Sonntag, 1. August 2010

Chemie, Schmandkuchen und tote Schnepfen - Alan Bradley: 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet'


Soviel schon einmal vorneweg: Wie schon so oft ärgere ich mich über die platte 'Titelübersetzung' des deutschen Verlages, was dem Buch -- Gottseidank -- erst einmal keinen Abbruch tut. Aber das deutsche Verlagswesen - und ihm voran immer wieder deutsche Filmverleihe und das deutsche Fernsehen - trauen es dem deutschen Leser bzw. Zuschauer nicht zu, einen vielleicht mehrdeutigen oder sich in Anspielungen ergehenden Titel zu verstehen. Nein. Für die Deutschen muss es anscheinend immer direkt und oberplatt sein. Und wenn es gar nicht anders geht, dann muss eben ein Bindestrichtitel herhalten, der einen Titel sinnreich untertitelt und den Inhalt des damit bezeichneten Werkes möglichst vollständig erklärt.

Das hat übrigens Tradition, denn bereits Grimmelshausens 1669 erschienener 'Simplicissimus' ist untertitelt mit
"Der Abentheuerliche SIMPLICISSIMUS Teutsch - Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines Seltzamen Vaganten genant Melchior Sternfels von Fuchshaim wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen was er darinn gesehen gelernet erfahren und außgestanden auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig und maenniglich nutzlich zu lesen."
Aber zurück zu unserem eigentlichen Untersuchungsgegenstand: Alan Bradleys 2009 erschienener und vielfach ausgezeichneter Roman 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet' oder aber besser im Original 'The Sweetness at the Bottom of the Pie'. Es handelt sich dabei um einen klassischen Kriminalroman, der im England der 1950er Jahre spielt, also keine Mobiltelefone, kein Internet und kein Fernsehen. Scheinbar ist es auch derzeit in Mode, halbwüchsige, aber nicht minder geniale Rotznasen zu Protagonisten in ausgefeilten Kriminal- und Abenteuerplots zu machen, wobei das Zielpublikum aber nicht unbedingt im selben Alter sein muss. Daher liegt der Vergleich mit Reiff Larsons 'Die Karte meiner Träume' (siehe biblionomicon Rezension: 'Kartenwahrheiten und andere Wahrheiten') oder Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' (siehe biblionomicon Rezension: 'Eine unauffällige Perle') recht nahe.

Hauptperson des kurzweiligen Romans ist die 11-jährige Flavia de Luce, die zusammen mit ihren Schwestern Daphne (13 Jahre) und Ophelia (17 Jahre) im herrschaftlichen Anwesen der Familie de Luce lebt. Ihr Vater Colonel de Luce hat sich seit dem Tod der Mutter (das ist gut 10 Jahre her) in das Schneckenhaus seiner privaten Trauer zurückgezogen und findet Trost in seiner Leidenschaft, dem Briefmarkensammeln. Flavia ist für ihre 11 Jahre überaus frühreif, was ihre intellektuellen Fähigkeiten und Begabungen angeht. So verbringt sie die meiste Zeit im Obergeschoss des Herrenhauses, in dem ihr Ahnherr Tarquin de Luce ein voll ausgestattetes Chemielabor hat einrichten lassen. Der Kenner bemerkt natürlich sofort die Anspielung auf Sherlock Holmes und seine Leidenschaft für chemische Versuchsanordnungen.
"Das erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden." (Seite 282)
Eines morgens in aller Herrgottsfrühe entdeckt Flavia im Garten (im Gurkenbeet) einen sterbenden Mann, der ihr mit seinem letzten Atemzug den lateinischen Abschiedsgruß 'Vale!' entgegenhaucht.
'Was hatte mir der Fremde ins Gesicht geröchelt? Richtig: Vale! Hastig blätterte ich die Seiten um: vakant...Vakuum...Vakzination...da war es: Vale: Gehab dich wohl, Auf Wiedersehen, Adieu. Imperativ des lateinischen Verbs valere: wohl ergehen.' (Seite 46)
Das übrigens ist die einzige Stelle im ganzen Roman, in der das Gurkenbeet eine irgendwie 'tragende' Rolle spielt und den deutschen Titel versucht zu rechtfertigen. Aber Hand aufs Herz: Wer kauft schon ein Buch, nur weil es verspricht, dass eine Leiche in einem Gurkenbeet auftauchen wird...? Tags zuvor wurde Flavia Zeuge, wie sich dieser Mann mit ihrem Vater, dem Colonel gestritten hatte. Worüber, das ist nicht klar. Aber ebenfalls am Vortag fand die Haushälterin eine tote Schnepfe auf der Türschwelle. Schnepfen sind nun einmal nicht typisch für diese Jahreszeit, und schon gar nicht, wenn sie eine Briefmarke aufgespießt auf ihrem Schnabel tragen. Was also hat das Ganze zu bedeuten?

Die Polizei staunt auf alle Fälle nicht schlecht, als eine 11-jährige anruft, um einen Mord zu melden. Leider zeigen alle Verdachtsmomente auf Flavias Vater, Colonel de Luce, und er wird schließlich verhaftet. Flavia beginnt mit ihren Nachforschungen, die sie in die Jugend ihres Vaters zurück in seine Internatszeit in den 1920er Jahren führen, als er einem magischen Zirkel angehörte und seine Leidenschaft für Briefmarken entdeckte. Und Briefmarken sollen auch noch eine ganz besondere Rolle im weiteren Verlauf der überaus spannenden und kurzweilig geschriebenen Handlung spielen.

Seinen besonderen Charme zieht der Roman auch aus der Zeit, in der die Handlung spielt. England, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, die der 1938 geborene Autor Alan Bradley ungefähr im gleichen Alter wie Flavia erlebte. Eine gegenüber unserer heutigen Zeit um so vieles langsamere Zeit, dass man es sich als Jugendlicher heute kaum mehr vorstellen kann und als Erwachsener sofort in eine Art Nostalgie verfällt. Da kann man nicht einfach mal das Mobiltelefon aus der Tasche holen, um Kontakt aufzunehmen. Nein, man muss sogar in eine Bibliothek gehen -- die übrigens Samstags und Sonntags geschlossen ist -- um Informationen recherchieren zu können. Kein Internet, sondern nur das (gedruckte) Lexikon zuhause bleibt die einzig zuverlässige und kurzfristig erreichbare Informationsquelle.
"Scheibenkleister! schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche!" (Seite 66)
Das Verhältnis der drei Schwestern untereinander ist eher stereotyp geschildert, d.h. ein beständiger Kriegszustand zwischen älterer (Ophelia) und jüngerer (Flavia) Schwester, mit einer Schwester in der Mitte, die sich als Dauerleser für nichts anderes als Literatur des 19. Jahrhunderts zu interessieren scheint. Aber Alan Bradley versteht es doch, seinen Figuren mit der Zeit etwas schärfere Ecken und Kanten mit auf den Weg zu geben, so dass man sie am Ende doch lieb gewinnen muss.
"Dass ein de Luce einem anderen sagt, dass er ihn liebt, ist so unwahrscheinlich, wie dass sich einer der Gipfel des Himalaya zur Seite neigt und seiner benachbarten Felsspitze etwas Nettes zuflüstert." (Seite 375)
Fazit: Ein äußerst kurzweiliger und liebevoll nostalgischer Kriminalroman aus einer ungewohnten, aber nicht minder interessanten Perspektive, der selbst mir als nicht unbedingt großem Krimiliebhaber viel Freude bereitet hat. Lesen!

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