ganze Handlung ist auf Motiven aus Herodots 'Historien' aufgebaut und entwickelt sich um diese herum. Kiplings 'Kim' wird ebenso zitiert wie Stendhals 'Kartause von Parma' oder John Miltons 'Das verlorene Paradies'. Zudem werden wir Zeugen der Vorgehensweise beim Entsch"arfen von Bomben und Blindg"angern, der Erforschung der lybischen Wüste, das Leben englischer Exilanten im ägyptischen Kairo der 30er Jahre und der Musik von Django Reinhardt. Wir lernen sogar etwas über einen 'Semaphor'. Wirklich, das allererste mal, dass ich diesen Begriff in einem Roman gefunden habe. Bisher dachte ich, dass damit Wissenschaftshistoriker und Informatiker etwas anfangen könnten ;-)

Fazit: Ein wirklich unglaublich schöner Roman, sehr poetisch, nicht allzu einfach zu lesen, aber allemal der Mühe Wert. Auch für alle, die bereits den Film gesehen haben, eine absolute Empfehlung! Nehmt euch einen dieser trüben dunklen Novembertage und macht es euch mit einer guten Tasse Tee und diesem Roman auf der Couch bequem. Ihr werdet es nicht bereuen....

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Mittwoch, 31. Oktober 2007

Gerichtsthriller im alten Rom - Robert Harris 'IMPERIUM'

"Einen Idioten erkennt man sofort. Es ist der Mann, der immer genau weiß, wie eine Wahl ausgeht. Aber eine Wahl ist ein lebendiges Wesen -- man könnte fast sagen, sie ist das vitalste Lebewesen überhaupt: mit Abertausenden von Gehirnen, Gliedmaßen und Augen, mit Abertausenden von Gedanken und Sehnsüchten; es windet und wendet sich und schlägt unvorhersehbare Richtungen ein, und das manchmal nur spaßeshalber, um den Schlaubergern zu zeigen, wie falsch sie liegen...."


Zwar beziehen sich diese Zeilen aus Robert Harris' Roman 'Imperium' auf die Konsulatswahlen des Jahres 63. v. Chr., aber ich musste unfreiwillig sofort an die letzten Bundestagswahlen (im Jahr 2005) und den etwas "uneinsichtigen" Ex-Bundeskanzler denken....
Aber es geht heute um Cicero. Marcus Tullius Cicero - ein Homo Novus - der sich anschickt, das höchste Amt der römischen Republik zu erreichen, das Konsulat. Cicero war seiner Abstammung nach ein einfacher Ritter (Eques), zwar eigentlich der zweithöchste Stand in der römischen Republik, aber eben kein 'richtiger' Aristokrat von altem Adel. Alles, was er erreicht hat, erreichte er aus eigener Kraft und Antrieb -- eben ein typischer Homo Novus (und als solcher auch Vorbild für den späteren idealtypischen Renaissance-Menschen). Cicero - der Name leitet sich wahrscheinlich vom lateinischen 'cicer' ( = Kichererbse) her -- ist vielen von uns aus dem Lateinunterricht bekannt. Auch ich habe weite Passagen der Rede gegen Verres, der Verschwörung Catilinas (Coniuratio Catilinae) oder aus seiner Redekunst (De Oratore) lesen und übersetzen müssen.

Aber zurück zu Robert Harris Roman. Die Geschichte wird erzählt aus der Perspektive von Tiro, Ciceros Privatsekrätar, der am Ende seines fast 100 Jahre zählenden Lebens eine Biographie Ciceros schreibt (die zwar historisch von Plutarch erwähnt wurde, aber bei den Wirren während des Unterganges des römischen Reiches wie viele andere Schriften auch verloren ging). Wir verfolgen Ciceros politische Karriere in den Jahren 70 v. Chr - 63. v. Chr. Da ihm zum Eintritt in den römischen Senat das notwendige Geld fehlte (Voraussetzung dazu waren wohl eine Million Sesterzen Privatvermögen), heiratet Cicero die vermögende Patriziertochter Terentia. Cicero ist Anwalt, ein Beruf in dem ihm sein Rednertalent sehr von Vorteil ist. Seine Klienten verteidigt er -- ohne tatsächliche Schuld oder Unschuld abzuwägen -- stets mit größtem Eifer - und Erfolg. Eine moralische Eigenschaft, die ihm vom großen Historiker Theodor Mommsen (einem Cäsar-Bewunderer erster Güte) sehr übel genommen wurde.

Cicero startet seine Ämterlaufbahn (Cursus Honorum) als Quästor in Sizilien, wo er bedingt durch seine Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit bei den Einheimischen einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. So kommt es auch, dass ihn eines morgens in Rom der Sizilianer Sthenius aufsucht und von ihm Beistand als Anklagevertreter gegen den korrupten und verbrecherischen Statthalter Siziliens Gaius Verres zu erbitten. Zuerst wenig begeistert erkennt Cicero aufgrund der erdrückenden Beweislast gegen Verres schnell, dass ein Sieg in diesem Prozess seiner politischen Laufbahn äußerst vorteilhaft sein könnte. Also erhebt er Anklage und erhält 110 Tage Zeit, um in Sizilien alle Beweise gegen Verres zu sichern und um den Prozess vorzubereiten. Sein Gegner vor Gericht, der Vertreter der Verteidigung von Gaius Verres ist niemand anderes als der Patrizier Quintus Hortensius Hortalus, der als größter Redner Roms gilt. Es wird ihm nicht gerade leicht gemacht, da die aristokratischen Senatoren Verres als einen der Ihren betrachten. Aber sein exzellentes dramaturgisches Geschick und die erdrückende Beweislast gegen Verres verhelfen Cicero zu einem fulminanten Sieg. Seiner Kandidatur als Ädil und anschließend als Prätor scheint nichts mehr im Wege zu stehen.

Wären da nicht Pompeius und Crassus. Gnaeus Pompeius Magnus, als siegreicher Feldherr aus den spanischen Provinzen zurückgekehrt feiert seinen Triumphzug durch Rom, während sein Rivale, der unglaublich reiche Marcus Licinius Crassus, für seinen Sieg im Sklavenaufstand des Spartacus (die Via Appia mit 6000 ans Kreuz geschlagenen Sklaven zu 'verschönern' war übrigens Crassus' Idee), die zweite Geige spielen muss. Cicero gerät in das politische Intrigenspiel der beiden Rivalen, schlägt sich notgedrungen auf Pompeius Seite und wird von beiden zu ihren Zwecken mißbraucht. Als Cicero schließlich seine Kandidatur als Konsul beschließt, der Krönung der politischen Ämterlaufbahn in Rom, scheint ein Sieg aussichtslos, da er dahinterkommt, dass das Amt durch zwei von Crassus gekauften Marionetten besetzt werden soll. Crassus unermesslicher Reichtum sichert ihm die Stimmen der Konsulen, allen zehn Volkstribunen, mehreren Prätoren, Ädilen und Senatoren. Zudem schickt er sich an, die Stimmen der wahlberechtigten römischen Bürger zu kaufen. Eine fast aussichtslose Situation für Cicero....

Da sich Robert Harris Roman weitgehend an die historischen Fakten hält, weiss man aber auch jetzt schon, dass Cicero in 'seinem Jahr' (suo anno, d.h. zum frühesten dafür möglichen Zeitpunkt mit 42 Jahren) 63 v. Chr. siegreich aus den Konsulatswahlen hervorgehen wird. Aber der Weg dorthin wird äußerst spannend und abwechslungsreich geschildert. Robert Harris lässt in seinem Roman das alte Rom in den letzten Jahren der römischen Republik wieder auferstehen. Wir lernen Persönlichkeiten wie Cicero, Verres, Catilina, Cäsar, Pompeius und Crassus aus der Nähe kennen. Dabei kommt etwa Gaius Iulius Cäsar, der von Mommsen noch als strahlender Held verklärt wird, ziemlich schlecht weg. Vom Ehrgeiz zerfressen, immer in finanziellen Schwierigkeiten, hochintelligent, 'notgeil' und stets auf seinen Vorteil bedacht - insgesamt kein allzu liebenswerter Zeitgenosse. Harris ist selbst studierter Historiker und hat den Roman gewissenhaft recherchiert -- auch wenn mir zwei kleinere Fehler bereits aufgefallen sind. So liegen in einer Anfangsszene 'Bücher' aufgeschlagen auf einem Schreibtisch (Bücher wie wir sie heute kennen, also sogenannte römische Codices kommen erst ab dem ersten nachchristlichen Jahrhundert mit Ausbreitung des Christentums in Mode. Zu Ciceros Zeiten müsste es sich vielmehr um Schriftrollen handeln, die dann eben aufgerollt werden.) Zudem spricht der Erzähler Tiro vom Monat "Juli" in einer Zeit, als dieser noch als fünfter Monat des römischen Jahres den Namen "Quintilis" besaß und erst im Jahre 44 v. Chr. zu Ehren Cäsars in "Juli" umbenannt wurde. Aber das sind nur Kleinigkeiten am Rande, die dem Lesegenuss absolut keinen Abbruch tun.

Das Buch selbst ist in einem einfachen, aber fesselnden Stil geschrieben (zumindest in der deutschen Übersetzung) und entwickelt die historische Handlung im Stile eines packenden Gerichtsthrillers á la John Grisham. Schade nur, dass das Buch mit Ciceros Erreichen des Konsulats schon endet. Ein Jahr danach nämlich gelingt es Cicero, den Umsturzversuch seines Erzfeindes Lucius Sergius Catilina -- die Catilinarische Verschwörung -- aufzudecken und zu vereiteln ("quo usque tandem Catilina, abutere patienta nostra...."). Später wird Cicero aufgrund seiner Abrechnung mit den Catilinariern sogar ins Exil geschickt, von Cäsar aber wieder zurückgeholt und bleibt -- auch während Cäsars Diktatur -- ein brennender Verfechter der Ideale der römischen Republik. An Cäsars Ermordung soll er nicht beteiligt gewesen sein. Doch macht er sich die Mitglieder des zweiten Triumvirat (Marcus Antonius, Octavian und Gaius Lepidus) zum Feind, allen voran Marcus Antonius, den er in seinen als "Philippika" bekannt gewordenen Reden geschmäht und verunglimpft hat. In den folgenden Proskriptionen steht Ciceros Name ganz oben auf den Todeslisten und schließlich fällt er diesen im Jahre 43 v. Chr. zum Opfer.

Als historischer Roman aus der Zeit der römischen Antike konkurriert Harris mit großen Autoren wie Ranke-Graves ('Ich Clausius, Kaiser und Gott'...absolut fabelhaft, unbedingt lesen(!), Rezension folgt), Bulwer-Lytton ('Die letzten Tage von Pompeji'), Wallace ('Ben Hur') oder aber auch Thornton Wilder. Letzterer hat in seinem Briefroman 'Die Iden des Märzes' die letzten Monate vor dem Tyrannenmord an Cäsar in eindrucksvoller Weise mit einem psychologischen Meisterwerk zum Leben erweckt (unbedingt lesenswert!). An Tiefe können es Harris' Figuren leider nicht mit denen von Ranke Graves oder Wilder aufnehmen, deren Zerissenheit und Vielfältigkeit beispielhaft geschildert werden. Dennoch wirken Cicero, Cäsar oder der 'schleimige' Crassus recht echt. Schade, dass uns -- wenn ich an meinen Lateinunterricht zurückdenke -- unsere Lehrer nicht die mitunter schmerzhaften Übersetzungsstunden mit derart spannenden Geschichten versüßt haben...

Fazit: Ein packender Gerichtsthriller in historischem Gewand! Manchmal wünschte man sich etwas mehr Tiefgang und vor allen Dingen nicht ein so rasches Ende. Aber Robert Harris zweiter Ausflug in die römische Geschichte (nach dem Erfolg von 'Pompeji') verspricht ebenfalls kurzweiligen Lesegenuss -- und wieder einmal Lust auf mehr. Vielleicht lässt uns Robert Harris ja nicht im Stich und wir dürfen uns auf eine Fortsetzung des spannenden politischen Lebens Ciceros freuen. Ich würde es mir wünschen.
Links:


  • Die römische Antike bei booklooker (antiquarische Bücher, u.a. mit E. Bulwer-Lytton, L. Wallace, Horaz, Sallust, Catull, u.v.m.)

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Ein bibliophiler Höllentrip - Matthew Pearls 'Dante Club'

Die Hölle -- so sagt eine Redensart -- das sind wir selbst. Vielmehr noch finden wir sie oft in uns selbst oder wir bereiten sie uns und anderen. Unsere Vorstellung von der Hölle ist geprägt von Dante Alighieris berühmter Schilderung aus dem ersten Teil seiner Göttlichen Kommödie, der ' Divina Commedia', diesem epischen Meisterwerk der italienischen Renaissance, das auch im Zentrum des Romans 'Der Dante Club' von Matthew Pearl steht.

Boston, 1865, der US-amerikanische Bürgerkrieg ist seit einem knappen Jahr zu Ende. Präsident Lincoln wurde von dem verwirrten Schauspieler John Wilkes Booth mit den Worten "Tod den Tyrannen" im Theater hinterrücks ermordet. Die immer noch junge USA ist gerade dabei, ihre kulturelle Identität zu finden. Die Kulturschaffenden, das sind in erster Linie die Dichter und Literaten. Allen voran, Henry Wadsworth Longfellow, ehemaliger Harvard-Literaturprofessor, der es sich zur Aufgabe erkoren hat, das größte literarische Werk der Menschheit -- Dante Alighieris 'Göttliche Kommödie' -- möglichst werkgetreu ins Englische zu übersetzen und damit die erste amerikanische Version der 'Commedia' zu schaffen. Bei dieser übersetzerischen Großtat unterstützen ihn die beiden Professoren und Dichter James Russel Lowell und Oliver Wendel Holmes, ihr Verleger J.T. Fields und der Historiker George Washington Greene. Um ihr gemeinsames Unternehmen in die Tat umzusetzen, gründeten die illustren Herren den Dante Club, der sich zu wöchentlichen Sitzungen trifft, bei denen die Übersetzungsvorschläge Longfellows kritisch diskutiert werden. So weit bewegen wir uns auf dem Boden der geschichtlichen Tatsachen.

Eine abscheuliche Mordserie an bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erschüttert Boston. Insbesondere die Grausamkeit der Todesumstände und die damit verbundenen Leiden der einzelnen Opfer geben der zur damaligen Zeit recht unorganisierten Polizei Rätsel auf. Zudem kämpft die Polizei ebenso um die Akzeptanz der ersten farbigen Polizeibeamten -- sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Bevölkerung. Doch den Professoren des Dante Clubs wird schnell klar, dass sich der Täter anscheinend Dantes Werk als Handlungsanleitung erkoren hat. Doch -- und das macht die Sache rätselhaft -- in den USA existieren bislang noch so gut wie keine (damals nur britischen) Übersetzungen von Dantes Schriften. Es muss sich also aller Wahrscheinlichkeit nach entweder um einen Sprachexperten oder eben um einen Muttersprachler handeln, der nicht nur der alten italienischen Sprache Dantes mächtig ist, sondern zudem auch noch ein Experte des Werkes selbst ist -- so wie gerade auch die Mitglieder des Dante Clubs. Die Professoren sind nun erst einmal alles andere als die geborenen Detektive -- und das vermag Matthew Pearl sehr gut darzustellen. Alle kämpfen sie mit ihren privaten Problemen: Longfellow mit dem tragischen Verlust eines geliebten Kindes (und seiner Frau), Professor Lowell mit dem Harvard-Aufsichtsgremium, das seine Dante-Vorlesungen als papistische Propaganda verunglimpft und verbieten möchte, und Professor Holmes mit großen Selbstzweifeln und einem gebrochenem Verhältnis zu seinem als Kriegsheld heimgekehrten Sohn, der zu allem Ärger auch noch Jura studiert.

"Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich in einen finstern Wald verschlagen, Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt" -- so heisst es am Anfang von Dantes Kommödie. In dieser Situation sehen sich die Protagonisten des Buches ebenso mit dem eigenen Fehlen konfrontiert. Die Morde sind tatsächlich schrecklich und den Visionen Dantes nachempfunden. Dante denkt sich in seinem 'Inferno' für jede Sünde die passende Strafe, den sogenannten 'Contrapasso' (Wiedervergeltung) aus. Dieser Contrapasso besteht darin, dass die Tat des Sünders in gewisser Weise gegen ihn selbst umgekehrt wird. Die Simonisten etwa -- also Priester, die sich haben bestechen lassen oder die Kirchengelder für private Zwecke veruntreut haben -- trifft der Dichter kopfüber im Boden eingegraben und wie lebendige Kerzen an den Füßen brennend. Ein Schicksal, das auch eines der Opfer im Buch teilen wird.

Wir werden Zeuge der professoralen Schnitzeljagd nach dem dantesquen Mörder, aber der Mörder scheint unserem Dichterkreis immer einen Schritt voraus zu sein. Nicolas Rey, Bostons erster farbiger Polizist, ist ebenfalls hinter dem Täter her und gerät schließlich auf die Spur unserer Professoren. Er wird zum Verbündeten, aber die Dante-Jünger geraten von einer Sackgasse in die nächste. Matthew Pearl schildert das Leben in der winterlichen Metropole des 19. Jahrhunderts in sehr eindringlicher Weise. Die aus dem Bürgerkrieg heimgekehrten Veteranen können sich ebenso wenig leicht wieder in ihr bisheriges Leben integrieren, wie dies den Vietnam-Heimkehrern oder den Veteranen des Irak-Krieges heute gelingen mag. Die Schrecken des Krieges, sie waren damals wie heute im Stande, einem Menschen für immer um den Verstand zu bringen. Und ebenso gibt es und gab es in Amerika Rassismus. Die eingewanderten Iren hetzen gegen die Italiener und die Farbigen aus dem Süden, weil sie ihnen die wenigen Jobs wegnehmen. Auch waren nicht alle Nordstaatler tatsächlich auch Gegner der Sklaverei. Ebenso gibt es Spannungen zwischen den (meist irischen) Katholiken und den vorherrschenden protestantischen Unitaristen. All diese Gegensätze vermag der ebenfalls in Harvard studierte Autor treffend und lebhaft in Szene zu setzen.

Ich habe das Buch in der englischen Originalausgabe gelesen und kann daher erst einmal nichts zur sprachlichen Qualität der deutschen Übersetzung sagen. Im Original wechselt Pearl zwischen dem damaligen Slang der einfachen Leute und Kriminellen und der professoralen Hochsprache. Etwas gewöhnungsbedürftig und wirklich gar nicht so einfach zu verstehen. Im Gegensatz zu den letzten beiden englischsprachigen Büchern, die ich gelesen und hier besprochen habe ('A Short History of Everything' und 'Jonathan Strange & Mr. Norrel') ist der Dante Club sprachlich anspruchsvoller. Die Auflösung der Mordfälle werde ich an dieser Stelle nicht liefern, um dem zukünftigen Lesern die Spannung nicht zu verderben. Im Gegensatz zu den akuellen Bestseller-Thrillern von Dan Brown oder Michael Crichton herrscht hier nicht atemlose, hektische Spannung und eine beständige Abfolge von Cliffhangern, sondern es wird die Psychologie der Beteiligten ausgiebig ausgelotet. Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts erschien diese Zeit der Industrialisierung und der frühen Moderne als ebenso hektisch und atemlos wie uns die heutige. Aber -- und das ist gut so -- Matthew Pearl nimmt sich Zeit für seine Figuren, die man beim Lesen schnell lieb gewinnt und die auch für manche Überraschung gut sind.

Andererseits macht das Buch Appetit auf deutlich mehr Dante. Sei es, diesen einmal wieder zu lesen bzw. auch ihn das erste mal richtig kennen zu lernen. Als Jugendlicher hat mich vor allem der erste Teil von Dantes Kommödie, das Inferno, begeistert. Ein architektonischer Entwurf einer jenseitigen Welt, in der man seinen Sünden entspechend bestraft wird -- und das für alle Ewigkeit. Dante und sein Führer Vergil durchmessen sämtliche Höllenkreise (die Hölle ist angelegt im Stil eines Trichters aus neun konzentrischen Kreisen, je tiefer man hineingerät, desto härtere Strafen erwarten die Sünder) und Dante setzt seinen Weg fort, (im 2. und dritten Teil) über den Läuterungsberg (Purgatorio) schließlich hinauf in himmlische Sphären (Paradiso). Dabei bekommt der Leser viele Zeitgenossen Dantes zu Gesicht, denen er einen wohlbedachten Platz in seiner Nachweltarchitektur hat zukommen lassen. Da der Leser von heute aber weder mit den Lebensumständen des 14. Jahrhunderts noch mit Dantes Zeitgenossen vertraut sein wird, ist jede Ausgabe der Kommödie üblicherweise mit tonnenschweren Fußnoten und Erklärungen versehen -- was dem Lesegenuss aber keinen Abbruch tut. Viele Zeitgenossen Dantes sahen in der Kommödie kein fiktives Werk, sondern waren von der Realität von Dantes Reise durchaus überzeugt. Aber Dantes Reise ist auch eine Reise in die Abgründe des eigenen Ichs. Und das ist es, was uns dieses Werk auch heute noch so nahebringt.
Als Jugendlicher habe ich übrigens nicht mit Dantes Original angefangen, sondern bin über eine Science Fiction Geschichte überhaupt erst zum Thema gekommen. Larry Nivens und Jerry Pournelles 'Das zweite Inferno' (leider nicht mehr im Handel erhältlich...), eine an die Realität der 70er Jahre angepasste Version von Dantes Inferno. Sicher mehr oder weniger Trivialliteratur, aber doch ein erster Einblick in die Welt Dantes garniert mit Aktualisierungen für unsere heutige Zeit.

(Nachtrag: ebenfalls als von Dante inspiriertes Werk gibt es hier im biblionomicon noch eine Rezension zu Andrew Davidsons 'Gargoyle')

Fazit: Der Dante Club ist wieder mal ein Professorenroman par excelence, diesmal in Gestalt eines Thrillers, der sich nicht mythologischen oder historischen Motiven annimmt, sondern das Werk Dantes im Spiegel des 19. Jahrhunderts Revue passieren lässt und uns den großen amerikanischen Dichter Longfellow und seine Dichterfreunde näherbringt. Die Handlung entwickelt sich überaus spannend und man wird mit zahlreichen Informationen aus der Zeit und dem Werk Dantes sowie mit dem Boston des 19 Jahrhunderts auf unterhaltsame Weise vertraut gemacht. Das richtige Buch für lange dunkle Winterabende.....und natürlich zu lesen im Original!

Links:

  1. Dantes 'Göttliche Kommödie' in deutscher Übersetzung, vollständiger Text bei Projekt Gutenberg (Übersetzung: Karl Steckfuß)

  2. Die Werke von Henry Wadsworth Longfellow, im Original bei Project Gutenberg

  3. Henry Wadsworth Longfellows Übersetzung von Dantes Göttlicher Kommödie bei Project Gutenberg

  4. Matthew Pearls Homepage

  5. Book Reviews zu 'The Dante Club' bei reviewsofbooks.com

  6. Buchrezension zum Dante Club aus der New York Times



sonstige Links:

Dienstag, 23. Oktober 2007

So schön wie nie zuvor - Zur Wiedereröffnung der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar

Morgen, am 24. Oktober 2007, dem Geburtstag ihrer Namenspatronin (dem 268. Geburtstag...), wird die Weimarer Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek feierlich wiedereröffnet. Der weltberühmte Rokoko-Saal erstrahlt in einem Glanz wieder, wie wohl nie zuvor seit seinem gut 200 jährigen Bestehen. Musste die Bibliothek erst niederbrennen, bevor sie in neuem Glanz erstrahlen kann....so fragt die ZEIT in einem Artikel vom 18.10.2007?
Drei Jahre sind vergangen, seit dem verherenden Brand, bei dem die Bibliothek und 60.000 ihrer Bücher schwer beschädigt wurden. 16.000 Bücher konnten bislang wieder hergestellt werden, aber um alle beschädigten Bücher wieder restaurieren bzw. wiederbeschaffen zu können, veranschlagen die Verantwortlichen bis zu 30 Jahre. Alleine 12,8 Millionen Euro hat die Renovierung und Wiederherstellung des Bibliothekgebäudes verschlungen, noch einmal 67 Millionen Euro sind für die Bücher von Nöten. Zwar gingen bislang über 17 Millionen Euro an Spenden ein, aber die Geldquelle drohen langsam zu versiegen.

Morgen ist es also soweit, und das Bibliotheksgebäude wird wiedereröffnet. Leider bin ich derzeit in Potsdam und kann der Veranstaltung nicht beiwohnen. Den neuen Rokoko-Saal hätte ich schon gerne mal in neuem Glanz bewundert. Aber das kann ich ja noch nachholen. Für alle die, die auch nicht dabei sein können, gibt es hier auf den Web-Seiten der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek einen virtuellen 3D-Rundgang, der die Bibliothek in all ihrer Schönheit vor dem Brand....als auch nach dem verheerenden Brand zeigt. Die Feierlichkeiten rund um die Wiedereröffnung stellt damit den Höhepunkt des Anna-Amalia-Jahres 2007, dem 200. Todestages der Herzogin, dar. Den Auftakt der Festwochen macht die Ausstellung "Candida Höfer: Weimarer Räume". Candida Höfer hatte 2004 vor dem Feuer den Rokokosaal fotografiert, der als einer der schönsten Bibliotheksräume in Mitteleuropa gilt.


Wenn man denn schon mal in Weimar ist und sich für die Bibliothek interressiert, sollte man sich auf alle Fälle auch den Bibliothekserweiterungsbau am Burgplatz 4 einmal ansehen. Der Bücherkubus mit seinen 100.000 Bänden der Freihandbibliothek bildet einen treffenden modernen Kontrast zum klassischen Rokoko-Saal.








siehe auch:

  1. "Von der Vergänglichkeit des gedruckten Wortes", in Biblionomicon vom 03.09.2007.

  2. Ch. Simes: "Musste sie erst brennen...?", die ZEIT, 18.10.2007

  3. E. von Tadden: Klassische Schönheit, Die ZEIT, 18.10.2007.

  4. M. Knoche: Eine Forschungsbibliothek des 21. Jahrhunderts - Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, Bibliothek 27. 2003. Nr. 1/2.


Donnerstag, 11. Oktober 2007

Lost in Time..... - Audrey Niffenegger: Die Frau des Zeitreisenden

Science Fiction? Naja....eigentlich kommt diese Geschichte erst einmal überhaupt nicht als Science Fiction Geschichte daher. Sieht man einmal davon ab, dass der Protagonist tatsächlich ein Zeitreisender ist....


Henry DeTramble reist durch die Zeit, und zwar unfreiwillig. Ein seltsamer Chromosomendefekt ist dafür verantwortlich, dass er Situationen, in denen er sich nicht wohl fühlt, nervös oder aufgeregt ist, flieht, indem er nicht den Ort, sondern die Zeit wechselt. Ok, Zeitreisen gibt es in der Science Fiction Literatur schon lange. Allen voran natürlich H.G. Wells' 'Die Zeitmaschine', die wir alle zumindest aus den entsprechenden Verfilmungen kennen. Aber hier, in der vorliegenden Geschichte ist das Zeitreisen nicht unbedingt das Hauptanliegen. Vielmehr ist es die Liebesgeschichte zwischen Henry und Clare, die dank des Kunstkniffes der Zeitreise in keinster Weise linear, sondern in wunderbaren Windungen und Kreisen vor unseren Augen mehr und mehr Gestalt annimmt.

Doch zuvor einige technische Details zu Henrys Zeitreisen: Das erste Mal geschieht es während eines schweren Verkehrsunfalls, bei dem Henrys Mutter ums Leben kommt. Der gerade einmal 5-jährige Henry entflieht der Situation und dem sicheren Tod, indem er sich wenige Minuten entfernt am Straßenrand wiederfindet. Aber das erfahren wir erst später im Roman. Vielmehr beginnt die Geschichte mit dem ersten Treffen von Henry und Clare, wobei Clare noch ein kleines Kind ist und Henry bereits ein fast 40-jähriger Mann. Henry und Clare treffen sich immer wieder in unterschiedlichsten Altersvarianten, bis sie sich irgendwann auch im 'realen' Leben, d.h. in Henrys und Clares gemeinsamer Zeitebene kennenlernen und ein Paar werden. Dieses Aufeinandertreffen von zwei Liebenden im ständigen Durcheinander der jeweiligen Lebenszeit und -umständen, das ist es, was diesen Roman so unterhaltsam macht.

Zeitreisen sind ja eigentlich physikalisch unmöglich (außer man akzeptiert eine der Theorien des sogenannten 'Multiversums', d.h. man geht davon aus, dass es potenziell unendlich viele Universen gibt, in denen man dann jeweils landen kann), da die Kausalität, d.h. die Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei einer Reise in die Vergangenheit (aber auch in die Zukunft) nur allzu leicht auf den Kopf gestellt werden kann (erschießen Sie einfach ihren Großvater, bevor dieser Ihre Großmutter kennengelernt hat....was passiert dann mit Ihnen? werden Sie überhaupt geboren....und wenn nicht, wie konnten Sie dann ihren Großvater töten??). Dieses Problem wird im vorliegenden Roman recht einfach umschifft, da der Protagonist bei seinen Zeitreisen strikt dem Kausalitätsprinzip unterliegt, d.h. was bereits passiert ist, kann er nicht verändern, so sehr er sich auch bemüht.

Wie geht nun dieses Zeitreisen von statten? Ganz einfach. Henry befällt leichtes Unwohlsein und pfffft.....löst er sich auf und zurück bleiben nur seine Kleider. Völlig nackt kommt er dann in einer anderen Zeit (die von wenigen Ausnahmen abgesehen innerhalb seiner eigenen Lebensspanne liegt) an und sieht sich daher mit vielerlei praktischen Problemem konfrontiert. Das hört sich nicht ganz einfach an, irgendwo zu irgendeiner Zeit (z.B. auch im tiefsten Winter) völlig nackt, unvermittelt aufzutauchen. Ein Umstand, der Henry schließlich auch zum Verhängnis wird.

Doch im Mittelpunkt der Geschichte stehen diese beiden ungewöhnlichen Liebenden, Henry und Clare. Und diese Geschichte ist wirklich wunderbar erzählt! Einige Ungereimtheiten, die mit dem Zeitreisen und kausalen Zusammenhängen zu tun haben, bleiben meiner Ansicht nach zwar ungelöst, was dem Roman aber keinen Abbruch tut, vorallem, da es sich stets nur um Kleinigkeiten handelt. Mein Fazit: Der Roman bietet eine wirklich erfrischende (wenn auch am Ende sehr traurige) Liebesgeschichte in ungewöhnlichen Gewand und regt ob der Thematik sehr zum Nachdenken an. Selbst wenn Zeitreisen (und daher Science Fiction) bislang nicht auf Ihrem Lesezettel standen, kann ich Audrey Niffeneggers Roman nur allerwärmstens empfehlen und verspreche viele Stunden kurzweiligen und immer wieder überraschenden Lesegenuss!

Links:

  1. Die Frau des Zeitreisenden in Literaturschock

  2. A. Reinhardt: Wie zwei Königskinder - bei abebooks

  3. Th. Harbach: Die Frau des Zeitreisenden - bei sfradio



Literaturlinks zum Thema:


Leider sind viele klassische Zeitreisegeschichten (zumindest die wirklich guten) nicht mehr im aktuellen Programm der Verlage erhältlich und man ist auf Antiquariate angewiesen, so z.B.:

  1. Oswald Levett: Verirrt in den Zeiten, Suhrkamp, 1986

  2. Robert Silverberg (Hrsg.): Die Mörder Mohammeds, Heyne, 1970.

  3. Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Die sechs Finger der Zeit, Ed. Rencontre, 1980.

Mittwoch, 3. Oktober 2007

Der Untergeher hat Geburtstag - Glenn Gould zum 75.

Zu Lebzeiten hatte ich ihn noch gar nicht gekannt. Zwar lernt man als Klavierschüler Bachs 'Wohltemperiertes Klavier' und einiges aus den 'Goldbergvariationen', aber -- ganz ehrlich als Glenn Gould am 4. Oktober vor genau 25 Jahren starb, war er mir noch kein Begriff. Ohnehin hätte ich ihn niemals live erleben können, nachdem der Ausnahmepianist und Publikumshasser sein letztes öffentliches Konzert 1964, also noch vor meiner Geburt, gab. Ich glaube, der Hype, in dem ich ihn und sein Werk auch kennen lernte, begann erst richtig kurz nach seinem Tod 1982. Aber dann traf es mich mit Wucht......
Ich glaube, ich sah ihn in einer Fernsehdokumentation spätnachts, irgendwo auf einem dritten Programm. Seine eigenwillige Spielhaltung auf dem viel zu kleinen Stuhl, das Mitsummen und dieses vollkommene Aufgehen im eigenen Spiel. Erst Stücke aus dem 'Wohltemperierten Klavier', eigentlich nicht allzu kompliziert...aber diese messerscharfe Präzision mit der er sie spielte...unglaublich. Einmal so spielen können....

Aber ich war nicht der einzige Klavier-Afficionado, der durch Goulds virtuoses Können desillusioniert wurde. Dafür -- das war mir klar -- war ich sowieso nicht begabt genug. Ganz anders die angehenden Pianisten in Thomas Bernhards 'Der Untergeher'. Der Untergeher, das ist der Name, den Bernhard Glenn Gould gibt, da er der Grund für den Untergang so mancher vielversprechenden Pianistenkarriere darstellt. Der Ich-Erzähler und sein Freund die Titelfigur Wertheimer, beide Meisterschüler bei Wladimir Horowitz in Salzburg, geben ihr Streben nach Virtuosität, ihre noch gar nicht angebrochene Karriere und schließlich sogar ihr Leben auf, nachdem sie Glenn Gould spielen hörten...

Am 25. September wäre Glenn Gould, Kanadas Kulturexport Nr. 1, 75 Jahre alt geworden. Er hat nicht nur die Fachwelt polarisiert. Enthusiastische Anhänger auf der einen Seite, strikte Verächter auf der anderen. Gould war ganz Exzentriker. Als junger Mann pflegte er sein James Dean Rebellen-Image, das auf eindrucksvolle Weise im Fotobildband von Jock Carroll 'Glenn Gould: Some portraits of the artist as a young man' dokumentiert ist. Auf der Suche nach dem perfekten Klang, der perfekten Interpretation gibt er 1964 bereits seine Konzertlaufbahn auf und konzentriert sich auf die Möglichkeiten, die ihm Studiotechnik und Plattenaufnahmen nur bieten können. Dabei gefallen seine Interpretationen nicht allen. Zu kalt, zu steril sagen viele meiner Bekannten. Dafür weder schwülstig noch effekthascherisch, sondern klar, präzise, perfekt, das sagen die anderen. Letztendlich kann ja jeder selbst entscheiden, in welches Lager er eintreten möchte.
Kanada feiert ihn jetzt mit einem Glenn-Gould-Jahr und sogar in Berlin gibt es eine Glenn-Gould-Filmwoche (vom 2.-8. Oktober) unter dem Titel 'Being Glenn Gould', bei der seine 1955 Goldbergvariationen (die auch eindrucksvoll im 'Schweigen der Lämmer' zitiert werden) von einem digitalen Konzertflügel live aufgeführt werden. Das hätte ihm sicher gefallen. Perfekt reproduziert, ohne dass er sich dabei dem argen Publikum stellen muss...


Links:

  1. Glenn Gould Foundation Homepage

  2. Glenn Gould Website (Sony) mit Klangbeispielen

  3. Glenn Gould Radio Broadcasts

  4. Artikel zu Glenn Gould aus der Encyclopedia of Music in Canada mit Videoclips und Musik

  5. Wer Bach spielt, sündigt nicht, Artikel von Wolfgang Goertz, die ZEIT 46/2006



Montag, 1. Oktober 2007

Barocker Bildungsthriller - Monaldi & Sorti: Imprimatur

Imprimatur - [lat.] es darf gedruckt werden (wörtlich: es werde gedruckt)....und zwar mit Erlaubnis der Kirche. Bücher, denen dieses Siegel päpstlicher Zustimmung versagt blieb, gelangten schon mal auf den Index (=Index Librorum Prohibitorum), der übrigens bis in das Jahr 1966 (nach dem 2. Vatikanischen Konzil) bestand, bis er von Papst Paul VI. eingestellt wurde. Ob das vorliegende Buch gedruckt werden darf oder nicht (also ob es das begehrte 'nihil obstat' erhält odr nicht), um diese Frage dreht sich auch die Rahmenhandlung in Monaldis & Sortis barockem Spektakel 'Imprimatur'.
Es geht darum, ob ein unveröffentliches Werk eines Autorenpärchens (eben eine Selbstreferenz auf die Autoren), das dem mit den Autoren befreundeten Bischof von Como zugespielt wurde, nach vielen Jahren (und nach dem mysteriösen Verschwinden der Autoren) doch noch in den Druck gehen soll, da die darin vorgelegten Fakten das anberaumte Heiligsprechungsverfahren des barocken Papstes Innozenz XI. -- sollten sie sich denn bewahrheiten -- entgegenstehen. In Form von Briefen gerichtet an die Kongregation für die Heiligsprechung schildert der Bischof von Como den Fall und die Geschichte des Buches. Das belastende Buch selbst sei entstanden aus er Recherche der Autoren, denen eine bislang verschollene Originalquelle -- eben das hier vorliegende Buch im Buch --- zu Grunde liegt.
Also mal wieder eine Referenz auf eine Referenz, die referenziert...Derartige Kunstgriffe von Autoren sind wir ja schon gewohnt. Umberto Ecos 'Name der Rose' kommt in ähnlicher Weise daher und weist zudem noch viele weitere Parallelen zum vorliegenden Roman auf.

Es dreht sich also um eine Geschichte aus dem 17. Jahrhundert. Wir schreiben das Jahr 1683. Die Türken stehen vor dem belagerten Wien, der Kaiser ist aus der Stadt geflohen, und die Christenheit sieht bange dem vermeintlichen Fall der Feste Europas entgegen. Wir befinden uns in Rom. In einer Herberge stirbt einer der Gäste und aus Angst vor der Pest wird diese samt ihrer Gäste unter Quarantäne gestellt. Den Kern der Geschichte bilden die 9 Tage und Nächte der Quarantäne und das Schicksal ihrer Bewohner. Abbé Melani -- Kastrat und Geheimagent im Auftrag des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. -- beginnt mit Hilfe des Hausburschen mit der Aufklärung des Todesfalls, der ungeahnte Kreise zieht. Wir steigen hinab in das Labyrinth der römischen Katakomben und Kanäle und geraten in ein Netz aus politischen und kirchlichen Intrigen, von denen das Schicksal Europas und der Welt abhängen.

Der unterhaltsam und abwechslungsreich geschriebene Roman birgt zahlreiche Parallelen zu klassischen und modernen Kriminalromanen. Das Gespann Abbé Melani und Hausbursche (der bis zum Ende des Romans eigentlich ohne Namen bleibt, obwohl er der Autor der dem Buch zugrunde liegenden Momoiren ist) ähnelt schon zu sehr William von Baskerville und Adson von Melk (Umberto Eco), Sherlock Holmes und Watson (Arthur Conan Doyle), oder Hercule Poirot und Hastings (Agatha Christie), aber es funktioniert. Die Einheit des Ortes in der klaustrophobischen Herberge ähnelt der Abgeschiedenheit des Klosters (Eco) oder der Enge des Zuges oder Kreuzfahrtschiffes (Agatha Christie). Die Einteilung in 9 Tage und Nächte lässt an Boccaccios 'Decamerone' denken, in dem sich die in der Rahmenhandlung agierenden Personen auf der Flucht vor der Pest in eine selbstauferlegte Klausur begeben (sic!). Selbst die beiden etwas kruden 'Heiligenfledderer' aus der Welt der römischen Katakomben mit ihrem Sprachkauderwelsch und Verbalhieroglyphen zitieren den unter babylonischer Sprachverwirrung leidenden Salvatore aus dem 'Namen der Rose'. Dazu gibt es noch jede Menge historischer Tatsachen und Persönlichkeiten (Ludwig XIV., Papst Innozenz XI., Foucuet, Colbert, Athanasius Kircher [dieser ist übrigens eine bemerkenswert schillernde Persönlichkeit als Wissenschaftler des 17. Jahrhunderts, den fast nur noch Newton und Leibnitz den Rang ablaufen können], uvm.), die in eine Art Verschwörungstheorie eingebunden werden (-> siehe Dan Brown, etc.). Da ich kein Historiker bin, kann ich natürlich nicht nachprüfen, inwiefern sich die zitierten Fakten tatsächlich auf Tatsachen beziehen und wo die Grenze zur Fiktion überschritten wird. Aber Rita Monaldi leistet als klassische Philologin gute Arbeit und versteht es, auch die trockenen politischen Zusammenhänge auf unterhaltsame Art und Weise darzustellen.
Sehr schön dabei sind übrigens literarische Cameos, die mir in dieser Form bislang noch nicht aufgefallen waren. So kommen in dem im 17. Jahrhundert spielenden Teil der Handlung deutliche Referenzen auf René Magritte (Ceci n'est pas une pipe), die französische Revolution ('sans culottes') und sogar auf Jean Cocteau bzw. dessen Zitat im Film 'Bladerunner' (Alle Dinge, die man erlebt, werden verloren gehen in der Zeit, wie eine Träne im Regen....). Sehr schön!! So kommt auch der Bischoff von Como in seinem Brief an die Kongregation für die Heiligsprechung zu dem Schluss, dass "Bücher immer von anderen Büchern sprechen und jede Geschichte eine bereits erzählte erzählt..."

Fazit: Das über 700 Seiten starke Buch birgt pures Lesevergnügen, insbesondere, wenn man auf o.a. Cameos und Referenzen stößt. Der Erzählstrang der Haupthandlung ist sequentiell, die einzelnen Kapitel umfassen dabei jeweily einen Tag bzw. eine Nacht und heben sich dadurch dankenswerterweise von den 'Mikrokapiteln' der schnell geschnittenen Millionenseller á la Dan Brown ab. Nichts desto trotz erlauben sich die Autoren mitunter barocke Aus- und Abschweifungen (für Freunde der gepflegten Fußnoten: es gibt noch einmal knapp 40 Seiten mit historisch überaus interessanten Anmerkungen) -- aber die sind angesichts der Epoche, in der die Handlung spielt, authentisch ;-)

Links:

  1. Leben und Werk des Athanasius Kircher (1602 - 1680)

  2. P. Hertel: Ende des Denkverbots für Katholiken - Vor 40 Jahren hob der Vatikan seine Bücherverbotsliste auf, Kalenderblatt vom 14.06.2006, deutschlandfunk.

  3. englische Zusammenfassung von Monaldi / Sorti: Imprimatur, bei www.attomelani.net

  4. Die christlichen Katakomben von Rom



Samstag, 29. September 2007

Särge in Leinen und Leder - Reclam vs. Werksausgabe

Unglaublich, aber ich hänge einmal wieder 2 Wochen hinter der aktuellen Ausgabe der ZEIT zurück. Aber besser zu spät als nie. Ulrich Greiner beschreibt in seiner den Literaturteil einleitenden Glosse 'Särge in Leinen und Leder' (Die ZEIT, 38/2007) das 'Drama' der deutschen Gesamtausgaben. Kein deutscher Dichter und Autor (zum Teil auch schon die lebenden) ohne -- mitunter historisch-kritisch kommentierter -- Gesamtausgabe seiner Werke. Sie sind -- so Greiner -- der ganze Stolz ihrer Herausgeber, Verleger, aber auch Besitzer. Allerdings eignen sie sich nicht unbedingt als leichte Reiselektüre oder Reclamheftersatz für die Schullektüre der Tochter.

Zwiespältige Sache, aber im Bücherschrank macht sich das Prunkstück natürlich recht gut aus. Doch -- und das scheint das Schicksal der meisten Gesamtausgaben -- dient sie Zeit ihres Lebens doch eher als Repräsentations- und Dekorationsobjekt (siehe Möbelhäuser, Stichwort 'hohle' Gesamtausgaben), denn als Lektüre. Druckfrische Gesamtausgaben -- ebenso wie besonders prächtig ausgestattete -- haben in der Regel ihren (nicht zu unterschätzenden) Preis. Daher stammt eventuell wohl auch die Scheu, die Wertanlage durch häufiges Lesen zu 'zerlesen'. Ich würde auf alle Fälle einer Tochter den Band aus Lessings in Leder gebundener Gesamtausgabe (wohlmöglich noch mit Goldschnitt, etc.) nicht als Schullektüre mit auf den Weg geben. Erinnern wir uns doch mal an unsere Schullektüren. Die ganz vorsichtigen Zeitgenossen unter uns unterstrichen und kommentierten diese lediglich mit Bleistift. Aber welche Blüten die oft im Deutschunterricht gepflegte Langeweile treibt, zeigen die folgenden Cover-Kunstwerke aus dem Deutschunterricht aus der Ausstellung "Von Theodor Fontane zu Theodors Fontäne" (aus der Frankfurter Rundschau).

Andererseits, wer nicht unbedingt die aktuellste (historisch kritisch kommentierte) Gesamtausgabe eines (am besten schon verblichenen) Autors erwerben möchte, um diese tatsächlich zu lesen, dem sei -- wenn er seine Geldbörse schonen möchte und eventuell auch keine Bedenken gegenüber (ideologisch unbelasteter) Frakturschrift hat -- die Kategorie 'Bücher - Buchpakete, Werkausgaben, etc.' bei Ebay anempfohlen. Sicher, eine derzeit noch im Handel befindliche Gesamtausgabe wird auch nicht bei Ebay automatisch zum Schnäppchen. Gibt man sich aber mit einer zwischen 1900 und 1950 erschienenen Ausgabe zufrieden (wobei dann natürlich die noch lebenden Autoren ausscheiden müssen), gelingt es einem leicht, eine günstige Gesamtausgabe zu erwerben. Oftmals sind dann dabei die Portokosten höher als der Auktionspreis ;-)

Naja...ist das gute Stück erst einmal erworben, dann sollte es denn auch gelesen werden. Denn als Repräsentations- und Dekorationsobjekt sind Bücher doch viel zu schade...und das wissen auch die Möbelhäuser, denn dort sind die Dekostücke -- wie schon bemerkt -- innen hohl....

Samstag, 22. September 2007

Wie alt ist eigentlich die Welt..? - Bill Bryson: Eine kurze Geschichte von fast allem

Tja...wie alt ist denn nun eigentlich die Welt...? Und vor allem, wie kann man das überhaupt herausfinden? Wie kommt man darauf, ob es sich um tausende, millionen oder gar um milliarden Jahre handelt...? Dies ist eine der Ausgangsfragen, denen sich Bill Bryson -- eigentlich ja ein Reiseschriftsteller -- in seinem Bestseller 'A Short History of Nearly Everything / Eine kurze Geschichte von fast allem' widmet -- und diesmal nimmt er uns mit auf eine Bildungsreise. Fragen, die für ein grundlegendes Verständnis unserer Welt - und der Naturwissenschaften - unerlässlich sind, um deren Antwort wir uns in unserem Alltag aber kaum scheren.

Aber halt, das Buch bietet ja noch viel mehr. Es fängt tatsächlich mit DER WELT als Ganzes an, d.h. dem Kosmos (den schon Alexander von Humboldt als Titel für sein epochales Werk wählte...übrigens auch sehr zu empfehlen ist in diesem Zusammenhang auch Daniel Kehlmanns Roman 'Vermessung der Welt', der hier schon besprochen wurde). Es beginnt also mit dem Universum, unserem Sonnensystem, unserer und der Geschichte ihrer Entdeckung und 'Vermessung'. Wie groß ist die Welt? Eratosthenes von Kyrene lag im 3. Jahrhundert vor Chr. mit seiner ersten Abschätzung -- er verglich den Schattenwurf an zwei verschiedenen Orten und schloß darauf auf den Erdumfang -- gar nicht so schlecht. Von der Astronomie und Astrophysik führt uns Bryson auch in die Welt der kleinsten Dinge. Moleküle (und die Gesetzmäßigkeiten der Chemie), Atome, Quarks und Quantenmechanik sind ebenso dabei wie Einsteins Relativitätstheorie. Wir werden Zeuge der Entwicklung der Geologie als Wissenschaft und schließlich gelingt es uns sogar nachzuvollziehen, wie das Alter der Erde (und des uns bekannten Universums) abgeschätzt bzw. bestimmt werden kann. Eine kleine Frage zu deren Beantwortung diverse Wissenschaftsdisziplinen beitragen mussten, um sie zu beantworten.

Aber neben den Wissenschaften der unbelebten Dinge steht auch das Leben ansich auf dem Programm. Wie kommt es dazu, dass aus unbelebter Materie Leben entstehen kann und wie verlief die Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten? Biologie und Paläontologie stehen ebenso auf dem Programm wie Carl von Linnés Taxonomie des Lebens (hier ein Blogbeitrag zum Thema aus more semantic...!) mit der er die systematische Erforschung der Vielfalt und des Artenreichtums unseres Planeten ermöglichte.

Und schließlich der Mensch. Darwin, der über seine Arbeiten über die Entwicklung der Arten die Grundlagen der Evolutionstheorie legte und der daraus entstehende Disput, ob der Mensch vom Affen abstammt. Auch der Neanderthaler und andere Vorfahren des Menschen werden uns nähergebracht. Aber das Buch versäumt auch nicht den mahnenden Zeigefinger zu heben, wenn im letzten Kapitel die vom Menschen verursachte Ausrottung ganzer Spezies angeprangert wird. Der Dodo auf Mauritius, dessen Existenz Ende des 17. Jahrhunderts ohne triftigen Grund komplett ausradiert wurde, so dass heute nurmehr 'Knochenfragmente' und ein Ei von ihm erhalten sind. Aber auch die zahllosen anderen Arten, die tagtäglich und ohne großes Aufsehen von unserem Planeten -- durch unsere eigene Schuld -- verschwinden. Nach der Lektüre des Buches sollte klar sein, dass man solch ein einmaliges und fragiles System wie unsere Welt mit Sorgfalt behandeln sollte, denn sonst sind wir vielleicht selbst schon bald Geschichte...

Eigentlich klingt die Beschreibung dieses Buches bis jetzt als wäre es nichts anderes als wieder einmal eine populärwissenschaftliche Darstellung der kompletten Naturwissenschaften. Aber Bill Bryson gelingt dies auf eine äußerst unterhaltsame Weise. Immer wieder werden wir aus der geschichtlichen Perspektive an die einzelnen Themen herangeführt. Und die Geschichte(n) einer Entdeckung oder Entwicklung sind mindestens genauso spannend wie diese selbst. Mehr noch, aus dieser historischen Perspektive erlebt man den Prozess der Entstehung neuer Wissenschaften und Theorien mit und verfolgt diese vom Standpunkt der Zeitgenossen aus. Das trägt zum einen wesentlich zum Gesamtverständnis bei und sorgt zudem auch noch für Unterhaltung -- zumal Bryson immer wieder mit entsprechenden (humorvollen) Anekdoten für Abwechslung sorgt. Besonders gefallen hat mir dabei immer die Beschreibung der (vornehmlich britischen) Exzentriker, die nebenbei auch noch große Naturwissenschaftler waren. Dabei lernen wir auch noch verstehen, dass jeder neue Theorie -- und sei sie noch so offensichtlich -- zunächst immer Steine in den Weg gelegt werden -- und das aus den verschiedensten Gründen.
Um noch einmal auf Alexander von Humboldt zurückzukommen...ihm zur Folge durchläuft jede wissenschaftliche Entdeckung drei Phasen: Als erstes wird allgemein abgestritten, dass sie wahr sein könnte, dann wird geleugnet, dass die Entdeckung irgendwie bedeutend sein könnte, und zu guter letzt wird sie der falschen Person angerechnet, die dafür gefeiert wird....

Fazit: Wenn man sich schon immer mal einen Überblick über die Naturwissenschaften verschaffen wollte -- und dabei auch an den beteiligten Wissenschaftlern als Person interessiert ist -- aber auch wenn man wissenschaftliche Anekdoten liebt, ist man mit diesem Buch gut beraten. Zudem -- und das ist bei populärwissenschaftlichen Büchern eher selten -- wartet das Buch mit einer fundierten Bibliografie auf. Ich selbst habe die englische Originalversion gelesen und fand sie wirklich sehr unterhaltsam. Also, auf alle Fälle lesen!

Links:

  1. more semantic...! : Taxonomy...it's a battleground

  2. more semantic...!: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt

  3. Rezension zu Bill Brysons Kurze Geschichte von fast allem in Literaturschock

  4. Rezension zu Bill Brysons Kurze Geschichte von fast allem bei perlentaucher.de


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