Dienstag, 30. September 2008

Joseph Roth: Hotel Savoy ...Kafka meets Hemingway

"Das Schicksal bereiteten sie sich selbst und glaubten, es käme von Gott. Sie waren gefangen in Überlieferungen, ihr Herz hing an tausend Fäden, und ihre Hände spannen sich selbst die Fäden..."
So sah Joseph Roth nach dem großen Krieg (gemeint ist damit der 1. Weltkrieg) die Menschen selbst -- und nicht Gott -- für ihr Schicksal verantwortlich. In seinem 1924 erschienenen Roman "Hotel Savoy" zeichnet er ein gesellschaftliches Spiegelbild, vielmehr eigentlich ein Zerrbild einer "verlorenen Generation" (Hemingway lässt grüßen) vergleichbar einem "Zauberberg" im Miniaturformat.

Gabriel Dan, die Hauptfigur in Roths kurzen, knapp mehr als 100 Seiten umfassenden Roman, kehrt aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück und macht Station im polnischen "Hotel Savoy" in Lodz.
"Im Hotel Savoy kannst du mit einem Hemd anlangen und es verlassen als der Gebieter von 20 Koffern..."
Das Riesenhotel Savoy hat 864 Zimmer und alle sind belegt. Die sieben (!) Etagen des Hotels -- mir fällt gerade ein, dass das auch eine Anspielung auf Dantes Höllenkreise sein könnte (aber eigentlich waren das ja neun...) -- spiegeln die ganze Welt im Kleinstformat wider. In den untersten Etagen wohnen die Reichen und Begüterten. Je höher man kommt, desto ärmer werden die Verhältnisse. Ignatz, der bereits über 50-jährige "Liftboy" gebietet über den Fahrstuhl und damit auch darüber, in welcher Etage ein Gast denselben verlassen wird. Können die Gäste der obersten Etagen ihre Zimmer nicht mehr bezahlen, kommt Ignatz und beleiht ihre Koffer (die er mit einem Patentschloss verschließt). Währenddessen fürchten alle die Kontrollgänge des unheimlichen Hoteldirektors, den jedoch noch kein Gast zu Gesicht bekommen hat. Gabriel Dan kommt in der 6. Etage in Zimmer 703 unter. Über ihm wohnt Stasia, die unglückliche Kabarett-Tänzerin, die sich in ihn verlieben wird. Aber Stasia selbst ist das Objekt der Begierde von Gabriel Dans Vetter Alexanderl, dem stutzerhaften Sohn seines reichen, aber geizigen Onkels.

Vor Ort und im Hotel gärt es. Die Arbeiter einer nahegelegenen Fabrik streiken, der Atem der Revolution liegt in der Luft. Als Gabriel Dans alter Kamerad Zwonimir, ein ehrliche Wirrkopf von bäuerlichem Gemüt, in der Stadt ankommt, tritt dieser am Ende gar als politischer Agitator auf und wird das Fass zum überlaufen bringen. Währenddessen warten alle auf die Ankunft von "Bloomfield". Bloomfield, der Milliardär aus Amerika, auf den alle ihre Hoffnungen richten, kommt aber nur, um das Grab seines Vaters auf dem Friedhof zu besuchen und verschwindet bei Nacht und Nebel, bevor es zur eigentlichen Katastrophe kommt und die tatsächliche Frage nach der Identität des noch nie gesehenen, legendären Hoteldirektors geklärt werden kann....

Wirklich, dies ist wieder einmal ein komplett "anderer" Roman. Die geschilderten Charaktere sind reichlich "bizarr" geraten, aber mit nur kurzen Pinselstrichen liebevoll gezeichnet. Dabei ist die Schilderung der Umstände sehr düster geraten. Man fühlt sich in Kafkas bedrohliche Prager Umwelt hineinversetzt. Eigentlich wollte Gabriel Dan Schriftsteller werden, doch dann kam der Krieg. Jetzt gehört er nach den Jahren der Gefangenschaft zu einer orientierungslosen, verlorenen Generation, die erst wieder Halt finden muss. Im Hotel Savoy geht es ähnlich zu wie auf Thomas Manns "Zauberberg", das Hotel bietet ein Skurilitätenkabinett des menschlichen Daseins. Es wird geliebt, gestorben, getrunken und sich amüsiert. Am Ende wird Gabriel Dan ins "Leben" entlassen...

Fazit: Ein ganz und gar ungewöhnlicher, kurzer Roman. Verpasste Gelegenheiten, unerfüllte Liebe, gewöhnliche Dummheiten, abstruse Begebenheiten, skurile Hotelbewohner ... kurz, ein Roman wie das Leben. Unbedingt Lesen!

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Freitag, 26. September 2008

Abbé Prévost: Manon Lescaut ...das kann nicht gut enden

Antoine François Prévost (oder kurz Abbé Prévost) schuf mit seinem 1731 erstmals veröffentlichten kurzen Roman "Manon Lescaut" (L'Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut) geradezu ein archetypisches Werk, das Vorlage für unzählige weitere Romanstoffe und Filme werden sollte: Eine ungaublich schöne, reizvolle- aber gefährliche - Frau, an der sich ein vormals lauterer Charakter sehenden Auges zu Grunde richtet...
Das Motiv kennen wir nur allzu genau. Prosper Merimèes "Carmen" und Bizets wohlbekannte gleichnamige Oper. Oder auch in abgewandelter Form Alexandre Dumas' "Kameliendame", in der Manon Lescaut sogar direkt zitiert wird. Und da wir schon bei den literarischen Varianten angekommen sind, dürfen wir auch nicht Emile Zolas "Nana" vergessen, an der sich die Männer zu Grunde richten....genauso wie Lola in Heinrich Manns "Professor Unrat" oder vielmehr Marlene Dietrich im "Blauen Engel"....

Aber kommen wir zunächst erst einmal auf die Geschichte zurück. Frankreich, wir befinden uns im beginnenden 18. Jahrhundert, das Spätbarock. Der junge, adelige Chevalier Des Grieux verliebt sich stehenden Fußes in eine Zufallsbekanntschaft, die blutjunge und unglaublich liebreizende Manon Lescaut, eine Bürgerliche. Des Grieux stammt aus einer angesehenen Familie, aber er setzt sein Erbe, die Liebe seines Vaters und seine sichere Zukunft bewusst aufs Spiel und flieht gemeinsam mit Manon. Aber woher soll das Geld kommen, das er braucht, um Manon einen "angemessenen" Lebensstil führen zu lassen.
Manon war ein Geschöpf von ungewöhnlichem Charakter. Es gab wohl kein anderes Mädchen, das so wenig wie sie am Gelde hing, aber sie geriet trotzdem sofort in große Unruhe, wenn sie auch nur einen Augenblick befürchtete, in Mangel zu kommen. Vergnügen und Zeitvertreib waren ihr nun einmal Bedürfnis... sich durch Unterhaltungen zu beschäftigen, das war für sie so notwendig, daß man sich sonst nicht auf ihre Laune und Stimmung verlassen konnte.
Also bemüht Des Grieux immer wieder seinen loyalen, alles andere als wohlhabenden Freund Tiberge, der den Weg eines Geistlichen eingeschlagen hat, und versucht sich in zahlreichen Betrügereien. Aber der so erlangte Reichtum ist alles andere als beständig und so kommt es, dass Manon Des Grieux immer wieder für einen reicheren Mann verlässt.

Schließlich geraten die beiden Liebenden nach zahllosen Irrungen und Wirrungen nach New Orleans. Die fehlenden Klassenschranken der 'Neuen Welt' erlauben ihnen nunmehr das 'offizielle' Zusammenleben, aber wieder weckt Manons Schönheit Begehrlichkeiten und als Des Grieux in guter Absicht, Manon zu heiraten, dem Provinzgouvaneur gesteht, dass sie beide noch gar nicht verheiratet wären, nimmt das Verhängnis seinen Lauf...

Auch wenn das Buch zu Goethes Zeiten schon den Ruf eines "Klassikers" hatte, stößt es auch heute noch auf deutliche Resonanz, geht es doch um die immer aktuellen Themen Liebe, Betrug, Eifersucht, Unvernunft, etc. Obwohl sich Des Grieux stetig zu Grunde richtet, scheinen ihm alle äußeren Umstände wie Armut, Verlust des Erbes und der Titel, vollkommen belanglos, wenn er nur mit dem abgöttisch geliebten Wesen zusammen sein darf. Aber die Erfüllung von Manons Bedürfnissen ziehen ihn immer tiefer hinab. Er betrügt beim Kartenspiel, er wird zum Zuhälter und Dieb, wird betrogen und gerät selbst ins Gefängnis. Die blinde Liebe zu Manon lässt ihn alles vergessen, und obwohl er selbst um diese fatale Liebe weiss und sich ihrer Konsequenzen bewusst ist, steuert er geraden Weges in sein Unglück....

Fazit: Eine immer aktuelle, kurzweilig und melancholische kleine Geschichte um den Prototypen einer 'femme fatale". Lesen!

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Sonntag, 21. September 2008

Tomasi di Lampedusa: Der Leopard (Il Gattopardo)

Was für ein Buch! Gleich dies vorne weg: schon lange war ich nicht mehr so beeindruckt von einem Buch -- und das um so mehr, als dass ich mir nicht allzu viel davon versprochen hatte. Aber alles der Reihe nach...
Es geht um Giuseppe Tomasi, Fürst von Lampedusa, Herzog von Palma und Palermo, Baron von Montechiaro, und seinen einzigen, 1958 posthum erschienenen Roman 'Il Gattopardo' ('Der Leopard' bzw. in der neuen Übersetzung 'Der Gattopardo'). Darin verfolgt Lampedusa die Geschichte des alten sizilianischen Fürstengeschlechts der 'Salinas' von 1860 bis 1910. In diese Zeit fällt das italienische 'Risorgimento', die Vereinigung Italiens zur konstitutionellen Monarchie unter König Vittorio Emanuele II.

Wir starten im Jahre 1860 in Sizilien. Der Roman erzählt in 8 Kapiteln szenenweise Ausschnitte aus dem Leben der Familie Don Fabrizios, dem Fürst und Herzog von Salina. Liegen zwischen den ersten Kapiteln jeweils nur wenige Monate, führen uns die letzten beiden Kapitel in die Jahre 1883 (dem Tod Don Fabrizios) und 1910. Don Fabrizio mit seinen gut 50 Jahren ist ein ungemein beeindruckender Mann, der den Leopard (Gattopardo) in seinem Wappen führt und dessen Familie schon seit Urzeiten zum Hochadel Siziliens zählt. Doch die Zeiten ändern sich.
"Ich gehöre einer unglücklichen Generation an, die zwischen der alten und der neuen Zeit steht und sich in beiden unbehaglich fühlt..."
Die Landung des Revolutionärs und Freiheitshelden Garibaldi in Sizilien steht bevor und mit ihm kommt der gesellschaftliche und soziale Wandel, dem der unaufhaltsamen Aufstieg des Bürgertums folgt.
"Wenn wir wollen, das alles bleibt wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert."
Wir werden Zeuge des Alltags der Fürstenfamilie, so erzählt das erste Kapitel den Ablauf der 24 Stunden zwischen dem alltäglichen rituellen Rosenkranzgebet der Familie. Die einzelnen Kapitel erzählen jeweils kurze Episoden -- jede nur eine Momentaufnahme -- an denen sich die schleichende Veränderung manifestiert.

Don Fabrizio ist Patrizier vom 'alten Schlag', der letzte 'richtige' Salina. Seine vordergründige gewaltige Erscheinung wird kontrastiert durch seine Vorliebe für Astronomie und Mathematik - er hat sogar eine Medaille für die Entdeckung eines Kometen erhalten. Das Zusammenleben mit seiner Frau Stella ist nach 20-jähriger Ehe zur lieblosen Routine erstarrt, seine romantischen Gefühle hebt sich Don Fabrizio für abendliche Bordellbesuche auf. Von seinen Söhnen ist er enttäuscht, von seinen Töchtern mehr oder weniger ebenso. Einzig Tancredi, sein Neffe, der Sohn seiner mittellos verstorbenen Schwester, weiss sich seine Gunst zu bewahren. Die Familie bricht auf in das Sommerdomizil der Salinas nach Donnafugata. Dort verliebt sich Tancredi unmitelbar in die wunderschöne Angelica, Tochter des neurreichen Provinzbürgermeisters Don Calogero. Concetta, die Tochter Don Fabrizios, die sich Hoffnungen auf Tancredi gemacht hatte, ist schwer enttäuscht, doch der Fürst unterstützt - notgedrungen - Tancredis Freierswünsche. Für Tancredis altes, aber mittelloses altadeliges Erbe, ist diese aussichtsreiche Mitgift in Verbindung mit der unwiderstehlich hübschen Angelica -- der eigentlich nur ein entsprechender Adelstitel zum Glück fehlt -- einfach die perfekte Verbindung.

Die Liebesgeschichte zwischen Tancredi und Angelica bildet das eigentliche Zentrum des Romans und überhäuft den Leser mit einer Unzahl sinnlicher Eindrücke, die das junge Paar auf seinen endlosen Streifzügen durch die zahllosen, unbenutzten und üblicherweise verschlossenen Zimmer der Sommerresidenz erlebt. Allerdings liegt in diesem Liebesreigen auch ein gehöriges Maß an Berechnung.
"Diese besten Tage im Leben Tancredis und Angelicas ... waren die Vorbereitung auf ihre Ehe, die auch im Erotischen mißlang."

In einem kurzen Kapitel erleben wir Pater Pirrone, den Hausgeistlichen Jesuiten der Familie Salina, auf einer Stippvisite bei seiner eigenen Familie auf dem Land. Auch dort wird schließlich eine Ehe gestiftet, die den Frieden zwischen verfeindeten Zweigen seiner Familie um ein ungerechtes Erbgeschäft wieder herstellen soll -- eine Allegorie auf das Leben der altadeligen Salinas und dem neureichen Bürgertum. Wir erleben in einem weiteren Kapitel den Ball, in dem Tancredis Verlobte der Gesellschaft vorgestellt werden soll und dessen sinnlicher Höhepunkt ein Walzertanz des 'alten Leoparden' Don Fabrizio mit seiner Schwiegertochter Angelica sein wird.
"Für eine ganz kurze Zeit wurde in jener Nacht der Tod in seinen Augen wieder "etwas für die anderen"..

1883 stirbt Don Fabrizio auf der Rückkehr von einer Reise nach Neapel in einem einfachen Hotel im Beisein seiner Familie an Herzversagen. Dieses Kapitel aus Sicht Don Fabrizios beschrieben gehört mit zu den eindringlichsten Schilderungen des ganzen Buches. Der große Fürst zieht ein letztes Resumé und versucht sich an die Dinge zu klammern, die tatsächlich von Bedeutung sind, und erkennt all die Widersprüche, in die ihn sein Leben verwickelte, bis er nicht mehr ist.

1910 treffen wir noch einmal auf Don Fabrizios Töchter -- alle drei unverheiratet und frömmelnde alte Jungfern -- und die mittlerweile verwitwete Angelica. Noch einmal, nach über 50 Jahren, bricht die alte Wunde Concettas auf, die ursprünglich ja in Tancredi verliebt gewesen war, und wird ihr das Leben noch einmal zur bitteren Qual machen....


Der Inhalt des Romans mag sich ja banal geschildert anhören, aber die lückenhafte Montage der einzelnen Kapitel, von denen jedes einzelne eine unglaubliche erzählerische Dichte und Intensität erreicht, angefüllt von zahlreichen kleinen Dingen mit ihrer eigenen Geschichte in der Geschichte, machen das Buch zu einem beeindruckenden Erlebnis, das man nicht so schnell vergessen wird. Ich habe dieses Buch jetzt nach über 10 Jahren gelesen, seit es bei mir in der alten Bertelsmannausgabe von 1959 (siehe Foto) im Regal steht. Auch hatte ich schon mehrmals versucht, die grandiose Verfilmung Luchino Viscontis im Fernsehen anzuschauen -- aber das Fernsehen ist einfach nicht das richtige Medium für einen mitunter langsamen, langatmigen Visconti-Film. Viel zu leicht gerät man in die Versuchung, das Programm zu wechseln. Daher waren auch meine Bemühungen hinsichtlich des 1963 in Cannes mit einer Goldenen Palme ausgezeichneten Films mit Burt Lancaster als Don Fabrizio, Alain Delon als Tancredi und Claudia Cardinale als Angelica, bislang noch nicht von Erfolg gekrönt. Aber nach der Lektüre dieses Buches hege ich doch die Hoffnung, den Film das nächste Mal vom Anfang bis zum Ende 'durchzustehen'. Ich bin sicher, es lohnt sich!

Ein Wort noch zum Titel und zur Übersetzung des Buches. Ich habe die alte - gekürzte Version gelesen, die noch unter dem Titel 'Der Leopard' firmierte. Der Originaltitel 'Il Gattopardo' bezeichnet aber mitnichten die große Raubkatze, sondern deren kleineren Vetter, den Ozelot, bzw. die Parderkatze oder Serval. Der Autor Tomasi, dessen eigenes Familienwappen tatsächlich einen Leoparden, der auf seinen Hinterfüßen steht, zeigt, macht mit diesem Kunstgriff deutlich, dass es sich bei dem vorliegenden Roman vielmehr um eine 'Parodie', eine gezielte Verharmlosung seiner eigenen Familiengeschichte handelt. Tomasi verbrachte einen Großteil der faschistischen Ära Italiens unterwegs auf Auslandsreisen. Erst in den 50er Jahren entdeckte er sein schriftstellerisches Talent und vollendet seinen großen Roman 1954 nach nur wenigen Monaten Arbeitszeit als eine Art 'Vergangenheitsbewältigung'. Übrigens fand Tomasi Zeit seines Lebens -- er starb 1957 -- keinen Verleger für sein Werk. Erst nach seinem Tod wurde der Roman 1958 veröffentlicht und direkt zu einem Welterfolg.

Fazit:: Ein Meisterwerk! Ich weiss aber nicht, ob ich vor 10 oder 15 Jahren bereits genausoviel Vergnügen aus der Lektüre dieses Buches hätte ziehen können. Es gehört wohl doch schon etwas 'Lebenserfahrung' dazu. Auf alle Fälle eines der besten Bücher, die ich seit langer Zeit gelesen habe!!

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Freitag, 12. September 2008

Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts

Schon lange stand die bereits etwas angestaubte alte Ausgabe dieses Schullektüreklassikers in unserem Regal und wollte gelesen werden. Aber wie es eben immer so ist, mit ehemaliger Schullektüre -- auch wenn dieser Band in meiner Schulzeit an mir vorbeigegangen war -- man nähert sich dem 'Feind' doch stets mit einer gewissen Portion Respekt und Skepsis. Doch das sollte sich als vollkommen unbegründet erweisen....
Joseph von Eichendorff zählt zu den deutschen Romantikern. In den ersten 30 Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich diese Zeitströmung zu voller Blüte und zeichnete sich vor allen Dingen durch die Betonung von Phantasie und Gefühl -- ganz im Gegensatz zur rationalen Klassik -- und durch die Betrachtung der geheimnisvollen Kräfte und der Schönheit der Natur aus. Irgendwie also eine viel zu früh gekommene FlowerPower-Esoterik-Generation, die sich als Gegenbewegung zur immer weiter fortschreitenden Epoche der Industrialisierung abgrenzte.

In 'Aus dem Leben eines Taugenichts' erzählt und Eichendorff die Geschichte eines jungen Mannes, der von seinem Vater, dem Müller, kurzerhand von zuhause 'rausgeschmissen' wird (er sei ein 'Taugenichts' und solle doch mal draußen in der Welt' versuchen, sein Brot zu erwerben...). Und so gibt sich unser junger Held - die Geschichte wird in der ICH-Perspektive erzählt - kurzerhand auf Wanderschaft. Seine Geige, seine Musikalität und sein angenehmes Äußeres verhelfen ihm dabei immer wieder in Verbindung mit zahlreichen glücklichen Fügungen des Schicksals, unverhofftermaßen ein Auskommen zu finden. So wird er zuerst Gärtner in einem Schloß beschäftigt und kurz darauf zum Zolleinnehmer befördert, eine Profession, die ihm ohne viel zu arbeiten einen sicheren Lebensunterhalt bescheren könnte. Er verliebt sich unglücklich in die schöne Gräfin des Schlosses, ist tief betrübt, da er sie bereits vergeben wähnt, und macht sich kurzentschlossen auf in Richtung Italien (Seit Goethe ja das Land, 'in dem die Zitronen blühn' und des Deutschen liebstes Urlaubsland). Auf seinem Weg macht er die Bekanntschaft mit zwei Räubern, die sich dann aber doch als Maler herausstellen, die er auf ihrer Reise nach Italien begleiten wird. Und hier beginnen die Verwirrungen und Verwicklungen....

Seine Abenteuer führen ihn auf ein einsames Schloß, in dem er von den Angestellten zuerst verwöhnt wird, aber bald um sein Leben bangt, nach Rom, wo er versucht, seine Angebetete zu finden und schließlich wieder zurück in das heimatliche Schloss, wo sich all die Verwirrungen und seltsamen Begebenheiten schlussendlich aufklären sollen. Der Text ist angereichert mit Gedichten und Volksliedern (Wem Gott will rechte Gunst erweisen...), die stets die Stimmung und Gefühlslage, in der sich unser Held befindet, wiedergeben. Ganz besonders hat mich die alte Sprache fasziniert ('embrassieren', 'vazieren', 'Kamisol; und viel andere aus dem Französischen stammende Wörter, die man heute nicht mehr im Deutschen findet). Interessant auch, dass kein 'moralischer Zeigefinger' gehoben wird, und der Taugenichts (alleine der Name ist ja bereits eine Art Wertung...) am Ende sogar noch belohnt werden soll. Dennoch. Es lohnt sich, das dünne Bändchen einmal (wieder) zur Hand zu nehmen und sich darin zu verlieren.

In vielerlei Hinsicht hat mich der 'Taugenichts' an einige literarischen Nachfolger erinnert. So gerät er immer wieder in Situationen, die ihm ja eigentlich ein 'glückliches Auskommen' ermöglichen würden, lässt es aber gar nicht so weit kommen, sondern macht sich wieder fort auf die Wanderschaft. Ein regelrechtes 'Road-Movie'. Den gleichen Eindruck hatte ich auch bei der Lektüre von Salingers 'Der Fänger im Roggen', auch wenn hier die Grundstimmung lange nicht so positiv war. Salingers Held hat ebenfalls keine rechte Ahnung, was er mit sich anfangen soll, es bieten sich im tausend Gelegenheiten, die allesamt in einer Art 'was wäre wenn...' angedacht und doch nicht eingeschlagen werden.

Fazit: Ein phänomenales kleines Bändchen, das einen kleinen Blick in die Stimmung und Geisteswelt eine Epoche gestattet, die uns heute wieder allzu fern erscheint.

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Dienstag, 9. September 2008

Gordon Dahlquist: Die Glasbücher der Traumfresser

Was einem als aller erstes ins Auge fällt, ist die ungewöhnliche Ausstattung. Das Buch besteht aus 10 einzelnen 'Bändchen', jedes umfasst ein Kapitel, zusammengestellt in einem Schuber, jedes in altmodischer Weise aufgemacht, um den Eindruck eines 'Groschenromans' aus der Zeit des 'Fin de Siecle' zu erwecken. Ohne dass man jetzt etwas über den Inhalt von Gordon Dahlquists "Die Glasbücher der Traumfresser" weiss, liegt der Schluss nahe, dass es sich um einen Kriminalroman im Stile z.B. der Sherlock Holmes Geschichten handeln könnte, die tatsächlich in Form ganz ähnlicher Bändchen erschienen....

Es gibt kein langes Vorgeplänkel, wir geraten gleich mitten in die Geschichte. Miss Celeste Temple wurde von ihrem Verlobten Roger Bascomb sitzen gelassen. Obwohl nirgends eine Jahreszahl fällt, deuten alle Indizien tatsächlich auf die viktorianische Epoche um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert hin. Da Miss Temple ansich eine neugierige und sehr eigensinnige Person ist, beschließt sie, Ihren Ex-Verlobten selbst zu beschatten, um herauszufinden, wer oder was hinter der unvermuteten 'Entlobung' stecken könnte. Dabei gerät sie in eine ganz und gar seltsame maskierte Gesellschaft (der Kinofreund denkt sofort an Kubricks 'Eyes Wide Shut') und verstrickt sich in das unglaublichste Abenteuer. Zunächst geht es mit dem Zug in ein mysteriöses Herrenhaus auf dem Land. Dort schmuggelt sie sich in eine scheinbare Abendgesellschaft, und wird als ungebeteer Gast Zeuge seltsamer und extremer Rituale, bei denen Testpersonen -- es handelt sich natürlich um 'leichtbekleidete' Frauen -- scheinbar ein fremder Wille aufgezwungen wird, was von der Gesellschaft mit Wohlwollen goutiert wird. Allerdings wird Miss Temple entdeckt und soll aus dem Weg geräumt werden. Dies gestaltet sich nicht so einfach wie geplant, da es ihr gelingt, ihre beiden Meuchelmörder mehr oder weniger unbeabsichtigt ums Leben zu bringen....

Kardinal Chang ist kein Kardinal. Er trägt den Namen nur aufgrund eines roten Mantels -- sein aus einem Kostümfundus stammendes Markenzeichen. Er ist auch kein Asiate, was der Name nahelegen würde, sondern trägt diesen selbstgewählten Namen, da er in der Jugend an den Augen verletzt wurde und seither eine dunkle Brille trägt (noch ein Markenzeichen). Seine Profession ist eigentlich der 'Auftragsmord' und andere für den gewöhnlichen Mann eher unübliche und unliebsame Tätigkeiten. Chang gerät in den Strudel der Ereignisse, als er den Auftrag erhält, Colonel Trapping zu ermorden. Colonel Trapping, Befehlshaber der königlichen Dragoner, soll von seinem ehrgeizigen Stellvertreter aus dem Weg geräumt werden, damit dieser ihm nachfolgen kann. Wie der Zufall es so will, führt die Ausführung des Auftrags Chang und Trapping just an denselben Ort, an dem sich auch Miss Temple eingeschlichen hat. Allerdings kommt Chang nicht zum Zuge -- er findet Trapping bereits ermordet vor...

Doktor Abelard Svenson ist Leibarzt des Mecklenburgischen Prinzen, der sich gerade in London aufhält, und sich mit Heiratsabsichten trägt. Der Prinz ist ein Idiot, Doktor Svenson hat den ministeriellen Auftrag, den Prinzen vor seinen eigenen Dummheiten zu bewahren. Allerdings kann er nicht verhindern, dass der Prinz in die Machenschaften einer geheimen Gesellschaft verstrickt wird, die auch hinter den Ereignissen steckt, bei denen Miss Temple und Kardinal Chang unfreiwillig Zeuge wurden. Und hier wird das Ganze zu einem phantastischen Roman....

Irgendwie ist es dieser Gesellschaft gelungen, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem man die Gedanken und Erinnerungen eines Menschen in einer Art 'Buch' (genauer ein 'Glasbuch') festhalten, d.h. aufzeichnen kann. Diese Technologie erweist sich als Quelle absoluter Macht und natürlich werden wir als Leser Zeuge einer Verschwörung, die (einmal wieder) nichts geringeres plant, als die Weltherrschaft (oder zumindest einen Teil davon) an sich zu reißen. Das Dreiergespann bestehend aus Miss Temple, Kardinal Chang und Doktor Svenson versucht dabei jeweils aus unterschiedlichen Gründen und mitunter auch auf getrennten Wegen, diese Pläne zu vereiteln.

Jedes einzelne Bändchen umfasst ein eigenes Kapitel, in dem die Geschichte aus Sicht eines der drei Protagonisten vorangetrieben und erzählt wird. Erst im letzten Band -- der etwa doppelt so dick ist wie die anderen Bändchen -- agieren alle drei gemeinsam und die Haupterzählperspektive wechselt über zu Miss Temple.
Der Autor widmet sich der Schilderung der Szenerie mit viel Liebe zum Detail. Ebenso werden Charakter, Beweggründe und Motive der Hauptdarsteller ausgeleuchtet und es gelingt ihm ein ausgewogenes und differenziertes Charakterbild, ohne dabei auf Stereotypen zurückgreifen zu müssen. Allerdings lässt er sich auch Zeit mit dem Vorantreiben der Handlung, was den einen oder anderen Leser leider auch etwas langweilen könnte. Wir befinden uns eben noch im 19. Jahrhundert und nicht in einem Michael Crichton Thriller....
Zudem handelt es sich auch noch um einen (mehr oder weniger klassischen) Bildungsroman, d.h. die Hauptfiguren machen allesamt eine Entwicklung durch, die sie am Ende als gereiftere, erfahrenere und bessere(?) Menschen dastehen lässt. Bei Miss Temple, die von der naseweisen Landpomeranze zum mehr oder weniger abgeklärten Haudegen wird, ist diese Entwicklung allerdings etwas fragwürdig. Natürlich gesteht man ihr zu, in Extremsituationen über sich hinauswachsen zu können, aber zum Einen geht das hier alles etwas schnell und zum Anderen hat sie (genauso wie unsere anderen beiden Protagonisten) ja immer so unverschämtes Glück, tatsächlich am Leben zu bleiben. Wo wir schon dabei sind, ist Kardinal Chang letztendlich wirklich ein regelrechtes 'Stehaufmännchen', gegen den Bruce Willis in 'Die Hard' eher auf Erholungsurlaub geschickt wurde. Auch Doktor Svenson gerät vom altbackenen Akademiker, der seiner verstorbenen Liebe nachtrauert, zum kühl kalkulierenden Killer. Damit hätte der Leser - ebenso wie die Verschwörer -- wohl am allerwenigsten gerechnet, dass sich unsere drei Durchschnitts-Hauptfiguren zu regelrechten Übermenschen entwickeln könnten....

Obwohl Gordon Dahlquist wirklich sehr viel Mühe in die Konstruktion seiner komplizierten Verschwörung und einer noch komplizierteren und miteinander verwobenen Aufdeckung investiert, bleiben am Ende doch noch ein paar kleine Ungereimtheiten, die aber auch vielleicht weniger auf 'Schlamperei', als vielmehr auf eine potenzielle Fortsetzung deuten könnten (und so ist es tatsächlich...am 1. Mai 2008 erschien die Fortsetzung mit dem Titel "The Dark Volume"...). Details kann ich an dieser Stelle natürlich noch nicht ausplaudern, denn das würde den Lesern den Spaß und vor allem die Spannung verderben. Und spannend sind die Bändchen meines Erachtens allemal. Jedes einzelne. Auch, wenn man am Anfang etwas braucht, um mit der Geschichte wirklich warm zu werden, spätestens nach den ersten 20 Seiten wird man keines der 10 Bändchen mehr aus der Hand legen können.

Fazit: Ein fantastischer Thriller im antiquierten Gewand mit fein ausdifferenzierten Charakteren, verwoben in eine unglaubliche Verschwörung, die an manchen Stellen vielleicht etwas zu umständlich geraten ist. Aber: LESEN! und zwar wenn genug Zeit dafür ist. Häppchenweise genossen - so befürchte ich - kann man schnell daran die Lust verlieren, und das wäre schade, denn es lohnt sich, hier durchzuhalten!

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Donnerstag, 4. September 2008

Rudyard Kipling: Kim

Leider haben die Werke von Rudyard Kiplings oft zumindest meiner Meinung nach ungerechterweise den Ruf, Jugend- oder gar Kinderbücher zu sein. Wahrscheinlich liegt das an der manchmal "kindlichen" Perspektive, wie z.B. in den beiden Dschungelbüchern oder in dem Roman "Kim", den ich heute hier besprechen möchte.
Vor einiger Zeit gelangte ich in den Besitz einer wunderschönen Ausgabe des Romans der Deutschen Buchgemeinschaft aus den 30er Jahren (natürlich auch in der damals obligatorischen "altdeutschen" Schrift...), deren Ausstattung (edle Halblederbindung mit graphischem Prägedruck auf dem Cover...) heute ihresgleichen sucht. Aber wir wollen hier ja über den Inhalt sprechen...

Wie so oft befinden wir uns bei Kipling in Indien, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter britischer Kolonialherrschaft. Der Waisenjunge Kim wird zum Geheimagenten und gerät in das "große Spiel". Als "Great Game" wurde die britisch-russische Rivalität um die Vorherrschaft in Zentralasien im 19. Jahrhundert bezeichnet und unser kleiner Held gerät direkt zwischen die Fronten der beiden Großmächte. Eigentlich heißt er ja Kimball O'Hara, aber seine Abstammung -- er ist der Sohn eines irischen Soldaten -- lernt er erst viel später kennen, vielmehr gilt er trotz seiner britischen Abstammung als „Eingeborener“. Kim meistert sein Leben in den Slums von Lahore mit Betteln und kleineren Betrügereien, als er eines Tages einen alten tibetanischen Lama kennenlernt, der sich zur Lebensaufgabe gesetzt hat, dem "Rad der Lebens" (Samsara) zu entfliehen und zu diesem Zweck auf der Suche nach dem sagenumwobenen "Fluss des Pfeils" ist, der im die Erlösung verheist. Kim wird zu seinem Sela (Schüler) und begleitet ihn fortan auf seinem Weg. Dabei gerät er zum ersten Mal in das große Spiel, als er dem britischen Kommandeur der Stadt Umballa eine geheime Nachricht überbringen soll.

Durch einen glücklichen Zufall wird Kim durch den Hauptmann des Regiments seines verstorbenen Vaters anhand eines Amuletts, das der Junge um den Hals trägt, identifiziert. Dabei wird er von seinem Lama getrennt und gezwungen, eine englische Schule in Lucknow zu besuchen. Der Lama besteht allerdings darauf, für Kims Ausbildung aufzukommen und bleibt mit ihm über die Jahre stets in Kontakt. Während der Schulferien wird Kim durch den britischen Geheimdienst als Spion ausgebildet und nach drei Jahren ist er bereit, seine erste Rolle im "großen Spiel" übernehmen. Doch zuvor wird ihm noch die Bitte gewährt, endlich wieder gemeinsam mit seinem Lama auf Wanderschaft zu gehen und die beiden brechen auf in Richtung Himalayagebirge, wo sie in Konflikt mit russischen Geheimagenten geraten und das "große Spiel" beginnt....

Kiplings Roman besticht vor allem durch die genaue Beobachtung und Beschreibung des kolonialen Indiens. Die Charaktäre sind präzise und tiefgründig gezeichnet, also ganz und gar nicht, wie man es für ein "Jugendbuch" erwarten würde. Die spannende und unterhaltsame Handlung wird durch philosophische und kulturelle Seitenblicke untermauert und gewährt ebenso Einblick in die politischen Verhältnisse zwischen der Kolonialmacht Großbritannien und dem indischen Vielvölkergemisch. Auf seiner Wanderschaft lernen Kim und der Lama diese Vielfalt der indischen Landschaft und Kultur kennen und werden Zeuge vielfältiger Riten und Gebräuche. Kipling erhielt 1907, also 6 Jahre nach dem Erscheinen dieses Romans, den Literaturnobelpreis verliehen.

Fazit: ein unterhaltsamer Klassiker nicht nur für Jugendliche, der den Blick in eine vergangene imperiale Epoche eröffnet und auch heute noch nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat.

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Montag, 1. September 2008

Alfred Kubin: Die andere Seite

Mehr durch Zufall geriet mir dieser Roman des österreichischen Künstlers Alfred Kubin als altes Reclam-Bändchen in die Hände. "Die andere Seite", entstanden im Jahr 1909, ist ein aufschlussreiches literarisches Beispiel für die Epigonen der Spätromantik, die das Unheimliche und Phantastische ins expressionistisch Surrealistische hinein steigern. Kubin ist ja weithin bekannt durch seine kongenialen Illustrationen zu Edgar A. Poes Erzählwerk, aber er hat auch einen Roman, "Die andere Seite" veröffentlicht.

Ein Zeichner (ein Alter-Ego Kubins?) wird von einem alten Schulfreund -- Patera, der zu unermesslichen Reichtum gekommene Herrscher seines in Zentralasien selbstgeschaffenen Utopias -- auserwählt und in das neugeschaffene Traumland hinter den Bergen von Samarkand mit seiner Hauptstadt "Perle" eingeladen, das ein sorgenfreies Leben verspricht. Nach einer strapaziösen Reise fällt als erstes die gewaltige Mauer ins Blickfeld, die das Reich von allen äußeren Einflüssen abschirmt. In Perle angekommen erleben die Reisenden einen Kulturschock nach dem nächsten. Nicht nur, dass die Zeit im 18. Jahrhundert stehen geblieben zu sein scheint -- jegliche Technologie und Innovation wird strickt abgelehnt und die ortsübliche Mode orientliert sich am Biedermeier und dessen Vorläufern -- seltsame Rituale bestimmen dort den Ablauf der Zeit. Es fehlt in Perle jegliches Ziel und so gerät das Leben trotz allem anfänglichen Überflusses schnell zu einem Albtraum.

Der Roman wird nun immer surrealistischer, unheimlicher, düsterer und scheint dem Erzähler fast gänzlich zu entgleiten, wobei die Grenzen zwischen Realität und Traum in einem beständigen Fluss zu liegen scheinen. Viele Figuren dort mögen nur unterschiedliche Facetten des Erzählers selbst zu sein, die miteinander im Widerstreit liegen, so etwa das "Über-Ich" Patera und dessen Widerpart Hercules Bell, die sich beide einen erbitterten Machtkampf liefern, der schließlich in einer Apokalypse endet. Stellenweise kommt man sich vor wie in einem nicht enden wollenden Drogenrausch. Die Gestalten des Traumlandes geraten mehr und mehr zu Schattenbildern aus den Visionen und Albträumen eines Hieronymus Bosch...

Wirklich, ein düsteres Stück von einem Roman und ich bin, was das Werk angeht, etwas zwiegespalten. Ansich habe ich ja eine besondere Vorliebe für phantastische und unheimliche Literatur, aber im zweiten Teil wird Kubins einziger Roman zuweilen sehr anstrengend, da ihm - beabsichtigt oder nicht - die Kohärenz seines Werks aus dem Ruder zu laufen beginnt. Dies spiegelt natürlich auch die im Werk selbst beschriebene Auflösung des Kubin'schen Traumreichs wider und scheint daher beabsichtigt. Sehr schön wird dies in der Rezension von Hartmut Ernst zusammengefasst:
"Die Sehnsucht nach einer starken, festen Kraft, die das Leben einheitlich und geschlossen organisiert, endet im Zusammenbruch, in der Ruine dessen, was der Erzähler selbst ständig ironisch reflektiert: der menschlichen Natur. Zerbrochen in Trümmern steht zuletzt der Traum einer wenn nicht besseren, so doch zumindest ganz anderen Welt, die den Schein einer Alternative anbieten sollte."

Fazit: Ein ungewöhnliches Stück Literatur für Liebhaber des Unheimlichen und Phantastischen mit stark psychologisch, philosophischer Prägung.

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