Donnerstag, 31. Dezember 2009

Literarisches Jahresend-Stöckchen

Das Jahresende ist eben doch immer wieder eine gute Gelegenheit ein Resumé zu ziehen, so auch über mein Lesejahr 2009. Und wie zu jeder Gelegenheit gibt es auf für diese das passende Stöckchen von BuchSaiten, das ich hier dazu aufgreifen möchte:

Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir wenig versprochen habe, das mich dann aber positiv überrascht hat? (und Begründung)


Ich wusste nicht genau, worauf ich mich bei diesem Buch einließ. Zwar prophezeite mir meine Liebste bereits, dass mir das Buch bestimmt gefallen würde, aber ich hatte so meine Zweifel. Aber Muriel Barberys "Die Eleganz des Igels" hat wirklich einen tiefen Eindruck in mir hinterlassen und es war eines der besten Bücher, die ich in diesem jahr gelesen (und rezensiert) habe.

Muriel Barbery gelingt mit der detailverliebten Darstellung ihrer Charaktere mit all ihren Ecken und Kanten sowie den zahlreichen Ausflügen in das Reich der Hochkultur und Philosophie ein wahres Meisterwerk!

Welches war das Buch in diesem Jahr, von dem ich mir viel versprochen habe, das mich dann aber negativ überrascht hat? (und Begründung)


Da hatte ich mir bei Michael Schneiders "Das Geheimnis des Cagliostro" einen spannenden historischen Roman mit zahlreichen dokumentarischen, historischen und bibliografischen Querverweisen erwartet und wurde dann doch aber nur mit mit einer durchschnittlich (platten) Geschichte abgespeist (siehe Rezension), deren historische Querverweise sich nur mit der Lupe suchen lassen und deren Charaktere aus einem Groschenroman stammen könnten. Es erscheinen aktuell eben viel zu viele dieser Pseudo-historischen Romane, die allesamt nicht an die großen Vorbilder ala Feuchtwanger, Umberto Eco oder Ranke-Graves heranreichen...


Welches war eure persönliche Autoren-Neuentdeckung in diesem Jahr und warum?

Ganz eindeutig Alberto Manguel. Auch wenn es sich dabei NUR um ein Sachbuch handelte, war ich doch während der kompletten Lektüre der "Geschichte des Lesens" von vorne bis hinten fasziniert von der unterhaltsamen aber doch exakten und liebevoll gestalteten sprachlichen Ausdrucksweise dieses "Königs der Leser", so dass ich es kaum erwarten kann, in Zukunft noch mehr von ihm zu lesen (siehe Rezension).

Natürlich muss ich hier auch noch einmal Muriel Barbery (siehe oben) erwähnen, deren Sprachgewalt (und das liegt mit Sicherheit auch vorallem an ihrem Übersetzer) mich sehr beeindruckt hat.


Welches war euer Lieblings-Cover in diesem Jahr und warum?


Katharina Hagena "Der Geschmack von Apfelkernen"...weil es einfach schön ist :)

Montag, 28. Dezember 2009

Kartenwahrheiten und wahre Wahrheiten - Reif Larsen: Die Karte meiner Träume


Natürlich waren es die Illustrationen, Karten und Zeichnungen, die dieses Buch auf den ersten Blick so ungewöhnlich wie auch interessant erscheinen ließen, auch wenn man erst ein wenig Zeit braucht, um sich an den holprigen Stil zu gewöhnen, da man immer wieder durch bildunterstützte Einschübe im Lesefluss unterbrochen wird, erweist sich Reif Larsons Roman am Ende doch als echter "Pageturner".

Obwohl ein Romandebut, brachte es Reif Larsens "The Selected Works of T.S. Spivet", wie "Die Karte meiner Träume" mit Originaltitel heißt, schon bereits vor seinem Erscheinen im Frühjahr 2009 in die Schlagzeilen, da Penguin Press Reif Larsen einen Vorschuss von fasst einer Million US-Dollar gezahlt haben soll, bevor zehn weitere Verlagshäuser in die entstandene Bieterschlacht um die künftigen Publikationsrechte eingestiegen sind...

Tecumseh "Sparrow" Spivet (kurz T.S.) ist 12 Jahre alt und ein begnadeter Kartograph. Er lebt zusammen mit seiner älteren Schwester Gracie (Girlie-Pop und Pink-umrandetes iBook), seinem wortkargen Rancher-Vater (Western-Videos und Billy-the-Kid Schrein im Wohnzimmer) und seiner akademischen Mutter Dr. Clair (verhinderte Käfer-Wissenschaftlerin, seit 20 Jahren auf der Suche nach einem "Phantom"-Käfer) auf einer kleinen Farm in Montana, also weitab der pulsierenden modernen Metropolen dieser Welt. Alles, was T.S. umgibt, angefangen von Alltagskleinigkeiten bis hin zu zu kartografisch-statistischen Großprojekten, alles verwandelt er dank seiner grafisch-wissenschaftlichen Begabung in Landkarten, die er in Bergen von Notizbüchern festhält und in diversen Bücherregalen geordnet archiviert. Dr. Yorn, ein Freund und Bekannter seiner Mutter unterstützt ihn bei seinen Projekten, die ihm - ohne das Wissen seiner Familie - bereits Veröffentlichungen in bekannten wissenschaftlichen Zeitschriften eingebracht haben. Zudem reicht er die Zeichnungen ohne T.S. Wissen bei einem Wettbewerb des berühmten Smithsonian Instituts ein, den er prompt gewinnt. Bei einem Anruf des Smithsonian gibt sich T.S. als Erwachsener aus und wird zur Gala-Veranstaltung nach Washington und als Gastwissenschaftler für ein Jahr an das Smithsonian Institut eingeladen.
"Wenn du nicht tust, was du tun kannst, dann tötest du einen Teil deiner selbst, und dieser Teil wird nicht wieder nachwachsen." (Seite 273)
Aber T.S. ist eben nur ein 12-jähriger kleiner Junge, zudem mit einem traumatischen Erlebnis belastet, das die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen hat. Sein jüngerer Bruder Layton ist in Folge eines gemeinsamen Experiments beim Überprüfen eines Gewehrs mit Ladehemmung ums Leben gekommen und T.S. fühlt sich dafür verantwortlich. Insbesondere scheint niemand in der ganzen Familie dem anderen tatsächlich zuzuhören oder mit dem anderen zu reden. So packt T.S. seinen Koffer mit den wichtigsten Kartographen-Utensilien und verlässt die elterliche Farm im Morgengrauen, um mit einem nahe an der Farm vorüberfahrenden Güterzug gleich einem Hobo die verwegene und abenteuerliche Reise quer durch die USA nach Washington anzutreten.
"Ich gehörte hier nicht hin. Ich wusste das schon lange...Ich passte nicht in dieses Land der Berge. Ich würde nach Washington gehen. Ich war Wissenschaftler, Kartograph, ich wurde dort gebraucht." (Seite 74)

In einem Notizbuch, das er seiner Mutter beim Abschied entwendet hat, findet er anstelle taxonomischer Untersuchungen über Käfer die Geschichte seiner Ur-Urgroßmutter Emma Englethorpe Spivet, promovierte Kartografin und eine der ersten Professorinnen der USA, die auf einer kartografischen Expedition in den Westen des Landes seinen Ur-Urgroßvater Tearho Spivet, einen finnischen Einwanderer kennen und lieben gelernt hatte. Auf seiner Reise lernt T.S. viel über sich und seine Familie, er passiert unbeschadet ein Wurmloch (vielleicht hat er das aber auch nur geträumt), erreicht trotz aller Hindernisse, Gefahren und Abenteuer Washington und wird tatsächlich Mitglied des sagenumwobenen Megatherium-Clubs des Smithsonian. Auch wenn ich das Ende der Geschichte hier noch nicht verraten möchte, sollte ich erwähnen, dass einige der oft überschwenglich positiven Kritiken auf dieses Erstlingswerk vor allen Dingen das Ende und die Auflösung des Romans kritisieren. Ein abschließendes Urteil darüber sollte man sich aber am besten doch selbst bilden.
"Eine Karte ist mehr als das (Punkte und Striche), sie verzeichnet nicht nur, sie erschließt und schafft Bedeutung, sie ist ein Brückenschlag zwischen hier und dort, zwischen scheinbar unvereinbaren Ideen, die wir nie zuvor im Zusammenhang gesehen haben." (Seite 163)
Dieses Buch kommt daher wie ein sorgsam illustriertes Roadmovie, das uns das Innenleben eines Wunderkinds vor Augen führt, dessen Familienleben etwas aus den Fugen geraten zu sein scheint. T.S. analytisch nüchterne Weltsicht erinnert mich stark an den autistischen Titelhelden Christopher Boone, der in Mark Haddons Roman "The Curious Incident of the Dog in the Night-time" die Aufklärung des Mords am Nachbarshund in Sherlock-Holmes-Manier aufnimmt und sich dabei ebenfalls auf eine für seine Verhältnisse mehr als große Reise begibt (die Rezension der Geschichte findet sich auch hier im Biblionomicon). Aber im Gegensatz zu Christopher Boone ist T.S. natürlich kein Autist. Seine wenigen, aber doch vorhandenen sozialen Kontakte beschränken sich aufgrund seiner beeindruckenden Fähigkeiten auf seinen wissenschaftlichen Ziehvater Dr. Yorn und in der Hauptsache auf seine Familienmitglieder. Selbst in Washington angekommen, wird er als 12-jähriges Wunderkind in den Medien herumgereicht und jeder möchte seine Popularität für eigene Zwecke nutzen. Einen wahren Freund zu finden ist schwerer als man denkt.


Was mich selbst etwas verwirrt hat, ist der seltsam anmutende und kaum vorhandene Umgang mit den neuen Medien, die zumindest im (natur- und ingenieurs-)wissenschaftlichen Leben seit Jahren schon präsent sind. Der Roman spielt in der Jetztzeit - auch wenn einigen kritischen Anmerkungen zum US-amerikanischen Staatsoberhaupt ("Der Präsident ist ein Scheißer", Seite 397) anzumerken ist, dass wir uns im Roman wohl eher unter der Bush-Administration befinden. Aber der Repräsentant des angesehenen Smithsonian Instituts hat anscheinend keinerlei Versuche gemacht, den Preisträger, den er für einen Lehrstuhlinhaber hält, im Internet zu recherchieren. Colleges und Universitäten besitzen Homepages, auf denen Informationen zum Lehr- und Forschungspersonal zu finden sind - und das schon seit Jahren. Auch scheint T.S. selbst keinerlei Neigung bzw. Zugang zum Internet zu besitzen, da es doch auch speziell für ihn eine ungeheuere Bereicherung seines wissenschaftlichen Horizonts mit einer Unmenge von Daten- und Kartenmaterial darstellen würde, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, seine eigenen Arbeiten zu veröffentlichen. Natürlich ist es wahrscheinlich, dass eine Farmerfamilie im mittleren Westen ohne Kabelfernsehanschluss auch nicht über einen Breitbandinternetanschluss zu Hause verfügt (so spielen T.S. und sein Bruder noch auf einem alten Apple IIGS Computerspiele...). Aber zumindest die wissenschaftlich arbeitende Mutter, die Schule oder aber Dr. Yorn als T.S. wissenschaftlicher Ziehvater sollten das Internet nutzen. Wahrscheinlicher ist es aber eher, dass der Autor selbst keine große Internet-Affinität besitzt. T.S. selbst mag das Arbeiten mit dem Computer nicht und zieht das Schöpferische und Gestaltende seiner zeichnerischen Begabung dem Programmieren vor, "...am Computer fühlte ich mich nur wie ein Handlanger", Seite 164. Aber abgesehen von dieser - in meinen Augen - kleinen Ungereimtheit, habe ich die Lektüre dieses ungewöhnlichen und abenteuerlich spannenden Romans sehr genossen!
"Mittelmäßigkeit ist eine Pilzkrankheit des Geistes...(Dr. Clair)" (Seite 354)
Fazit: Ein ungewöhnlich ausgestatteter Roman, der uns mitnimmt auf eine wunderbare Reise und uns unsere Welt aus einer altklug kindlichen Perspektive zeigt, in der eine nie versiegende Neugier steckt, die wir uns alle zu eigen machen sollten. Sicher wieder einmal nichts für jedermann, aber trotzdem LESEN!

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Mittwoch, 23. Dezember 2009

Ende gut, alles gut - Jane Austen "Emma"

Nein, um Jane Austens Romane zu lesen und zu lieben muss man nicht weiblichen Geschlechts oder gar schwul sein. Im Gegenteil eröffnen sie doch auch dem geneigten männlichen Leser ungeahnte Einblicke in die Lebenswelt des frühen 19. Jahrhunderts und lassen uns Teil haben an Lebens-, Liebes- und Beziehungsmüh einer lange untergegangenen Epoche, deren Nachwirkungen aber auch noch in unserer heutigen Zeit ihre Gültigkeit besitzen und vor allen Dingen eines tun: auf humorvoll ironische Weise zu unterhalten.

Als aller erstes war ich bereits vor Jahren begeistert, als ich Jane Austens "Stolz und Vorurteil" in die Hände bekam. Obwohl ich zuerst eine dröge Erzählung um 'verzweifelte Liebesmüh' erwartete, war ich schnell eines Besseren belehrt und Jane Austen errang in meinem Bücherregal einen bevorzugten Platz, den sie auch mit dem erst später gelesenen "Kloster Northanger" behaupten konnte (zugegebenermaßen hat das Frühwerk des "Klosters Northanger" - ebenfalls hier im biblionomicon besprochen - noch lange nicht das Format von "Stolz und Vorurteil", trägt aber bereits die typischen augenzwinkernden Züge Jane Austens). Aber kommen wir zu "Emma".
"Emma Woodhouse, hübsch, klug und reich, im Besitz eines gemütlichen Heims sowie einer glücklichen Veranlagung, vereinigte sichtlich einige der besten Gaben des Lebens auf sich. Sie war schon fast 21 Jahre auf der Welt, ohne je wirklich Schweres oder Beunruhigendes erlebt zu haben."
So startet der Roman mit der Vorstellung seiner Protagonistin, einer energischen jungen Frau, um die sich herum ein selbstverschuldetes Labyrinth aus Irrungen und Wirrungen um Liebe und Ehe entfaltet. Emma ist reichlich verwöhnt und überschätzt vor allem Ihre Menschenkenntnis verbunden mit der (Un-)Fähigkeit, Freunde und Bekannte mit dem ihrer Meinung nach passenden Gegenstück verkuppeln zu wollen. So mischt sie sich wiederholt in das Leben anderer ein, um prompt auch immer wieder Schiffbruch zu erleiden. Fehlinterpretationen und Missverständnisse sorgen immer wieder für vermeidbare Komplikationen sowohl in ihrem Leben als auch dem ihrer Freunde und Bekannten.

Emma lebt zusammen mit ihrem hypochondrischen Vater, der stets um jedes bisschen Zugluft besorgt ist und damit sich und anderen das Leben schwer macht. George Knightley ("Mr. Knightley"), der Freund und Nachbar ihres Vaters, ist der einzige, dessen Kritik sie akzeptiert und dessen väterliche Freundschaft sie ohne Vorbehalte genießt. Sein Bruder John Knightley ist mit Emmas älterer Schwester Isabella verheiratet und lebt mit seiner Familie in London, das mehr als eine Tagesreise entfernt liegt. Der Roman beginnt mit der Hochzeit von Miss Taylor, Emmas Freundin und früherer Gouvernante, von nun an Mrs. Weston. War es doch Emma, die ihrer Freundin den zukünftigen Gatten vorgestellt hatte, so lässt sie diese glückliche Vermittlung an ihre Fähigkeiten als "Ehestifterin" und Kupplerin glauben, die allerdings in Zukunft so ganz und gar nicht von Erfolg gekrönt sein werden.

Zahlreiche weitere Figuren werden von Jane Austen in liebevoller und detailverliebter Weise eingeführt, in deren Leben sich Emma früher oder später einmischen wird. Darunter auch ihre Freundin Harriet Smith, illegitimer Sproß eines reichen Kaufmanns, der sie fälschlicherweise einredet, dass der in sie verliebte Gentleman-Farmer Mr. Martin unter ihrer Würde und vor allen Dingen unter ihrem Stand wäre. Dann lernen wir noch Jane Fairfax kennen, die bei ihrer in ärmlichen Verhältnissen lebenden Tante Miss Bates lebt, und die noch zu Emmas vermeintlicher Rivalin werden soll, als es gilt die Gunst von Frank Churchill zu erwerben, dem Stiefsohn ihrer Freundin Mrs. Weston.

So entspinnt sich zwischen den liebevoll charakterisierten Figuren ein von Irrungen und Wirrungen getragener Reigen um Liebe und Ehe, bei dem sich aber dann doch wie bei Jane Austen üblich am Ende alles "zum Guten" wenden soll. Was das aber konkret heißt, das muss der geneigte Leser bzw. die geneigte Leserin am besten selbst herausfinden. Ich kann versprechen, dass dieser über 500 engbedruckte Seiten lange Roman stets unterhält, zum Schmunzeln anregt und stellenweise auch fesseln kann. Überwiegend bedient sich Jane Austen des Dialogs als treffendes Stilmittel ihrer Darstellung - auch wenn sich beim männlichen Leser dadurch vielleicht so manches Vorurteil über typisch "weibliche Geschwätzigkeit" bestätigt finden mag. Aber es ist ja auch gerade diese präzise funkelnde und geschliffene Sprache, die in den Dialogen zum Vorschein kommt, und die von der Übersetzerin Charlotte Gräfin von Klinkowstroem so wundervoll getroffen wurde. Sie verschaffen den Figuren auf subtile Weise feingliedrige und wohlüberlegte Ecken und Kanten und heben so den Roman auf das Niveau eines zeitlosen Klassikers und Meisterwerks. Auch die zeitgenössischen Illustrationen von Hugh Thompson, die einer Ausgabe von 1896 entnommen sind, unterstützen das Gefühl beim Leser, direkt in eine Epoche entführt zu werden, die ihm in ungewohnt plastischer und lebendiger Weise vor Augen geführt wird - auch wenn es sich "nur" um die (heile) Welt des damaligen englischen (Groß-)bürgertums handelt.

Interessant ist in diesem Roman Jane Austens auch, dass Emma im Gegensatz zu den Hauptfiguren von "Stolz und Vorurteil" oder "Verstand und Gefühl" von Anfang an keinerlei Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft haben muss. Dies ist auch der Grund dafür, warum sie eigentlich niemals heiraten möchte. Jane Fairfax als Nebenfigur dagegen folgt der für Austen üblichen Konstellation, da sie keinerlei Mittel besitzt und ihre Zukunft für sie entweder eine Anstellung als Gouvernante und Lehrerin bzw. eine finanziell aussichtsreiche Heirat vorsehen muss. Ebenfalls ungewöhnlich für Jane Austens Figuren ist es, dass sich bei Emma kaum romantische Gefühle breit machen - zumindest nicht bis Seite 484. Natürlich erkennt Emma, wenn auch spät, dass man sich nicht immer in das Liebesleben von Freunden und Bekannten einmischen sollte, insbesondere, wenn es einem an eigener Erfahrung darin mangelt.
"Sie hatte in ihrer unerträglichen Eitelkeit geglaubt, jedermanns geheimste Gefühle zu kennen, mit unverzeihlichem Hochmut versucht, die Geschicke anderer zu lenken. Es war klar geworden, daß sie sich rundum getäuscht, und nicht etwa nichts getan, sondern auch noch Schaden angerichtet hatte..."
Fazit: Die passende Lektüre für die Feiertage. Einfach abtauchen in Jane Austens Fabelwelt des frühen 19. Jahrhunderts und den Reigen der Gefühle miterleben, die stets auf ein wohliges und angenehmes Ende hoffen lassen. Eine sprachliche Pretiose, sicherlich nicht jedermanns Geschmack, aber auf alle Fälle etwas ganz besonderes.

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Sonntag, 6. Dezember 2009

Spätmittelalterliche Fortsetzungs-Soap - Ken Follet "Die Tore der Welt"

Eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob ich das Buch überhaupt lesen sollte, aber nachdem es schon einmal im Bücherschrank meiner Mutter stand, beschloss ich doch nicht erst auf meinen Buchwunschzettel zu warten und habe mir kurzerhand den 1300 Seiten starken "Schmöker" ausgeliehen…

Zuerst einmal ist Ken Follets "Die Tore der Welt" ein ziemlich dickes Buch. Dies sollte aber niemanden abschrecken, denn trotzdem ich kaum Zeit zum Lesen hatte (wenn überhaupt, dann aktuell nur abends im Bett) kam ich in gut 3 Wochen locker durch. Aber lassen wir die technischen Details erst einmal bei Seite und konzentrieren wir uns auf den Inhalt...

Den Rahmen der Geschichte bildet wie im ersten Band "Die Säulen der Erde" die kleine Stadt Kingsbridge mit ihrem Kloster und der von Jack Builder, dem Protagonisten des ersten Bandes, erbauten Kathedrale. Seither sind fast 200 Jahre vergangen. Wieder treffen wir in den 'Toren der Welt' auf eine zumindest als sehr ähnliche zu bezeichnende Personenkonstellation: da haben wir die verarmte adelige Familie, deren Familienbande zurück bis zu Jack Builder reichen. Die Familie verliert aufgrund der Schuldenlast ihren Grundbesitz und wird zu "Mundlingen" der Priorei zu Kingsbridge. Während der jüngere Bruder Ralph, der im Folgenden die Rolle des arttypischen "Bad Guy" übernehmen wird, als Knappe zum Grafen von Shiring geschickt wird, um das Kriegshandwerk zu erlernen und zum Ritter ausgebildet zu werden, kommt der ältere Bruder Merthin (a.k.a. "Mr. Right") zu einem Zimmermann in die Lehre, um das Bauhandwerk zu erlernen.
Dann haben wir noch Caris, die Tochter eines reichen Wollhändlers und Ratsvorsitzenden aus Kingsbridge, die bereits als Kind mit Merthin Freundschaft schließt, sowie ihre Freundin Gwenda, Tochter eines armen Tunichtguts, der es sogar fertigbringt, seine Tochter aus reiner Profitgier an den Nächstbesten zu verkaufen.
Alle 4 werden als Kinder Zeuge eines Zwischenfalls im Wald nahe der Stadt, in der Thomas Langley, ein Ritter der Königin Isabella von zwei Bewaffneten gestellt wird und diese erschlägt. Während die anderen das Weite suchen können, bleibt Merthin zurück, hilft Langley gezwungenermaßen die Spuren zu verwischen und wird Zeuge, wie dieser einen Brief, der augenscheinlich die Ursache für seine Verfolgung war, im Wald vergräbt. Niemals darf Merthin dieses Geheimnis verraten, wenn ihm sein Leben lieb ist.

Die Zeit vergeht, Thomas Langley wird Mönch im Kloster von Kingsbridge und Merthin übereifriger Lehrling des stümperhaften Baumeisters Elfric, einem Günstling des erzkonservativen Priors Anthony. Wir lernen Caris' Cousin Godwyn kennen, der nach seinem Noviziat im Kloster zum Medizinstudium nach Oxford geschickt wird und nach seiner Rückkehr große Ambitionen auf den Posten des Priors hat, und der in dieser Position noch konservativer und verbissener als sein Vorgänger Anthony werden soll.

Werfen wir noch einen kurzen Blick die Frauen der Geschichte. Caris entwickelt Interesse an der Heilkunst. Natürlich sind ihr als Frau die Tore der Universität und eine Laufbahn als Arzt verwehrt, und was heilkundigen Frauen im Mittelalter oft blühte, wissen wir nur allzu genau. Gwenda liebt Wulfric, der aber in die attraktive Annette verschossen ist. Wulfric schlägt Ralph (dem Bad Guy) die Nase ein, weil dieser Annette auf dem Markt in Kingsbridge ein wenig zu tief in die Augen gesehen hat - und eine lebenslange Feindschaft nimmt ihren Lauf…

Den ganzen Rest dieser schier endlosen Geschichte erzählen zu wollen würde natürlich nicht nur den Rahmen des Blogeintrags sprengen, sondern auch einen Großteil des Lesevergnügens vorwegnehmen. Alles in allem zählt das Buch eher zur "leichtverdaulichen Kost". Die Charaktere haben kaum Spielraum zur Entwicklung von Ecken und Kanten. So kann man sich stets darauf verlassen, dass der Gute immer gut, der Böse aber auch immer böse ist. Persönlich ist mir das etwas zu einfach gestrickt, aber es geht bei diesem historischen Roman auch nicht um charakterliche Tiefgründe, sondern eher um eine actionreiche Handlung. Wieder stoßen wir auf dieselben Konflikte, die wir schon im Vorgängerband kennengelernt hatten. Der Graf von Shiring (böse…genauso wie sein Nachfolger), der Prior des Klosters (böse…genau wie sein Nachfolger und ebenfalls wieder dessen Nachfolger), während Merthin, Caris, Glenda und Wulfric stets das "gute" Personal darstellen. Es wird gegeneinander intrigiert und gestritten. Tumbe, mittelalterliche Klostermediziner streiten gegen durch Erfahrung kluge, heilkundige Nonnen, und am Ende hat die Kathedrale einen neuen Turm und die Stadt neben einer neuen Brücke auch noch diverse Hospitäler. Die sind auch bitter notwendig, denn die Pest kommt nach Kingsbridge und hält das ganze Land über weite Strecken des Romans in ihren tödlichen Klauen. Übrigens stets eine gute Gelegenheit, Personal auszutauschen, um den Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, einige Knoten der Handlung auf weniger drastische, aber sicherlich anstrengendere Weise aufzulösen.

Der historische Kolorit ist ebenfalls leichtverdaulich, geschichtliche Hintergründe werden auf ein notwendiges, aber für meinen Geschmack nicht wirklich hinreichendes Minimum reduziert. Ein Follet ist eben kein Eco (wobei letzterer, wie mir ein Historikerkollege einmal erzählte, zu jeder Gelegenheit gerne auch als Primadonna behandelt werden möchte). Aber diesen Anspruch hat Herr Follet bestimmt auch nicht, verkauft sich das Buch doch trotzdem bzw. wahrscheinlich genau deswegen großartig. Alles in allem war es für mich eine willkommene, leicht und unbeschwert zu lesende Abwechslung, der ich dank zahlreicher Cliffhanger viele spannende Abende verdanke. Doch über eine Sache habe ich mich doch öfters ärgern müssen. Den Figuren werden manchmal Gedankengänge in den Kopf gelegt, die wirklich nicht ins 14. Jahrhundert passen, sondern deutlich von Aufklärung, Feminismus und Emanzipation geprägt sind. Zwar ist es nicht gänzlich unmöglich, dass ein Mensch des Mittelalters in dieser Weise gedacht haben soll, aber eben doch sehr, sehr, sehr unwahrscheinlich...

Fazit: kurzweilige Unterhaltung mit einem Minimum an zeithistorischen Kolorit, dafür ganz viel Liebe, Tragik und Intrigen. Für den Urlaub, den Strand oder einfach zum Entspannen gut geeignet hält es einer kritischen Betrachtung jedoch kaum stand.

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Sonntag, 29. November 2009

Die einzige Beständigkeit liegt im Wandel - wie schaffe ich mehr Platz in meinem Bücherregal

Das hier ist also das gute Stück, um das es im heutigen Beitrag geht. Natürlich geht es nicht um das Regal, sondern vielmehr um dessen Inhalt: mehr als 450 antiquarische und z.T. neuwertige (gelesene und auch ungelesene) Bücher, startend mit den ältesten erschienen um 1880 bis hin zu aktuellen Ausgaben. Da der Platz für andere, sich immer noch stapelnde Bücher dringend benötigt wird und da die betreffenden Bücher auch einen gewissen Wert repräsentieren, habe ich mich entschlossen, sie alle (einzeln) bei booklooker.de zum Verkauf anzubieten. Bei den Preisen habe ich mich in der Regel an den günstigsten Angeboten bei ZVAB orientiert und bin meist noch ein Stückchen darunter gegangen.

Und da ich die Bücher auch zügig verkaufen möchte, mache ich hier im biblionomicon ein wenig Werbung dafür, d.h. jeder, der eines der Bücher, die ich bei booklooker eingestellt habe, kaufen möchte, erhält per se schon einmal generelle 10% Rabatt auf den bei booklooker ausgewiesenen Preis (Hinweis bzw. Anfrage via E-Mail reicht aus).

Da man trotz der Größe des Fotos natürlich nicht allzuviel erkennen kann, hier einige thematisch zusammengestellte Angebotslisten aus booklooker:

Samstag, 21. November 2009

Der weite Weg zur Bibliothek 2.0... - Uwe Jochums 'Kleine Bibliotheksgeschichte'

Bibliotheken haben mich schon immer fasziniert. Angefangen von unserer kleinen Kirchengemeindenbücherei, in der ich bereits als ABC-Schütze zum Stammkunden wurde über diverse Universitätsbibliotheken während des Studiums bis hin zu den klassischen Kathedralen des Wissens. Im Zuge der Recherchen für mein Buch 'Digitale Kommunikation', das sich zum Thema Mediengeschichte auch einen kleinen Abstecher in die Bibliotheksgeschichte leistet, bin ich auch auf Uwe Jochums 'Kleine Bibliotheksgeschichte' gestoßen.

Bereits 1993 erschien Uwe Jochums 'Kleine Bibliotheksgeschichte', die heute in der 3. verbesserten und erweiterten Auflage vorliegt. In unterhaltsamer Weise führt uns Jochum entlang einer Reise durch mehr als 30.000 Jahre Geschichte. Beginnend mit den ersten Felszeichnungen und den Ursprüngen der Zivilisation, über die Reiche des Altertums hinein ins christliche Mittelalter, weiter zu Renaissance, Barock, Klassik und Moderne. Wir hören von der ersten nachgewiesenen Bibliothek des assyrischen Herrschers Assurbanipal in Ninive aus dem 7. vorchristlichen Jahrhundert mit ihren 5.000 - 10.000 in Keilschrift verfassten Tontafeln. Weiter führt uns Jochum die herausragende Stellung der altägyptischen Schreiber vor Augen und erzählt von der noch viel älteren Bibliothek des Ramesseums, des Grabmals des ägyptischen Pharaos Ramses des Großen, von der wir nur durch den Bericht des römischen Geschichtsschreibers Diodor Siculus wissen, die aber bis heute noch nicht eindeutig lokalisiert werden konnte.

Natürlich wird auch die Geschichte der bedeutendsten Bibliothek des gesamten Altertums erzählt, der großen Bibliothek von Alexandria, über deren Bestände und vor allem über ihren Niedergang sich zahlreiche Legenden ranken. Fakt ist, die alexandrinische Bibliothek hat das Altertum nicht überlebt. Ihre Bestände sind wahrscheinlich durch Brände und Kriege verloren gegangen und nur ein geringer Bestand der Literatur des Altertums konnte durch das beflissentliche Kopieren und Bewahren durch die christlichen Mönchsorden bis in unsere Zeit gerettet werden.

Humanismus und Renaissance bringen die antiken Autoren wieder ans Licht, die barocke "Sammelleidenschaft" lässt zahlreiche großartige Privatbibliotheken entstehen. Insbesondere die Erfindung des Buchdrucks sorgt für eine vormals kaum möglich gehaltene Menge an Büchern und führt geradezu zu einer Explosion der Vielfalt. Wir erleben die ersten Schritte zum Aufbau von Nationalbibliotheken, den Abschied von der Universalbibliothek und den Weg zur öffentlichen Bibliothek. Über das 19. Jahrhundert hinweg führt uns Jochum in das Zeitalter der modernen Informationsverarbeitung hin zu hybriden Bibliotheken und dem World Wide Web.

Wunderbar ist vor allem die knapp 30-Seitige Bibliografie am Ende des Buches und die vielen, im Text vorhandenen bibliografischen Referenzen, die dieses kleine Buch so nützlich machen. Eine nützliche Ergänzung wären noch Fotografien und Illustrationen gewesen, aber diese findet man in Jochums neuer "Geschichte der abendländischen Bibliotheken", die als gebundene Ausgabe gegenüber dem kleinen Reclam-Bändchen natürlich auch entsprechend teurer geraten ist.

Leider sind die aktuellen Themen Web 2.0 in Bibliotheken, Blogs, Wikis, Twitter & Co. noch nicht Bestandteil der 'Bibliotheksgeschichte', so auch nicht in diesem Buch. Dennoch sollte man die Bedeutung dieser neuen informations- und kommunikationstechnischen Möglichkeiten vor allem für die Bibliotheken nicht unterschätzen, sei es zur Informationsweitergabe und Selbstdarstellung, zur Erschließung und Kategorisierung der Bestände, zum Aufbau von und Interaktion in sozialen Netzwerken und darauf basierender, intelligenter Such- und Empfehlungsmechanismen. Es ist eben noch ein weiter Weg, bis dieser Bereich sich etabliert und damit Aufnahme in eine Bibliotheksgeschichte findet. Aber es bleibt ja stets Raum für eine weitere, erweiterte Neuauflage...

Fazit: Auch ohne mein vorhandenes berufliches Interesse kann ich diese kleine Bibliotheksgeschichte reinen Gewissens allen empfehlen, die eine Liebe zu Büchern entwickelt haben und sich über die Ursprünge und Geschichte unserer Lesekultur fundiert, aber doch unterhaltsam informieren wollen.

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Sonntag, 15. November 2009

Und nun einmal etwas ganz anderes... Katharina Hagena 'Der Geschmack von Apfelkernen'

Gab es hier im Blog zuletzt noch Science Fiction Klassiker, Literaturnobelpreisträger und ähnliches, kommt heute einmal etwas ganz anders daher, das sich in meine Leseliste geschlichen hat. Eine Familiengeheimnis-, Lebenskrisen- und Vergangenheitsbewältigungskiste, die aber überrascht und die es verstand, selbst einen Lesesnob wie mich in ihren Bann zu schlagen...und das nicht nur wegen des wunderschönen Einbands.

Die Geschichte an sich ist auf den ersten Blick sogar etwas dünn. Bertha stirbt, und ihre Enkelin Iris erbt das Haus der einst großen Familie irgendwo in einer norddeutschen Kleinstadt, in dem Iris und ihre Cousine Rosemarie ihre Kindertage verbrachten. Das Haus steht inzwischen leer, der Garten ist verwildert, und Iris entschließt sich, für einige Zeit nach der Beerdigung ihrer Großmutter in dem Haus zu bleiben, um zu entscheiden, was sie mit ihrem Erbe anfangen soll. So startet ein Trip in die Vergangenheit der Familie und der Leser wird Zeuge, wie sich Iris' Erinnerungen Bruchstück für Bruchstück mit der noch im dunklen liegenden Geschichte ihrer Großmutter Bertha, ihres Großvaters, ihrer drei Tanten und ihrer Cousine zu einem allmählich sich herausbildenden Ganzen zusammensetzen.

Dabei herrscht eine Art magischer Aura über dem Haus, so dass einschneidende Ereignisse und Gefühlsausbrüche stets mit "kleinen Wundern" einhergehen, bei dem die Apfelblüte zweimal im Jahr kommt, Äpfel über Nacht reif werden oder aus roten Johannisbeeren mit einem Mal Weiße werden, aus denen eine Marmelade mit dem wunderbaren Namen "konservierte Tränen" eingekocht wird. Mehr und mehr Unerwartetes kommt im Laufe der Zeit ans Licht, die Iris in dem alten Haus am Ort ihrer Kindheit verbringt. Genau wie die Großmutter Bertha nach einem Sturz mehr und mehr ihr Gedächtnis verloren hat, kommen Iris die Erinnerungen an ihre Kindheit und an den Unfall ihrer Cousine Rosemarie zurück, hinter dem ein trauriges Geheimnis steckt.
"Schon immer begannen die Bewegungen des Schicksals - auch in unserer Familie - mit einem Sturz. Und mit einem Apfel..."
Bittersüß ist diese nur knapp 250 Seiten kurze Geschichte und Katharina Hagena bietet in ihrem Roman "Der Geschmack von Apfelkernen" ein wahres Feuerwerk an Geruchs-, Geschmacks und anderen Sinneseindrücken, die der geneigte Leser nachempfinden darf. Erinnern und Vergessen sind ein weiteres wichtiges Thema, das sich durch die Geschichte dreier Generationen von Frauen hindurchzieht. Erinnerungen sind immer auch an Sinneseindrücke gebunden. Wir fühlen, hören, sehen, schmecken und riechen die Welt unserer Wahrnehmung und können diese Sinneseindrücke in unserer Erinnerung abrufen. So sind wir in der Lage, uns wieder und wieder in eine längst vergangene Situation hineinzuversetzen. So ist auch dieses Erstlingswerk der Autorin nichts anderes als eine große "Nostalgie", eine manchmal "wehmütige Hinwendung zu vergangenen Zeiten, die in der Erinnerung oftmals idealisiert und verklärt" werden kann.

Fazit: Eine generationenübergreifende, abwechslungsreiche Familiengeschichte, spannend, eindrücklich und bittersüß erzählt. LESEN!

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Freitag, 6. November 2009

Der Name der Rose trifft Mad Max - Walter M. Miller Jr. "Lobgesang auf Leibowitz"

Heiliger Leibowitz, hilf! Sankt Leibowitz könnte -- so er denn existieren würde -- auch recht gut als Apostel für uns Informations- und Wissensarbeiter herhalten. So bildet er den Dreh- und Angelpunkt des stilbildenden, post-apokalyptischen Science Fiction-Klassikers, den ich heute vorstellen möchte. Manch ein Kritiker meint, es würde sich dabei um einen der besten des gesamten Genres handeln...

Die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen, endete im 20. Jahrhundert mit einem verheerenden nuklearen Krieg. Die "Flammenflut" wütete über die Erde und die Überlebenden der Katastrophe wandten sich in ihrem Hass und ihrer Verzweiflung gegen alle Technologie und diejenigen, in denen sie die Helfer und Verantwortlichen dieser Technologie sahen -- und dazu zählten sogar alle diejenigen, die des Lesens und Schreibens mächtig waren. Ein Bilder- und Büchersturm -- die große "Vereinfachung" oder "Simplifikation" -- vernichtete auch noch die letzten Reste der Zivilisation und des technologischen Wissens der Menschheit. Übrig blieben nur noch die "Simpel" ... und ein kleiner albertinischer Mönchsorden, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Reste des menschlichen Wissens, Bücher und technische Papiere zu retten und für zukünftige Generationen zu bewahren.

Isaac Edward Leibowitz, ursprünglich ein jüdischer Ingenieur, konvertierte nach der "Flammenflut" zum Katholizismus und gründete den später nach ihm benannten "Orden des Leibowitz", dessen Aufgabe darin bestand, die noch übrig gebliebenen Bücher aufzuspüren, an einen sicheren Ort zu schmuggeln, sie auswendig zu lernen und durch Abschreiben vor dem Verfall und dem Vergessen zu bewahren. Auf dieser Grundlage erzählt Walter M. Millers Roman "Lobgesang auf Leibowitz" (Original: A Canticle for Leibowitz) in drei sich über mehr als 1000 Jahre erstreckenden Episoden die Geschichte des Ordens und der neu entstehenden Zivilisation.

Fiat Homo
Die erste Episode spielt etwa 600 Jahre nach der großen Vereinfachung. Bruder Gerard Francis, ein Novize des Ordens des (noch nicht) heiligen Leibowitz, fastet in der Wüste und trifft auf einen seltsamen alten Pilger, mit dessen Hilfe er einen verschütteten Bunker aus der Zeit der Katastrophe entdeckt. Darin finden sich originale Schriftstücke des Ordensgründers, dessen Kanonisierung bereits im Gange ist und die wir mit Bruder Francis miterleben dürfen.

Fiat Lux
Gut 1100 Jahre nach der Katastrophe treffen wir wieder auf den Orden des heiligen Leibowitz. Wie schon seit Jahrhunderten bewahren die Mönche immer noch Fragmente des von ihnen nicht oder nur halbverstandenen technologischen Wissens. Das dunkle Zeitalter geht zu Ende und eine neue Renaissance bricht an. Die Mönche machen erste zaghafte Versuche mit der Entdeckung der Elektrizität und die Stämme und Völkerschaften rund um das Kloster kämpfen um die Hegemonie auf dem amerikanischen Kontinent. Ein (weltlicher) Gelehrter kommt in das Kloster, um die "Memorabilien" des verschollenen Zeitalters zu sichten und ist sichtlich frustriert von der Aussicht eines bloßen "Wiederentdeckens". Wieder tritt ein (jüdischer) Eremit -- ein Freund des Abtes -- auf, wie der Pilger aus dem ersten Teil eine Anspielung auf die Figur des "ewigen Juden" Ahasverus, die auch im dritten Teil auftaucht.
"Die Mönche warteten. Es war für sie ohne jede Bedeutung, dass das Wissen, welches sie bewahrten, nutzlos war, dass jetzt das meiste davon nicht eigentlich Wissen genannt werden konnte und in gewissen Fällen den Mönchen genauso rätselhaft war, wie es einem unwissenden jungen Wilden hinter den Bergen sein musste. Dieses Wissen hatte seinen Inhalt verloren, weil sein materieller Gegenstand längst nicht mehr existierte..."
Fiat Voluntas tua
1700 Jahre nach der großen Vereinfachung hat die Welt wieder denselben (oder gar noch fortgeschritteneren) Zustand erreicht, den sie zuvor hatte. Der Orden des heiligen Leibowitz existiert noch immer. Seit über 50 Jahren herrscht schon ein kalter Krieg zwischen den Großmächten, der droht "heiß" zu werden. In der Dämmerung eines erneuten Atomkrieges schicken sich die Ordensbrüder an, das einst verlorene Wissen der Menschheit für die große Reise zu den Sternen zu sichern, wo sie ihre heilige Mission des Bewahrens geflissentlich fortsetzen werden...

Alleine schon die Idee, die mittelalterliche Klostertradition der Bewahrung des antiken Wissensschatzes, der Klosterbibliotheken und Skriptorien, in einer post-apokalyptischen Zeit fortzusetzen, hatte mich schon lange auf dieses 1960 erschienene Buch neugierig gemacht. Schade nur, dass auch die Neuauflage schon wieder seit einigen Jahren vergriffen ist, so dass man auf das Antiquariat oder die englische Originalausgabe angewiesen ist. Aber das Warten hat sich gelohnt. Walter N. Miller hat ein solides Stück Literatur geschaffen, das in der kurzlebigen Welt der Science Fiction noch lange seinen Platz behaupten wird. Seine Figuren sind von feiner Hand herausgearbeitet und haben ihre Ecken und Kanten, so dass sie nicht so leicht in eines der vielen Genre-eigenen Schemata hineinpassen. Die episodische Sicht auf diese Zivilisationsgeschichte verdankt ihren Ursprung der Tatsache, dass die einzelnen Episoden zunächst als Kurzgeschichten veröffentlicht worden waren und von Miller anschließend überarbeitet und in einem gemeinsamen Rahmen zusammengefasst wurden. Auch nach gut 50 Jahren hat das Buch nichts von seiner ständig spürbaren Beklommenheit verloren und beeindruckt nachhaltig, insbesondere die letzte Episode, in der sich eine geradezu körperlich spürbare Beklemmung breitmacht, wenn die ersten Opfer der radioaktiven Katastrophe und die Arbeit des regierungseigenen Euthanasiedienstes geschildert werden.
"Das Angesicht Luzifers erhob sich in pilzförmiger Hässlichkeit über der Wolkenbank, wuchs langsam in die Höhe wie ein Titan, der nach Jahren der Einkerkerung in den Tiefen der Erde nun auf die Füße klettert..."
Fazit: Ein Stück große Literatur, auch wenn das Genre nicht allen gefallen wird. Aber die Idee ist originell, die Thematik regt zum Nachdenken an und letztendlich blickt Miller auch ab und an mit einem lächelnden Auge auf seine Ordensbrüder. LESEN!

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Montag, 26. Oktober 2009

Heinrich Böll - Die verlorene Ehre der Katharina Blum...

...oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Über 35 Jahre ist es jetzt schon her, dass Heinrich Bölls bekannte große Erzählung erschienen ist. Ja, sie ist etwas in die Jahre gekommen, zumindest was die skandalösen Praktiken und die Polithetze der darin beschriebenen Boulevardzeitung angeht. Irgendwie sind wir das ja heute von der BILD-Zeitung schon gewöhnt bzw. es existiert sogar schon eine Art Erwartungshaltung den Boulevardmedien gegenüber, so dass einen heute wohl gar nichts mehr überrascht.

Die Stellung der BILD-Zeitung in Deutschland ist nach wie vor eine ungebrochene unter den Printmedien, sieht man einmal von deren generellem Niedergang ab sowie vom kometenhaften Aufstieg der Boulevard- und Skandalmagazine im Fernsehen (und dort nicht einmal mehr nur im 'Privaten'). Heinrich Böll schildert in seiner Erzählung, die vielen noch aus der Schulzeit bekannt sein wird, wie eine unbescholtene Frau in den Brennpunkt der Zielscheibe einer Boulevardzeitung, genannt 'die ZEITUNG' gerät. Die geschiedene Haushälterin Katharina Blum besorgt den Haushalt des wohlsituierten Anwaltsehepaares Blorna. Auf einer Karnevalsparty lernt die hübsche Katharina einen Mann kennen und verliebt sich in ihn. Doch nach einer ersten Liebesnacht steht bereits das Überfallkommando der Polizei vor der Türe ihrer kleinen Eigentumswohnung. Doch die Polizei geht leer aus. Der Mann namens "Götten" war - ohne dass Katharina davon wusste - ein gesuchter Schwerverbrecher. Allerdings relativiert sich auch dieser Fakt im Laufe der Ermittlungen und des Romans, stellt er sich doch vielmehr als ein Bundeswehrdeserteur heraus, der mit dem Wehrsold der Kompanie durchgebrannt ist.

Katharina gelang es, Götten unbemerkt aus dem Haus zu schmuggeln. Von jetzt an steht sie im Zentrum der Ermittlungen und der Berichterstattung der Boulevardpresse, die systematischen Rufmord begeht und vor keiner Niedertracht zu Gunsten der Sensationsberichterstattung zurückschreckt. So wird aus der braven Haushälterin die "Ganovenbraut", deren Moral und Tugend in den Schmutz getreten wird. Doch beginnt der Roman schon eigentlich mit dem Ende, da bereits im ersten Kapitel erzählt wird, das Katharina den verantwortlichen Reporter der 'ZEITUNG' in unerwarteter Gegenwehr erschießt.
"Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der "Bild"-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich."
Böll ist wirklich ein großer Erzähler. Die ganze Geschichte durchzieht neben allem geschilderten Ernst der Sachlage ein feiner geradezu zärtlicher, satirischer Tonfall. Aus der Rücksicht heraus wird die Geschichte durch den Anwalt Blorna geschildert, dessen Karriere ebenfalls durch die ZEITUNG beendet wurde, und der die Vorgänge in herrlich indirekter Rede schildert. Man fühlt sich in die Zeit der späten 1960er und frühen 1970er zurückversetzt, in der man noch ein Hauch des deutschen Wirtschaftswunder spürt, aber schon eine neue Generation herangewachsen ist, die sich mit den alten Maßstäben nicht mehr so einfach fassen lässt.

FAZIT: Ein kurzweiliges Stück Literaturgeschichte, das die Macht der Medien und die Ohnmacht der gesellschaftlichen Vernunft seziert und dokumentiert. Auch heute noch allemal lesenswert!

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Sonntag, 18. Oktober 2009

Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane

Über die wunderschönen Taschenbändchen der Sammlung Dieterich hatte ich hier im Biblionomicon ja bereits schon einmal geschrieben, als ich einen Band englischer Kurzgeschichten besprochen hatte. Ein glücklicher Zufall (genauer genommen eine Ebay-Auktion) hatte mir nun den vorliegenden Band US-amerikanischer Kurzgeschichten in die Hände gespielt, die ich in den vergangenen Wochen teils mit großer Freude gelesen habe.

Erschienen in der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig ist dieses Bändchen mit dem Titel "Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane" im Jahr 1957, also vor über 50 Jahren. Auch wenn das Papier schon ein wenig vergilbt ist, war dieser schön ausgestattete Leinenband mit Goldschnitt auf dem Buchdeckel, Lesebändchen und Farbkopfschnitt doch hervorragend erhalten - sieht man einmal von dem fehlenden Schutzumschlag ab. Er umfasst 23 Kurzgeschichten, angefangen von Washington Irving (1783-1859), also den Anfängen der amerikanischen Literatur bis hin zu Stephen Crane (1871-1900), dem Wegbereiter Hemingways und der modernen Short Story.

Die 23 Kurzgeschichten stehen natürlich nicht ohne Einleitung, in der Martin Schulze die Geschichte der amerikanischen Literatur im Allgemeinen und der Kurzgeschichte als spezieller US-amerikanischer Erzählform im Besonderen abhandelt. Interessante Beobachtung am Rande für mich war, dass es einige Zeit dauerte - defacto bis in die 1820er Jahre, fast 50 Jahre nach der US-amerikanischen Revolution und den Freiheitskriegen - bis mit Vertretern wie Washington Irving überhaupt von einer amerikanischen Literatur die Rede sein konnte. Die Ursache hierfür liegt nicht nur in den wilden Pionierjahren der Republik begründet. VIelmehr setzten US-amerikanische Verleger zunächst auf die Publikation bereits etablierter englischer Literatur. Waren doch damals Urheberrecht und Tantiemen für die Autoren eher noch Fremdworte. Verkaufte sich ein Werk im alten Europa gut, dann lag der Schluss nahe, dass dies auch in den USA gelingen würde. Also wurde es schlichtweg in entsprechender Auflage kopiert. Das verlegerische Risiko war wesentlich geringer, als einen unbekannten US-amerikanischen Autor zu publizieren, bei dem nicht klar war, ob er gekauft werden würde.
"Nach der Vorstellung vieler Europäer hätten die Amerikaner, deren Leben unter der Devise "Zeit ist Geld" steht, keine Zeit, "dicke Bücher" zu lesen. Ja, es gibt sogar in Amerika Stimmen, die diese Ansicht teilen..."
Die Kurzgeschichte hat ihren Ursprung im Publikationsmedium der Zeitung. Die dort abgedruckte Literatur bedeutete geringes verlegerisches Risiko und der Autor musste schnell "zur Sache kommen", da ihm ja nur wenig Platz blieb. So starteten die meisten amerikanischen Autoren ihren Werdegang über die Kurzgeschichte. Natürlich legt die Kurzform auch den novellenartigen Charakter der Erzählungen rund um ein "unerhörtes Ereignis" nahe. Stark von der Romantik beeinflusst waren denn auch die ersten großen Erzähler, wie z.B. Washington Irving -- dessen Rip van Winkle Erzählung um den holländischen Einwanderer, der eine ganze Generation verschläft, den Auftakt macht.

Aber auch Edgar Allan Poe, der erste Höhepunkt amerikanischer Erzählkunst, mit seinen stark psychologisierenden Schauergeschichten. Das 'verräterische Herz', das bereits schon einmal hier im Biblionomicon besprochen wurde, ist wirklich ein Meisterwerk, das in diersem Band nicht fehlen darf. Daneben fallen in diese Kategorie auch die Kurzgeschichten von William Austin, Nathaniel Hawthorne, Herman Melville, Fitz-James O'Brien, aber auch Edward Everett Hale, dessen "Mann ohne Vaterland" von einem verurteilten Soldaten berichtet, der aufgrund einer unachtsamen Äußerung vor Gericht ("Er habe kein Vaterland") zu einem permanenten Leben auf hoher See verurteilt wird.

Danach ändert sich der Tonus der Kurzgeschichten. Sie emanzipieren sich vom europäischen Vorbild und eine Menge Lokalkolorit, nicht zuletzt in der Sprache kommt zum Tragen. Stehen am Anfang noch skurile und humoristische Skizzen im Vordergrund, werden die Erzählungen zusehends erwachsen. Angefangen mit John S. Robbs "lebend verschluckter Auster" und Artemus Wards "Zitterer", treffen wir auf den wunderbaren Mark Twain und dessen "berühmten Springfrosch von Calaveras", den ich noch aus meinen Schülertagen kenne. Gefolgt von Bret Harte, George Washington Cable, Thomas Bailey Aldrich gelangen wir zu Joel Chandler Harris, der sich in seiner Erzählung "Meister Lampe macht sich Bewegung" an der Mundart der US-amerikanischen Sklaven versucht.
"Eine der wichtigsten Forderungen dieses Meisters der Erzählkunst (gemeint ist Edgar Allan Poe) betraf die Kürze. Der Leser muss in der Lage sein, das Gebotene "auf einmal herunterzulesen". Nur für diese kurze Zeitspanne wird es dem Autor möglich sein, so folgert Poe, die ausschließliche Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln."
Dann Ambrose Bierce, den ich ebenfalls ganz besonders liebe. Natürlich finden wir hier seine große Erzählung "Zwischenfall auf der Brücke über den Eulenfluss", die ich ebenfalls schon als Schüler gelesen habe und die mir die Faszination an diesem Schriftsteller eröffnet hat, der in den Wirren des mexikanischen Revolutionskrieges verschollen ging. Der Band klingt aus mit Erzählungen von O.Henry, Jack London, Henry James und Stephen Crane. MIt ihm ist das Genre der Kurzgeschichte wirklich erwachsen geworden und wartet auf Ernest Hemingway, der sie stilistisch zur Perfektion führen sollte.
"Alles ist ja vielleicht ein bißchen übertrieben, aber ich weiß schon, was Sie meinen", erwiederte ich, "Sie haben die große amerikanische Krankheit und haben sie schwer - es ist die krankhafte, maßlose Begierde nach Form und Farbe, nach dem Pittoresken und dem Romantischen um jeden Preis. Ich möchte nur wissen, ob wir damit zur Welt kommen...."
Das Schöne an diesen Bänden mit Kurzgeschichten diverser Autoren ist, dass sie jedesmal Lust auf 'Mehr' machen. So werde ich mir den ein oder anderen Autor in Zukunft auch noch etwas intensiver zu Gemüte führen. Den vorliegenden Band selbst gibt es nur noch im Antiquariat bzw. eben über Ebay.

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Sonntag, 11. Oktober 2009

Ein fantastisches Labyrinth zwischen Film Noir und Phantastik - Carlos Ruiz Zafon 'Das Spiel des Engels'

Lange hatten wir schon darauf gewartet, dass nach dem "Schatten des Windes" endlich ein neuer Roman von Carlos Ruiz Zafon erscheinen würde. Jetzt ist er schon seit einiger Zeit erschienen und ich reiche die entsprechende Rezension nach, die einige Zeit auf sich warten ließ. Aber das Buch hat es in sich und will gut verdaut sein, bevor man sich zu einer Wertung hinreißen lässt.

Bereits im "Schatten des Windes" hatte der aus Barcelona stammende Autor Carlos Ruiz Zafon eine labyrinthisch und mysteriös gestaltete Liebeserklärung für seine Stadt vorgelegt. Ein Barcelona mit dem verborgenen "Friedhof der vergessenen Bücher", einem geheimnisvollen Archiv, zu dem nur Eingeweihte Zutritt haben und in dem all diejenigen Bücher eine letzte Bleibe finden, deren Autoren samt ihrer Hinterlassenschaft längst dem Vergessen anheim gefallen sind. Ein Barcelona, in dem der Titelheld dem verschwundenen Autor eines seltenen Buches hinterherspürt und eine dunkle Geschichte aufdeckt, die von den 30er Jahren des spanischen Bürgerkriegs bis in die Franco-Ära reicht.

Das darauf erschienene "Spiel des Engels" setzt auf diese Welt auf und liefert eine Geschichte, die noch vor den Tagen des ersten Buches spielt, in der aber bereits Orte und Figuren daraus auftauchen. Hauptfigur des Romans ist der junge und ehrgeizige Schriftsteller David Martin, der zunächst als Redaktionslaufbursche bei einer Zeitung arbeitet und seinen Lebensunterhalt durch das Abfassen von Groschenromanen bestreitet. Eines Tages erhält er von dem geheimnisvollen Verleger Andreas Corelli den hochdotierten Auftrag, ein noch viel mysteriöseres Buch (aus dem wir auch nie nur eine einzige Zeile zu lesen bekommen) zu schreiben. Bei seinen Recherchen erkennt David allmählich mehr und mehr, dass er mit der Annahme dieses Auftrags auch seine Seele verkauft hat. Seine Versuche, sich aus diesem teuflischen Pakt zu befreien, können für ihn und für alle, die ihm nahe stehen, nur im Unglück enden....

Der Roman ist recht vielschichtig und es werden zahlreiche Geschichten in der eigentlichen Geschichte erzählt, so dass man in der Zusammenfassung gar nicht alle Erzählstränge und Motive wiedergeben kann. Immer wieder erkennt man die Anspielungen auf das Vorgängerwerk, auch wenn das "Spiel des Engels" noch erheblich dunkler und fantastischer geraten ist als der "Schatten des Windes". Aber dieses Zusammenspiel des surrealen und psychologischen Moments, verbunden mit den in düsterer Vergangenheit liegenden Seiten und Gesichtern der Stadt Barcelona und ihrer manchmal recht seltsamen Bewohner, das macht einen Großteil des Reizes an Zafons Erzählkunst aus.

Es ist schon schwer, an den Erfolg des "Schatten des Windes" anzuknüpfen. Und auch, wenn die allgemeine Kritik dies nicht immer für gelungen hält, habe ich die Lektüre dieses spannenden Romans doch sehr genossen und freue mich darauf, noch mehr aus der Feder dieses Autors lesen zu können. Seine Figuren sind charakterlich fein modelliert, widersprüchlich mit Ecken und Kanten, und vermeiden meist Klischees und Stereotypen. Auch wenn am Ende manches im Unklaren bleibt, ein Lesegenuss ist es allemal, insbesondere weil der Roman auch Lust auf eine eigene Erkundung dieser interessant geschilderten Stadt macht.

Fazit: Liebhaber dunkler Geheimnisse auf sprachlich durchweg überdurchschnittlichem Niveau werden diesen Roman genauso lieben wie ich. LESEN!


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Sonntag, 4. Oktober 2009

So fremd und doch vertraut - Mark Haddon "The Curious Incident of the Dog in the Night-Time"

Es gibt einige Bücher, mit denen hat es ein Übersetzer besonders schwer. Insbesondere, wenn es darum geht, sprachliche Besonderheiten und Feinheiten zum Ausdruck zu bringen. Manchmal gelingt dies ganz gut, das eine oder andere mal geht es auch total daneben. Das Buch, das ich heute kurz vorstellen möchte, sollte der geneigte Leser daher unbedingt im englischen Original lesen. Ich habe durch die deutsche Übersetzung geblättert und quergelesen und musste leider feststellen, dass nichts mehr vom eigentümlichen Zauber des Originals übrig geblieben ist. Zudem ist das Buch, von dem ich berichten werde, aus der Perspektive eines 15-jährigen geschrieben und daher sprachlich nicht sehr kompliziert und einfach zu lesen.

Mark Haddon beschreibt in seinem Roman 'The Curious Incident of the Dog in the Night-Time' das Leben aus der Perspektive des 15-jährigen Jungens Christopher John Francis Boone, der am Asperger-Syndrom - einer Autismus-Störung - leidet. Christopher kann zu allen Ländern der Erde die zugehörigen Hauptstädte aufzählen, kennt jede einzelne Primzahl bis 7057 und hat eine ausgesprochene Schwäche für Mathematik und Logik (übrigens sind die einzelnen Kapitel mit Primzahlen durchnummeriert). Er mag Tiere sehr gerne, kann aber mit Menschen recht wenig anfangen, da ihm das Verständnis für jede Art menschlicher Emotion und deren Deutung fehlt. Er mag es nicht, berührt zu werden und hat eine starke Abneigung gegenüber der Farbe gelb.

Die Welt funktioniert für Christopher nur als eine Sammlung von logisch aufeinander aufbauenden, strikten Regeln und sich wiederholenden Mustern. So hat er stets einen kleinen Satz Karten in der Tasche, in dem der zu einer bestimmten Emotion passende Gesichtsausdruck in Form eines Smileys zusammen mit der zugehörigen Benennung ("sad", "happy", etc.) notiert ist, damit er im Bedarfsfall darauf nachschauen kann.
"I find people confusing. This is for two main reasons. The first main reason is that people do a lot of talking without using any words."
Eines Tages aber entdeckt er, dass der Nachbarshund, der Pudel 'Wellington', tot im Garten liegt, aufgespießt mit eine Gartenharke.
"Then the police arrived. I like the police. They have uniforms and numbers and you know what they are meant to be doing"
Auf den Spuren seines Lieblingsdetektivs Sherlock Holmes beschließt Christopher den Mord an 'Wellington' aufzuklären, und es beginnt ein großartiges Abenteuer, das uns unsere alltägliche Welt aus einem völlig fremden Blickwinkel vorführt. Der Blickwinkel eines Menschens, der jede Kommunikation wortwörtlich nimmt, da er Metaphern, Ironie, Anspielungen und Zwischentöne nicht verstehen kann. Da es für Christopher völlig unergründlich ist, wie andere Menschen auf die Idee kommen, erfundene Geschichten zu schreiben (da es sich dabei ja eigentlich um 'Lügen handelt'...), beginnt er jetzt darüber zu schreiben, wie er den Mordfall lösen will.

Davon einmal abgesehen, dass es sich wirklich um eine ganz besonders schöne Geschichte handelt, ist es vor allen Dingen der Perspektivwechsel, der diesen Roman so ungewöhnlich und reizvoll macht. Da ich mich beruflich mit dem Thema 'Semantik' (Bedeutung) und dem maschinellen 'Verstehen' von Semantik (wie z.B. im computerbasierten Vorstehen natürlicher Sprache) beschäftige, weiss ich, wie schwierig dieses Thema tatsächlich ist. Innerhalb unserer tagtäglichen Kommunikation liegen vielfältige Bedeutungsebenen, situationsabhängige Kontextbezüge und differenzierte Absichten der Kommunikationspartner. Ein 'normaler' (d.h. gesunder) Mensch handhabt unsere Fähigkeit zu kommunizieren quasi wie selbstverständlich. Wenn man aber nicht 'zwischen den Zeilen' lesen kann, wenn man sich nicht in den Standpunkt eines anderen versetzen kann, ihn also nicht verstehen kann und seine Emotionen nicht deuten kann, dann wird Kommunikation fast unmöglich. Und in dieser Situation ist Christopher Boone - und wir werden Zeuge in seinem täglichen Kampf um das Verstehen seiner Welt.

Fazit: Ich liebe dieses Buch! (Das sage ich wirklich nicht allzu oft...) Dieses Buch sollte man unbedingt gelesen haben. Mehr gibts nicht dazu zu sagen :) LESEN!

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Sonntag, 27. September 2009

Mad Max meets Niederbayern - Carl Amery "Der Untergang der Stadt Passau"

Was passiert, wenn nach einer "großen Katastrophe" - sei es ein globaler Killervirus, eine nukleare Katastrophe oder was auch immer - nur noch ein kleines Häuflein Menschen übrig bleibt? Das Ende aller Zivilisation? Fallen wir wieder zurück auf eine vorzeitliche Entwicklungsstufe der Menschheit? Eine Fragestellung, der sich zahlreiche Endzeitvisionen - allen voran Filme, wie z.B. 'Mad Max' oder 'I am Legend' - gewidmet haben, und deren Lösungsvorschläge oft nicht recht überzeugen können...

Wenig bekannt dagegen ist Carl Amerys kurzer Roman "Der Untergang der Stadt Passau", der 1975 erschienen ist, und der das erwähnte Endzeitszenario ins Niederbayerische verlegt. Das Buch startet mit Auszügen der Chronik "Magnalia Dei per Gentem Rosmeriorum", der Großtaten Gottes durch das Volk der Rosmer, geschrieben vom Kaplan Egid, Anno Domini 2112, das Jahr 131 APP (Anno Post Pentilentiam, will sagen "nach der Seuche"). Die Rosmer (Rosenheimer) ziehen gegen die Stadt Passau (das mit dem Babel der Apokalypse verglichen wird) in den Krieg. Skizzenhaft werden dabei zwei unterschiedliche Zeitebenen zugleich erzählt, wenn auf den Ursprung der Feindschaft zwischen den Rosmern und den Passauern - die eigentlich hier erzählte Geschichte - zurückgegriffen wird.

Der junge Marte und der erfahrene Jäger Lois sind von zu Hause losgezogen und stehen vor den Toren der Stadt Passau. Während sie aus einer kleinen Gruppe von Jägern und Bauern stammen, die sich in einer quasi bronzezeitlichen Lebensweise der wieder überhandnehmenden Wildnis anzupassen versuchen, hat der "Scheff" von Passau versucht, die untergegangene Zivilisation in den engen Grenzen der Stadtmauern fortzuführen. Die Passauer leben quasi aus der Konserve (inklusive elektrischem Strom aus einem kleinen Wasserkraftwerk, dem wohl "einzigen funktionierenden Sekretariat zwischen Nordkap und Alpen", der Reste der automobilen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts in Gestalt einiger alter Traktoren und einer eigenen "Schikeria") - wobei die Konserven langsam zur Neige gehen und die vorhandene Technik mehr und mehr verfällt, da es an ausgebildeten Spezialisten mangelt. Dennoch sind Marte und Lois vom Reichtum und dem technischen Fortschritt der Passauer geblendet.

"Rosenheimer oder Rosnemer Gruppe", las der Scheff. "Zusammenschluss von Überlebenden, ursprünglich über hundert, durch Südwanderung auf etwa 20 Köpfe geschmolzen. Stabilisierte sich durch autarke Lebensweise: Jagd, Fallenstellen, gelegentliche Bodenbewirtschaftung; Anwachsen durch Zuzug und natürliche Vermehrung auf etwa 60 Köpfe. Gut integriert, positive Zukunftsentwicklung auf halbnomadischer oder nomadischer Basis wahrscheinlich..."
Dies ist der erste Kontakt zwischen den Rosmern und den Passauern - und so werden Marte und Lois als Botschafter mit großem Brimborium willkommen geheißen. Aber der Scheff ist sich der Lage seiner untergehenden Konservenstadt bewusst und verfolgt eigene, heimtückische Pläne....und die Geschichte der Menschheit ist mit der großen Katastrophe noch lange nicht zu Ende, sondern sie ist - wie gehabt - schon wieder im vollen Gange....

Carl Amery war ein bekannter deutscher Schriftsteller und Umweltaktivist, unter anderem auch Mitglied der Gruppe 47 und Präsident des deutschen PEN Zentrums, der seiner Heimatstadt Passau mit diesem Roman ein mehr oder weniger streitwürdiges Denkmal gesetzt hat. Seine Inspiration dazu fand Amery im 1959 erschienen Roman "A Canticle for Leibowitz" des amerikanischen Autors Walter M. Miller, der 1961 mit dem Hugo-Award - dem wichtigsten Literaturpreis im Bereich des Science Fiction - ausgezeichnet wurde. Miller skizziert in seinem Roman das Bild einer Kirche, die nach einem Atomkrieg versucht, das technologische und zivilisatorische Wissen der Menschheit zu bewahren, aber dabei immer weiter ins Mystische zurückfällt (hier die zugehörige biblionomicon-Rezension).

Die wenigen Personen aus Amerys endzeitlichem "Kammerspiel" werden in der Hauptsache über ihre Sprache charakterisiert. Während die Passauer auch 30 Jahre nach der Katastrophe ihre Sätze in Hochdeutsch kleiden, findet sich bei den Rosmern ein immer stärker ausgeprägter bayerischer Dialekt, an dessen Transkription sich Amery versucht, und der so manchem Norddeutschen eventuell Kopfzerbrechen verursachen wird:
"Babba"..."die derwischen uns nimmer. I mach uns a Feuer, I fang dir a'n Fisch. Du brauchst doch was mit deiner Hitzen. Und die Rösser brauchn a Ruah."
Dieser Lokalkolorit wirkt für mich als deutschsprachigen Leser erfrischend, da einmal nicht New York oder eine andere US-amerikanische Hauptstadt im Mittelpunkt der Geschichte steht. Amery bezeichnet seinen nur knapp 120 Seiten kurzen Roman als "Fingerübung". Daher bleibt manches nur angedeutet und skizzenhaft, was dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch tut.

Fazit: Eine ungewöhnliche Endzeitgeschichte, die mit Spannung und Ideenreichtum überzeugt und ein ausgefallenes Lesevergnügen verspricht. LESEN!

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