Mittwoch, 28. Dezember 2011

Die Mutter aller Cliffhanger - Charles Dickens 'Das Geheimnis des Edwin Drood'



Stirbt ein großer Autor, freut sich an erster Stelle der Buchhandel, da sein Lebenswerk mit einem Male in zahllosen Neuauflagen die Regale befüllt. Besonderes Interesse gilt dann meist auch der letzten 'Hinterlassenschaft' des Meisters. In ganz besonderem Maße spannend wird es, wurde der große Meister inmitten seines Schaffens dahingerafft und konnte dieses letzte Werk nicht mehr beenden. Dann startet je nach Stand der Werkvollendung der Interpretationszirkus, der uns eine Vielzahl möglicher guter oder schlechter Enden präsentiert. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, geneigter Leser, der literarische Gigant Charles Dickens starb und hinterließ sein letztes Werk unvollendet. Schlimmer noch: der letzte Dickens war zudem ein Kriminalroman ... und Kriminalromane leben nun einmal davon, ihr Publikum bis zum Ende der Geschichte meist im Dunkel über die wahre Identität des Täters und seiner Motive zu halten.

So hinterließ uns Charles Dickens ein unvollendetes letztes Werk, den Kriminalroman 'Das Geheimnis des Edwin Drood' und der Leser wird mitten in der Geschichte, die sich so spannend angelassen hat, alleine gelassen. Alle Fäden hängen in der Luft. Der Titelheld Edwin Drood bleibt verschwunden. Ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist - sein Schöpfer hat es uns nie verraten. Aber keine voreilige Panik. Die Nachwelt hat in den letzten 140 Jahren, die seit dem Erscheinen des Werkes vergangen sind, mehr als 40 alternative Versionen möglicher Vollendungen hervorgebracht, von denen die hier vorliegende Fassung von Ulrike Leonhardt Dickens Geschichte auf kongeniale Weise fortschreibt und zu einem gelungenen Ende führt.

Das Genre des Kriminalromans war noch recht jung, als sich Dickens 1870 entschloss, der neuen Mode zu folgen und selbst eine spannende Kriminalgeschichte zu schreiben, von der er 22 Kapitel bis zu seinem Tod vollenden konnte. Zentrale Figur der im englischen Cloisterham spielenden Handlung ist der junge Edwin Drood, der schon seit Kindertagen mit dem hübschen Internatszögling Rosa Bud verlobt ist. Beide, Edwin und Rosa sind Waisenkinder und Edwins Vormund ist der Cloisterhamer Kantor John Jasper, der Rosa Musikunterricht gibt und ebenfalls sehr eingenommen ist von dieser. Als die beiden Zwillinge Helena und Neville Landless als Neuankömmlinge in Cloisterham eintreffen, verliebt sich Neville Hals über Kopf in Edwins Verlobte und der Streit zwischen Neville und Edwin ist vorprogrammiert. Allerdings sind sich Edwin und Rosa schon längst darüber einig, ihre gemeinsame Verlobung aufzuheben, auch wenn beide damit eine mit ihrer Hochzeit verbundene hohe Erbschaft ausschlagen würden. Nevilles Vormund, der Hilfskanonikus Reverend Septimus Crisparkle setzt sich für eine Versöhnung der beiden Streithähne ein und arrangiert ein Versöhnungstreffen am bevorstehenden Heiligabend. Doch Edwin verschwindet noch in dieser Nacht auf mysteriöse Weise und alle Welt, allen voran sein Vormund John Jaspers, verdächtigen Neville des heimtückischen Mordes.

Und damit hätte uns Dickens jetzt alleine gelassen, wären da nicht die zahllosen Epigonen, die seine Geschichte zu einem jeweils mehr oder weniger glücklichen Ende führen sollten. Der Dickensianerin Ulrike Leonhardt gelingt mit ihrer ureigenen Version eine dem Original auf alle Fälle angemessene Auflösung, die dem Dickenschen Sprachniveau, seinen zahllosen Schilderungen und Metaphern in großartiger Manier das Wasser reichen kann. Zusätzlich bietet die wunderschöne Ausgabe von Manesse noch einen Anhang mit ausführlicher Werks-, Rezeptions und Fortsetzungshistorie, die den Roman abrunden. Wie immer bei Dickens ist der Plot bevölkert mit zum Teil skurilen Originalen, für deren minutiöser Schilderung er ja bekannt und zurecht berühmt ist. Der Übersetzung von Burkhart Kroeber gelingt es, diese Lebendigkeit des Dickenschen Sprachwitzes einzufangen und in das Deutsche hinüber zu retten. So können wir heute das Geheimnis von Edwin Drood lösen, das zu den wohl meistdiskutierten Werken Dickens zählt. So listet eine 1998 erschienene Bibliografie zu diesen in der Fachwelt als 'Droodiana' bezeichneten Arbeiten eine Liste von über 1.800 einschlägigen Abhandlungen auf.

Fazit: Berühmte unvollendete klassische Kriminalgeschichte, die letztendlich zu einem guten Ende geführt werden konnte. Pflichtlektüre! 


Charles Dickens
Das Geheimnis des Edwin Drood

aus dem Englischen übersetzt von Burkhart Koerber
Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt
Manesse Verlag Zürich (2001)
768 Seiten
24,95 Euro

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Ein Blick hinter die Fassade in den Abgrund - Léon Bloy 'Unliebsame Geschichten'

Ich möchte wetten, diesmal kennt kaum einer, der diese Beiträge liest den heute vorgestellten französischen Autor und Sprachphilosophen Léon Bloy, der es wie kaum ein anderer Autor verstand, mit seinen kurzen, skizzenhaften Erzählungen einen Blick hinter die bürgerlich-anständigen Fassaden zu werden und dahinter verborgene, seelische Abgründe ans Licht zu bringen. 'Der Mensch', so Bloy, dass sei ein 'Dämon, damit beauftragt, seine Mitmenschen zu quälen'...

Und ich hätte diesen heute nahezu unbekannten Autor sicher auch nie kennengelernt, hätte ihn Jorge Luis Borges nicht in seinen Kanon der phantastischen Literatur im Rahmen der 'Bibliothek von Babel' aufzunehmen, deren 4. Band ich heute bespreche. Das Bild, das wir heute vom Autor Léon Bloy haben, ist alles andere als ein sympathisches Bild. Ein ausgesprochener Antisemit und Fremdenhasser, der im Frankreich seiner Epoche das 'auserwählte Volk' zu erkennen glaubte. Dennoch hielt er der französischen Bourgeoisie einen Spiegel vor, der diese nur in den schwärzesten Farben widerspiegelt. Seine Geschichten - so meint auch Borges - erinnern geradezu an die dunklen Bilder Goyas. Die kleinen Geschichten des vorliegenden Bandes sind geradezu aufs wesentliche komprimiert und bitterböse. ;am könnte meinen, dass Roald Dahl in ihm sein Vorbild gefunden hätte, nur dass Dahl dabei immer noch einen gehörigen Funken Humor in seine Geschichten einfließen lässt.

So klappt es auch nicht, die kleinen Geschichten an dieser Stelle nachzuerzählen oder zu schildern, ohne ihnen die eigene Spannung oder die kuriose Wendung am Ende zu nehmen. Es geht um Verbrechen, Grauen, Heiligkeit, unmögliche Situationen, Mord als letzte Konsequenz, Prostitution und sogar Inzest, Verleumdungen, ungerechtfertigte Verdächtigungen und Wehleidigkeiten. So bleibt mir am Ende nur, dem Leser Bloys eigene Worte mit auf den Weg zu geben, bevor er sich tatsächlich an diese Lektüre wagt...
"Liebhaber anmutiger Gefühle sind aufgefordert, die Lektüre nicht fortzusetzen." (Seite 81)

Fazit: Absolut ungewöhnlich, bitterböse und mitunter fesselnd, Für Freunde des "schwarzen Humors" durchaus wohl geeignet.

Léon Bloy
Unliebsame Geschichten
aus Jorge Luis Borges (Hrsg.) 'Die Bibliothek von Babel'
Band 4
119 Seiten
17,90 Euro

Sonntag, 18. Dezember 2011

Traurige Hymne an das Lesen - Sam Savage 'Firmin - Ein Rattenleben'

Dies ist eine traurige Geschichte. Wer also hinter der Ratte 'Firmin', dem Protagonisten des gleichnamigen Romans des promovierten Philosophen, Tischler, Fischer, Drucker und Fahrradmechaniker Sam Savage eine ähnlich niedliche Geschichte vergleichbar mit dem Pixar-Film 'Ratatouille' erwartet, der geht leer aus, denn hier gibt es kein Happy End...

Also es geht um einen Roman, der eine Ratte ins Zentrum der Geschichte stellt und diese aus ihrer ureigenen Perspektive erzählt. Ja, richtig gehört, die Ratte erzählt uns die Geschichte und es ist kein Märchen für Kinder, sondern vielmehr ein Stück amerikanischer Lokalgeschichte, beginnend in den 1960er Jahren in der Stadt Boston. Firmin wird dort als 13. Junges einer übergewichtigen und alkoholabhängigen Rattenmutter im Keller einer Bostoner Buchhandlung zur Welt gebracht. Aber Firmin ist anders als seine Rattenbrüder und Rattenschwestern. Als letzter im Wurf kommt er stets zu kurz, wenn es darum geht, sich einen Platz an der Mutterbrust in Konkurrenz um die knappe Nahrung zu erkämpfen. Schließlich aber findet er Geschmack an den Seiten der Bücher im Keller der Buchhandlung und mit der Zeit muss er feststellen, dass Buchseiten nicht nur dazu dienen können, seinen Hunger zu stillen, sondern dass er dazu auch noch lesen kann. Sicher, das ist ungewöhnlich für eine Ratte, aber wenn man sich erst einmal damit abgefunden hat, dass es Firmin intellektuell in Sachen Literatur mit jedem Menschen aufnehmen kann und den meisten darin am Ende sogar überlegen ist (Firmin ist nicht nur mit einer Art photografischen Gedächtnis gesegnet, sondern beherrscht auch noch die Kunst, anspruchsvolle Literatur mit atemberaubender Geschwindigkeit zu lesen), dann kann die Geschichte auch funktionieren.

Kein Wunder also, wenn sich Firmin eher als Mensch, denn als Ratte fühlt. Allerdings ist ihm bewusst, dass er eine Ratte ist und dass Ratten bei den Menschen nicht gerade ein hohes Ansehen genießen. Dennoch gelingt es ihm mit der Zeit, sogar eine Art Freund unter den Menschen zu finden: den erfolglosen Schriftsteller und Außenseiter Jerry, bei dem er schließlich auch wohnt, nachdem er seinen Geburtsort, die Buchhandlung verlassen hat. Aber Jerry ist genauso wie Firmin ein ewiger Verlierer. Zwar liebt er seinen kleinen Freund, doch vermag er nicht dessen Genialität zu erkennen und hält ihn eben einfach "nur" für eine Ratte. So muss auch diese ungleiche Freundschaft letztlich tragisch enden. Die Melancholie von Firmins Geschichte wird begleitet von der Schilderung des allmählichen Verfalls des Bostoner Stadtviertels, in dem Firmins alte Buchhandlung liegt. Ebensowenig, wie dessen Untergang verhindert werden kann, sind auch Firmins Träume und sein Streben nach Höherem kläglich zum Scheitern verurteilt.

So traurig die Geschichte am Ende auch ist, so besitzt Firmin doch einen intelligenten, an Woody Allen erinnernden Sinn für Humor, der vom Autor durch beständige Literaturzitate unterfüttert wird. So gerät die tragische Geschichte schließlich zu einer Hymne an die Literatur und an das Lesen an sich, und man bekommt Lust, das ein oder andere der erwähnten Werke einmal wieder aus dem Bücherschrank zu nehmen und darin zu lesen. Persönlich hatte ich mir mehr von dem so viel gelobten Werk erwartet. Die Ratte als Identifikationsfigur eines intellektuellen Außenseiters wird sicher nicht bei jedem funktionieren. Dennoch spricht das Buch bestimmt auch die "Leseratten" unter uns an, so dass man trotz alledem auch ein wenig Vergnügen aus der melancholischen Lektüre ziehen kann.

Fazit: Ein ungewöhnlicher Roman mit zahlreichen literarischen Querverweisen um einen intellektuellen Außenseiter in Gestalt einer Ratte. Bestimmt nichts für jedermann... 

Sam Savage
Firmin - Ein Rattenleben
List Taschenbuch (2009)
280 Seiten
8,95 Euro

Samstag, 26. November 2011

Genial verknüpft - Sibylle Knaus 'Eden'

Diesmal habe ich längere Zeit darüber grübeln müssen, welchen Titel ich am besten über diesen Beitrag stellen soll. Werde ich präziser, wird der Titel viel zu lang und ich kann es mir eigentlich sparen dann noch etwas zum Inhalt des Buches zu erzählen. Also habe ich es diesmal einfach bei einer Kernaussage belassen, die zwar zutrifft, aber relativ wenig über den eigentlichen Inhalt aussagt. Tatsächlich vereint das Buch zwei verschiedene Bücher bzw. zwei ozeitlich sehr, sehr lange auseinanderliegende Handlungsstränge, die Sibylle Knaus, Professorin für Text und Dramaturgie an der Filmakademie Baden-Württemberg, hier phantasievoll und unterhaltsam miteinander verknüpft.

Wir schreiben das Jahr 1935. Auf einer Dinner-Party in Cambridge lernt die junge Studentin Mary den zu dieser Zeit bereits berühmten Archäologen Louis Leaky kennen und verliebt sich trotz zahlreicher Warnungen in den notorischen Frauenhelden. Allerdings ist Leakey bereits verheiratet und hat Familie. Dennoch folgt sie ihm nach Ostafrika in seine Heimat und es beginnt eine die beiden lebenslang verbindende Arbeits- und schließlich auch Lebensgemeinschaft. Dort in der afrikanischen Wildnis inmitten von nachts umherstreunenden Löwen, Hyänen und Schakalen schlagen sie ihr Zelt auf und begeben sich auf die mühevolle und akribische Suche nach den Spuren der Anfänge der Menschheitsgeschichte. Parallel zum Leben, Lieben und Arbeiten der beiden Leakeys -- Louis lässt sich schließlich scheiden und heiratet Mary -- erzählt Sibylle Knauss die Geschichte unserer Vorfahren in einer ursprünglichen und wilden Urwelt mit dem täglichen Kampf ums Überleben.

Zugegeben, die Geschichte der Leakeys mit der eigenwilligen und eigenbrödlerischen Mary und ihrem um einiges älteren Mann Louis, der die Finger nicht von den jungen Studentinnen lassen kann, die ihn auf Schritt und Tritt anhimmeln, ist schon interessant genug, hätte das Buch aber alleine nicht getragen, auch wenn immer wieder von den bahnbrechenden Entdeckungen des Forscherehepaares berichtet wird. Spannend wird es dann, wenn Sibylle Knauss aus einer Zeit berichtet, aus der uns außer einigen Knochenresten und Steinen nichts mehr geblieben ist, und sie ihre grenzenlose Phantasie bemüht, uns ein Bild von dieser nicht gerade paradiesischen Welt aus dem eigenen Blickwinkel ihrer Bewohner schildert, die zu Beginn noch nicht einmal über eine Sprache verfügen. Wie haben diese primitiven Hominiden gedacht, wie haben sie gefühlt, und wie haben sie eine Welt erlebt, in der die Suche nach Nahrung und der Kampf ums Dasein jeden Tag von Neuem gekämpft werden musste. So erleben wir den faszinierenden Vorgang der Menschwerdung Schritt für Schritt mit, parallel zu den stetig eskalierenden Ehedramen der Leakeys. An manchen Stellen hat Frau Knauss etwas zu dick für meinen Geschmack aufgetragen und der immer wieder durchschimmernde Pathos der Schöpfungsgeschichte scheint mir zu verklärt, aber alles in allem ist ihr mit diesem Buch ein ungewöhnliches, interessantes und zugleich unterhaltsames Werk gelungen.

Fazit: Urgeschichte und Ehedrama zugleich bilden eine überaus interessante und vorallem ungewohnte Form der Lektüre. Lesen!



Sibylle Knaus
Eden

Hoffmann und Campe (2009)
384 Seiten
22,- Euro

Montag, 21. November 2011

Der Schatten der Vergangenheit - Daphne du Maurier 'Rebecca'

Kennt ihr das auch: Sommerferien und Dauerregenwetter. Man sitzt als Kind zu Hause und hat keine Lust nach draußen zu gehen. Das 1000-Teile Puzzle im Keller ist bereits fertig gelegt, zu Monopoly, Malefitz, Kartenspielen oder Lego fehlt einem die Lust. Da wäre noch das Fernsehen. Vergesst bitte nicht, wir befinden uns in den 1970er Jahren und es gibt gerade einmal drei Fernsehsender - naja vier, wenn man DDR1 mitzählen möchte. Großartige Sache, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen extra ein "Ferienprogramm" am Vormittag sendete, um die Frau des Hauses (Papa ist auf Arbeit und ja, die Mutter folgt dem Rollenklischee und kümmert sich um Haushalt und Kindererziehung) zumindest von der Zwangsbespaßung des Nachwuchses zu befreien und zu entlasten. Genau in dieser Zeit liefen die Filme, die meine Kindheit prägen sollten. Üblicherweise waren sie Schwarzweiß, oder war das nur unser Fernseher damals? Da gab es Filme wie den 'König der Freibeuter', 'Des Königs Admiral', 'Hatari', 'Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten' aber auch einmal mehr oder weniger anspruchsvolle Krimis und Thriller des Film Noir. Auf alle Fälle im Gedächtnis geblieben ist mir 'Rebecca', dieser spannende Thriller von Hitchcock, der so schön harmlos anfängt und dann zumindest für mich als Kind reichlich gruselig endete.

In 'Rebecca' erzählt Daphne du Maurier die Geschichte einer schüchternen jungen Frau, die als Gesellschafterin Mrs. Van Hopper, eine reiche ältere Dame, auf ihren Reisen begleitet. In Monaco lernt die die junge Frau abends im Hotel den wohlhabenden Witwer Maxim de Winter kennen. Der um einiges ältere Maxim findet Gefallen an seiner jungen Bekanntschaft und nach kurzer Zeit hält er vollkommend überraschend und nicht sonderlich romantisch um ihre Hand an. Nach den kurzen Flitterwochen nimmt er sie mit nach Manderley, dem herrschaftlichen Stammsitz der Familie de Winter. Doch ist die junge Frau der neuen Aufgabe als Schlossherrin über eine vielköpfige Dienerschaft nicht wirklich gewachsen. Dazu kommt, dass alles immerfort nur von Maxims erster Ehefrau, der verstorbenen Rebecca schwärmt. Allen voran die Haushälterin Mrs. Denvers, die der Dienerschaft vorsteht und Rebecca de Winter geradezu abgöttisch verehrt und glorifiziert. Sie kann es nicht ertragen, dass es eine neue Herrin auf Manderley geben soll und setzt alles daran, Maxims neue Frau zu demütigen und zu vertreiben. Doch es gibt ein dunkles Geheimnis, dass die schöne Rebecca umgibt, die damals bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen ist. Als dann bei einem Sturm ein Schiff auf eine nahegelegene Sandbank läuft, wird eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht und die Vergangenheit kommt Schritt für Schritt unweigerlich ans Licht...

Mit etwas Abstand betrachtet kann ich jetzt milder über den Roman urteilen, der mir zunächst an vielen Stellen klischeebehaftet und kitschig erschien. Man muss zugeben, die anfängliche Romanze in Monte Carlo, der gut erhaltene und unglückliche Witwer mit dem düsteren Gemüt, das unerfahrene, schüchterne und mitunter selten dämliche Mädchen. Naja, aber der Roman entwickelt sich und mit ihm seine Protagonistin, die die Geschichte aus der Perspektive des Ich-Erzählers im Rückblick aufrollt. Am Ende drehen sich die Rollenverhältnisse beinahe um und zwischendurch wird es bei der Auflösung des Rätsels auch richtig spannend. Hitchcock hatte den Film 1942 kongenial mit Laurence Olivier und Joan Fontaine in Szene gesetzt und auch wenn ich ihn vor fast 30 Jahren zum letzten Mal im Fernsehen gesehen habe, erinnere ich mich noch, wie er mich in seinen Bann gezogen hat. Der Roman dagegen ist etwas langsamer erzählt und manchmal möchte man der Protagonistin einen kräftigen Schupps in die richtige Richtung geben.
"Ich dachte, wie viele Menschen in der Welt wohl litten und nicht aufhörten zu leiden, weil sie dem Netz ihrer eigenen Scheu und Zurückhaltung nicht entrinnen konnten und statt dessen in ihrer törichten Blindheit eine hohe Mauer um sich herum errichteten, die ihnen die Wahrheit verbarg. Ich hatte das auch getan. Ich hatte Zerrbilder in meiner Phantasie geschaffen, von denen ich meine Augen nicht hatte abwenden können. Ich war nie mutig gewesen, um die Wahrheit zu fordern..."(Seite 321)
Fazit: eine Gratwanderung zwischen sentimentalem Kitsch und spannenden Film Noir, aber auf alle Fälle ein lesenswerter Klassiker des Genres. Lesen!


Daphne du Maurier
Rebecca
3. Auflage
Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt a. Main, 2011
480 Seiten

8,00 Euro

Sonntag, 6. November 2011

...und die Moral von der Geschicht' - William Beckford 'Vathek'

Dass diese Geschichte nicht wirklich gut ausgehen kann, das weiss der geneigte Leser schon nach einigen wenigen Seiten bzw. insofern er sich die Mühe macht und das geistreiche Vorwort des genialen und phantastischen Erzählers Jorge Luis Borges gelesen hat, das der in der Bibliothek von Babel erschienenen Ausgabe des 'Vathek' vorangestellt ist. So bleibt dem Leser nurmehr übrig zu lesen und zu staunen, was sich William Beckford als nächste Steigerung der für den nimmersatten Kalifen einfallen ließ...

Der 1760 geborene englische Autor William Beckford, der sich neben seinem literarischen Schaffen auch als Politiker, Kritiker und Kunstsammler einen Namen machte, galt als ausgesprochener Exzentriker. Als Erbe eines Millionenvermögens konnte er sich Zeit seines Lebens ausschließlich seinen persönlichen Vorlieben, der Kunst und der Architektur, sowie dem Schreiben widmen.
"Ich fürchte, ich werde nie halb so weise noch tauglich sein, zu irgend etwas als dem Komponieren von Melodien, Erbauen von Türmen, Anlegen von Gärten, Sammeln alten japanischen Porzellans und dem Verfassen einer Reise nach China oder zum Mond."
So schrieb er 1781 an seine Cousine Lady Hamilton. Seiner Vorliebe für phantastische Illusionen und Kunst-Installationen folgend, inspiriert durch ausgedehnte Reisen in fremde und exotische Kulturen, entsprang auch die Idee zu dem seinen Ruhm begründenden Roman 'Vathek', den er in einem einzigen Zug in nur drei Tagen und zwei Nächten niederschrieb.

Vathek ist der 9. Kalif des Abassidenreiches. Er lebt in größtem Luxus und ist ein Freund aller nur erdenklicher Sinnesfreuden. Gleichzeitig gilt er aber auch bei seinen Untertanen als ausgesprochen gerechter und guter Herrscher. In seiner Selbstüberschätzung lässt Vathek einen Turm von babylonischer Höhe errichten, um den Gestirnen so nahe wie möglich zu sein, damit er die Geschicke des Planeten zu enträtseln vermag und auf alle übrigen Länder des Globus herabblicken kann. Eines Tages erhält Vathek von einem fremden Händler einen edlen Krummsäbel mit einer nicht zu entziffernden Inschrift. Ein weiterer Fremder, der sich ebenfalls wie der Händler buchstäblich wieder in Luft auflöst, ist in der Lage, den sich jeden Tag ändernden Text zu lesen. War der Text am ersten Tage noch ganz nach dem Geschmack des Kalifen und versprach große Reichtümer und Macht, so birgt er kurz darauf eine Warnung:
"Weh dem Sterblichen, der zu wissen trachtet, was ihm die Vorsehung verschweigt, weh dem, der wagt, was seine Macht übersteigt."
Doch Vathek lässt sich ein auf die Magie und folgt der Stimme aus der Finsterniss, die von ihm verlangt,  dem rechten Glauben abzuschwören und die Mächte des Dunkelns anzubeten. Denn dann, so die unheimliche Prophezeiung,
"..wird sich ihm das Alcazar des unterirdischen Feuers erschließen. Unter seinen Kuppeln wird er die Schätze schauen können, die ihm die Gestirne verheißen haben, die Talismane, welche die Welt unterwerfen, die Kronreifen der präadamitischen Sultane und des Suleiman Bendaud."
Zudem soll er 50 unschuldige Knaben opfern und seinen gesamten Hofstaat der Residenz des Bösen überlassen. In seiner unersättlichen Gier willigt Vathek schließlich ein und bricht auf zu einer Reise, die ihn ins Verderben führen wird...

Beckfords Werk gilt als Wegbereiter der phantastischen Literatur. Er beeinflusste unter anderem literarische Größen wie Lord Byron, Edgar Allan Poe, Charles Baudelaire und H.P. Lovecraft. Trotz der Kürze lässt sich das Werk aber nicht ganz so einfach lesen. Zwar mutet es wie eine der zahlreichen Geschichten aus Tausend und Einer Nacht an, aber sicher nicht jeder wird auch einen Zugang zur artifiziell anmutenden exotischen Geisteswelt William Beckfords finden. Irgendwie kann man sich auch nicht des Eindrucks erwehren, dass Beckford in die Fußstapfen seines Protagonisten Vateks trat, als er sich seinen Landsitz 'Fonthill Abbey' mit einem gigantischen, mehr als 130 Meter hohen Turm errichten ließ und sich mit seiner Bibliothek, seinen Dienern, Musikern, Zwergen und Pferden als dekadenter Einsiedler aufs Land zurückzog. Allerdings stürzte der Turm von Fonthill Abbey aufgrund bautechnischer Mängel mehrmals ein und gilt heute noch als Abbild baulichen Größenwahns aufgrund technischer Unkenntniss.

Fazit: Ein schillerndes und phantastisches Märchen, das aufgrund seiner Exzentrik und seiner Bedeutung für die nachfolgende Generation der phantastischen Literatur besticht. 


William Beckford
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main, 1999
339 Seiten
4,99 Euro

Sonntag, 16. Oktober 2011

Das also ist des Pudels Kern - Robert Löhr 'Der Schachautomat'

Seit sich der schöpferische Geist des Menschen an der Erschaffung von Maschinen versucht, lag eines seiner großen mythischen Ziele darin, es seinem Schöpfergott gleich zu tun und sich ein intelligentes Ebenbild zu schaffen. Gleich nicht nur an körperlichen sondern vor allen Dingen auch an geistigen Fähigkeiten. Die intelligente Maschine oder am Ende gar die denkende und fühlende Maschine? Da die künstlichen Intelligenz zu meinen Interessen- und Forschungsgebieten zählt, war die literarische Aufarbeitung und Diskussion eben dieser Thematik für mich schon immer von besonderem Interesse. So auch Robert Löhrs 'Der Schachautomat', in dem es dem Autor gelungen ist, die tatsächlichen Begebenheiten um den berühmten 'Schachtürken' in die unterhaltsame Form eines spannenden historischen Romans zu gießen.

Wir schreiben die Zeit der Aufklärung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wetteifern die Mechaniker und Wissenschaftler um den Bau möglichst der Natur nach gestalteter Maschinen, wie z.B. Vaucansons mechanischer Ente, die in der Lage war, Körner aufzupicken und künstlich zu verdauen, oder dem Schreibroboter in menschlicher Gestalt von Pierre Jaquet-Droz, der mit Feder und Tinte kleine, vorgegebene Schriftstücke aufsetzen konnte. All diesen Maschinen war gemeinsam, dass sie alle nur einem von ihrem Erbauer vorgegebenen, einfachen Schema (Algorithmus) folgen konnten, das zugegebenermaßen meist genial mit den mechanischen Mitteln der damaligen Zeit umgesetzt und ausgeführt wurde. Die so hervorgerufene naturnahe Nachahmung setzte die weniger gebildeten Zeitgenossen in Erstaunen und legte die Vorstellung nahe, dass es nur ein wenig mehr der Forschung bedürfe, um tatsächlich die menschliche Intelligenz in Form einer Maschine nachzuahmen.

1769 verspricht Hofrat Wolfgang von Kempelen der Kaiserin Maria Theresia, einen intelligenten, schachspielenden Automaten zu bauen. Der erfahrene Hofmechanikus Friedrich Knaus aber, der bekannte Konstrukteur eines Schreibautomaten, weiß es aus Erfahrung besser und kann darüber nur lachen. Aber schon im Jahr Jahr darauf präsentiert von Kempelen vor der Kaiserin seinen Schachautomaten und es ist ausgerechnet auch der Hofmechaniker Knaus, gegen den der Automat im Spiel antreten muss und fulminant gewinnt. Kempelen scheint ein gemachter Mann und sein Siegeszug ist unaufhaltsam. Doch der gedemütigte Knaus wittert den Betrug und wird zu Kempelens erbittertsten Gegner.

Das Geheimnis hinter Kempelens intelligentem Automaten liegt im kleinwüchsigen Tibor, ein hochbegabter Schachspieler, den von Kempelen aus Venedigs Bleikammern freigekauft hat und um den herum der ganze Automat von Kempelen und von seinem Assistenten Jakob maßgeschneidert wurde. Der Automat selbst besitzt die Gestalt eines Türken, der an einem Schachtisch sitzt und die Figuren über eine komplexe Mechanik von Tibor gesteuert über die Felder des Schachbretts bewegt. Doch niemand darf von der Existenz Tibors wissen, und so lebt er im Hause Kempelen quasi als Gefangener im goldenen Käfig. Aber auch von Kempelens Gegner schmieden Pläne um ihm auf die Spur zu kommen und Friedrich Knaus schleust die Mätresse Elise als Dienerin im Hause Kempelens als Spionin ein. Während einer der zahlreichen Vorführungen des Schachautomatens geschieht jedoch ein Unglück, als die Maschine alleine mit einer früheren Geliebten von Kempelens im Raum verbleibt und diese anschließend tot aufgefunden wird. Zwar gelingt es von Kempelen den mysteriösen Tod als Unfall darzustellen, doch Gerüchte und Aberglaube nehmen ihren verhängnisvollen Lauf. Tibors Schicksal liegt jetzt in von Kempelens Händen und scheint von nun an endgültig an den unglückseligen Automaten geknüpft.
"Ist auf den Zwerg Verlaß?", fragte Nepomuk."Wieso fragst du?""Weil ich ihn nicht leiden mag. Weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß er eine verschlagene kleine Höllenbrut ist, die eines Tages ihre Deckung fallen lässt und dir gefährlich wird. Wer ein Leben als Zwerg geführt hat und so viel Böses von der Welt ertragen mußte, muß doch eines Tages zwangsläufig selbst böse werden..."(Seite 207) 
Robert Löhrs Roman ist bei aller historischer Genauigkeit vor allem eines, nämlich überaus spannend und unterhaltsam erzählt. Darin zieht er mit den beiden später erschienenen Goethe-Romanen Löhrs 'Das Erlkönig-Manöver' (vgl. 'Geheim-Rat als Geheim-Agent...' Biblionomicon, 09.02.2009) und 'Das Hamlet-Komplott' (vgl. 'Indiana Jones und die deutsche Romantik...', Biblionomicon, 23.01.2011) zumindest gleich. Tatsächlich empfinde ich den Schachautomaten darüber hinaus noch erzähltechnisch dichter und historisch glaubwürdiger erzählt. Dies kann jedoch auch daran liegen, dass einem die Hauptpersonen der Handlung nicht ganz so vertraut sind, wie Goethe, Schiller, Kleist, von Humboldt und die anderen berühmten Protagonisten der beiden Goethe-Romane. Robert Löhr nimmt sich Zeit für seine Charaktäre, die nicht nur als Abziehbilder von bekannten Stereotypen daherkommen und gewährt sowohl aufschlussreiche Einblicke in ihr Inneres als auch detaillierte Schilderungen der historischen Umstände und des täglichen Lebens. Bei dieser Gelegenheit möchte ich alle, deren Interesse jetzt vielleicht geweckt worden ist, noch auf die großartige Schauergeschichte 'Moxons Herr und Meister' von Ambrose Bierce hinweisen (leider aktuell nur im Antiquariat erhältlich bzw. hier im englischen Original), in dem sich der große amerikanische Autor Erzähler auch dem Thema des Schachautomatens von einer ganz anderen Seite her widmete.

Fazit: Aus vielerlei Gründen ein spannender und lesenswerter historischer Roman. Lesen!


Robert Löhr:
Der Schachautomat -Roman um den brilliantesten Betrug des 18. Jahrhunderts,
Piper Taschenbuch
9,95 Euro





Links:




Sonntag, 2. Oktober 2011

Morbide und Düster - Pedro A. De Alarcón 'Der Freund des Todes'

Ich hatte diese Bücher bereits vor über 20 Jahren für mich entdeckt, als ich in den Buchhandlungen meiner Heimatstadt auf der Suche nach phantastischer Literatur herumstöberte. Dabei fielen mir diese schmalen, aber überaus kunstreich gestalteten Taschenbücher der Edition Weitbrecht auf, die unter dem Titel 'Die Bibliothek von Babel' vom großen Jorge Luis Borges herausgegeben wurden, und die phantastische Erzählungen von mehr als 40 Autoren aus drei Jahrhunderten und allen Kontinenten vereinten. Jeder einzelne Band der 30-bändigen Reihe wurde von Borges persönlich eingeleitet, indem er die Autoren und deren Werk kurz vorstellt. Die Edition Büchergilde legte diese Serie vor wenigen Jahren erneut in einer ansprechenden Aufmachung als bibliophile Künstleredition mit Umschlagillustrationen von Bernhard Jäger auf, deren ersten Band ich mich heute widme.

Der erste Band der 'Bibliothek von Babel' ist dem Spanier Pedro Antonio de Alarcón gewidmet, einem Autor des 19. Jahrhunderts, der den meisten von uns heute sicherlich völlig unbekannt sein dürfte. Er enthält die beiden Erzählungen 'Der Freund des Todes' (El amigo de la muerte) und 'Die große Frau' (La mujer alta), die seinem Buch 'Unwahrscheinliche Geschichten' (Narraciones inverosimiles) entnommen sind, und die der in Guadix in der Provinz Granada geborene Autor als Überlieferung aus dem Munde der ortsansässigen Ziegenhirten aufgeschnappt haben soll.

'Der Freund des Todes' erzählt vom Schneidersohn Gil Gil, dem das Leben übel mitspielt. Die Schönheit seiner Mutter blieb dem Grafen von Riónuevo nicht verborgen, der Gil als Pagen mit an seinen Hof nimmt, wo er sich in die schöne Elena, die Tochter des Herzogs von Monteclaro verliebt. Doch als der Graf stirbt, wird Gil von dessen Frau, die ihn nie ausstehen konnte, aus dem Haus geworfen. So verliert er binnen kurzem nicht nur seine Anstellung, sein Ansehen, sondern auch seine große Liebe. Als er vor lauter Verzweiflung schließlich beschließt, sich umzubringen, tritt im der leibhaftige Tod gegenüber und trägt ihm, dem Bedauernswerten seine Freundschaft an. Er bietet ihm ein glückliches Leben an, versehen mit der Gabe, als Wunderarzt stets erkennen zu können, ob ein Patient genesen oder sterben wird, wobei ihm der Tod höchstpersönlich jeweils die entscheidenden Hinweise geben würde. So beginnt ein erneuter Aufstieg Gils, der ihm seiner geliebten Elena schließlich wieder nahe bringen soll. Doch dieses Glück währt nur für allzu kurze Dauer....
"Du wirst nicht sterben, weil Du schon tot bist; aber Du wirst bis drei Uhr heute nachmittag schlafen und dann..." (Seite 120)
Während die erste Geschichte des Bandes in der Mitte des 18. Jahrhunderts, also in ferner Vergangenheit spielt, ist die zweite Erzählung 'Die große Frau' zu Lebzeiten des Autors um 1860 angesiedelt. Darin erscheint der Tod in Gestalt einer großen, unheimlichen Frau, die dem Ingenieur Telesforo zunächst zufällig in den nächtlichen Straßen der Stadt begegnet und ihn buchstäblich fast 'zu Tode' erschreckt. Aber jede der darauf folgenden Begegnungen mit ihr kündigt das Ableben eines ihm nahestehenden und geliebten Menschen an.  Am Ende wird die große Frau auch am Grab Telesforos stehen...
"Die große Frau begann zu lachen und zeigte mit ihrem Fächer auf mich, um mich zu demütigen, als ob sie meine Gedanken erraten hätte und den Leuten meine Feigheit preisgeben wollte..." (Seite 152)
Die beiden phantastischen Geschichten personifizieren den Tod, verleihen ihm ein eigenes Gesicht und stellen ihn mitten unter uns ins Leben. Bei aller Kürze trifft Alarcón doch einen Nerv, der uns die geradelinig gezeichneten Gestalten plastisch vor Augen treten lässt und uns mit hinein reißt in den Strudel der schaurigen Geschehnisse.

Fazit: Zwei magische Geschichten eines hierzulande nahezu unbekannten Autors, die ich allen Freunden der phantastischen Literatur ans Herz kann.


Pedro de Alarcón:
Der Freund des Todes,
Die Bibliothek von Babel, Band 1,
übersetzt von Astrid Schmidt,
edition Büchergilde (2007)
152 Seiten
17,90 Euro

Samstag, 24. September 2011

Tiefgründig, anrührend und nostalgisch - Harper Lee "Wer die Nachtigall stört"

Natürlich hatte ich den allseits wohlbekannten Film mit Gregory Peck schon gesehen, als ich noch ein Kind war. Eine dieser typischen alten Südstaatengeschichten, von Apartheit und Rassismus, von 'anständigen Leuten', altehrwürdigen Familien und den Verlierern der damaligen Wirtschaftskrise. Alles schon tausendmal gesehen und gehört. Was diesen Roman aber so anders macht und ihm einen überaus bemerkenswerten Charme verleiht, ist die Perspektive, aus der er erzählt wird. Es ist die Geschichte eines Mädchens, das in einer Kleinstadt im Alabama der 1930er Jahre aufwächst und die ihre Lebenswelt mit den interessierten Augen des neugierigen und unvoreingenommenen Kindes wahrnimmt.

Die neunjährige Scout -- eigentlich Jean Louise Fink ('Finch' im englischen Original) -- und ihr vier Jahre älterer Bruder Jem wachsen in der Obhut ihres Vaters, des Anwalts Atticus Fink und der schwarzen Haushälterin Calpurnia, in der heilen Kleinstadtwelt Alabamas auf. Der Mikrokosmos dieser kleinen Stadt ist für Scout noch ein magischer, oftmals rätselhafter Ort, insbesondere, da sie die Erwachsenen noch nicht verstehen kann. So sind sie und ihr Bruder Jem fasziniert und verängstigt zugleich, wenn es um den mysteriösen Nachbarn Boo Radley geht, der niemals das Haus verlässt, oder wenn sie von den 'fußwaschenden Baptisten' hören, denen alles, was Freude macht, als verdammenswert gilt.
"Dill?""Hm?""Warum ist wohl Boo Radley nie weggelaufen?"Dill stieß einen tiefen Seufzer aus und drehte sich auf die andere Seite."Vielleicht hat er nichts, wo er hinlaufen kann..." (Seite 193)
Erst recht kann Scout nicht verstehen, dass ihr Vater plötzlich zum Schandfleck der Familie wird, als er zum Pflichtverteidiger des schwarzen Farmarbeiters Tom Robinson berufen wird, der ein weißes Mädchen vergewaltigt haben soll. Da Atticus auf dem Standpunkt steht, dass ein Schwarzer vor dem Gesetz gleichberechtigt zu behandeln ist, wird er von einem Großteil der Lokalbevölkerung angefeindet -- und das bekommen auch die Kinder deutlich zu spüren. So dringt mehr und mehr eine ahnungsvolle Furcht in die Welt der beiden Geschwister ein und Atticus hat seine liebe Not, Scout und Jem durch die Spannungen und Widersprüche der sie umgebenden purtanisch und rassistisch gefärbten Welt zu führen.
"Dein Vater hat recht...Nachtigallen erfreuen uns Menschen mit ihrem Gesang. Sie tun nichts Böses, sie picken weder Saat aus dem Boden noch nisten sie in Maisschuppen, sie singen sich nur für uns das Herz aus der Brust. Darum ist es Sünde, eine Nachtigall zu stören." (Seite 124)
Als es dann endlich zum Prozess kommt, gelingt es Atticus, die gegen Tom Robinson vorgebrachten Anschuldigungen zu entkräften, doch hat er gegen die konservative Jury keine Chance, die dem ungeschriebenen und althergebrachten Gesetz folgt, dass die Aussage eines Weißen gegenüber der eines Schwarzen nie angezweifelt werden darf. Atticus ist verzweifelt, da er den darauf folgenden Justizmord nicht verhindern konnte. Durch sein Engagement in Prozess zieht sich Atticus allerdings auch den Hass des Vaters des vorgeblichen Vergewaltigungsopfers zu, der fortan ihm und seinen Kindern nachstellt. Dabei kommt es beinahe zum Äußersten.

Der wunderschön geschriebene (und ins deutsche übersetzte) Roman hat mich tief bewegt und ist für mich in eine Reihe zwischen Mark Twains 'Tom Sawyer und Huckleberry Finn' und J.D. Salingers 'Der Fänger im Roggen' einzuordnen. Die Rassenthematik wurde aus ähnlicher Perspektive von Mark Twain aufgegriffen, während das Thema Kindheit vs. Erwachsenenwelt bei Salinger zu Tage tritt. Die Romanheldin Scout bieten uns einen unvoreingenommenen Blick auf eine Zeit und eine Gesellschaftsordnung, deren Nachwirkungen auch heute noch nicht vollständig überwunden sind und die immer wieder von Neuem zu Tage treten. Vor über 50 Jahren erschien Harper Lees einziger Roman, der noch im gleichen Jahr mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde (ich freue mich übrigens sehr darüber, dass ich ein Exemplar der deutschen Erstausgabe von 1962 ergattern konnte). Eine der Romanfiguren, der Nachbarjunge Dill, sei Truman Capote nachempfunden. Dieser soll Gerüchten zur Folge sogar für einen Teil des Romans verantwortlich sein und seiner Freundin Harper Lee beim Schreiben unter die Arme gegriffen haben. Vielleicht ist ja auch etwas dran, wenn man bedenkt, dass Harper Lee nach ihrem Anfangserfolg nie wieder einen großen Roman veröffentlicht hat.

Fazit: Ein bemerkenswerter Roman, einfühlsam und unterhaltsam zugleich, Weltliteratur, die man gelesen haben muss!


Harper Lee:
Wer die Nachtigall stört
ins Deutsche übersetzt von Claire Malignon,
rororo, 3. Aufl. 2010
528 Seiten
10,- Euro







Dienstag, 13. September 2011

Kurze Geschichte des Buchdrucks (5): Von der Inkunabel zum Bestseller

Augustinus: De Civitate Dei (1470)
gedruckt von Johann v. Speyer 
Bereits einige Jahre vor Gutenbergs Tod 1468 führten seine Schüler Konrad Sweynheim und Arnold Pannartz den Buchdruck in Italien ein und innerhalb von 30 Jahren verbreitete sich die Drucktechnik rasch in ganz Europa. Druckereien, sogenannte "Offizine", entstanden in den wichtigsten europäischen Großstädten, in Rom, Venedig, London, Utrecht und Paris. So fügte der deutsche Drucker Johann von Speyer (†1470), der sich in Venedig als Drucker niedergelassen hatte, seiner Cicero-Ausgabe ”Epistolae ad Familiares“ von 1469 folgendes Kolophon an:
"Jeder Deutsche brachte einst aus Italien ein Buch nach Haus. Was sie mitnahmen zahlt heut ein Deutscher reichlich wieder aus. Nämlich Hans von Speyer, den an Künsten keiner übertrifft. Er bewies, wie man Bücher besser schreibt: mit eherner Schrift." 
Im 15. Jahrhundert gedruckte Bücher, also aus der Zeit, als sich der Buchdruck noch in den Kinderschuhen befand, werden als Inkunabeln (Wiegendrucke) bezeichnet. Dabei wurde das Jahr 1500 als Ende der Inkunabelzeit rein aus bibliografischen Gründen festgelegt. Schätzungen gehen davon aus, dass in dieser Zeit etwa zwischen 24.000 und 40.000 verschiedene Titel [1] mit Auflagen zwischen 100 und bis zu über 2.000 Exemplaren gedruckt wurden [2]. Von diesen sind heute weltweit noch annähernd 550.000 Bücher erhalten [3]. Durch den vorwiegenden Druck in lateinischer Sprache erschloss sich diesen Druckerzeugnissen ein europaweiter Markt, der nicht durch regionale Sprachgrenzen eingeschränkt wurde. Neben Flugblättern, Moritaten, kirchlichen und weltlichen Kalendern zählen politisch, aufrührerische Reden oder Theologica zum Inhalt der ersten Druckwerke.

Aelius Donatus: Ars minor (1497)
Aber welche Bücher wurden als erstes mit Hilfe der neuen Drucktechnik produziert?
Natürlich steht an erster Stelle die Bibel als das wichtigste Buch der damaligen Zeit sowie Grammatiken und Lehrbücher der lateinischen Sprache. Besonders die lateinische Grammatik ”Ars Minor“ des römischen Philologen Aelius Donatus (ca. 310–380 n. Chr.), das populärste Grammatiklehrwerk des Mittelalters, erlebte auch als Druckwerk enorme Verbreitung. Alleine zu Gutenbergs Lebzeiten sollen davon in Mainz 24 Auflagen gedruckt worden sein. Aufgrund des geringen Umfangs von nur 28 Seiten konnte die Lehrgrammatik sehr schnell gesetzt, gedruckt und zudem preiswert verkauft werden. Im 16. Jahrhundert schwand die Bedeutung der Donate. Die mit dem Buchdruck auflebende philologische Wissenschaft sowie die Rückbesinnung der Humanisten auf das klassische Latein Ciceros weckten den Bedarf an differenzierteren und umfangreicheren Grammatiken.

Aber auch die von den Humanisten der Renaissance wiederentdeckten lateinischen Klassiker, wie z.B. die ”Historia Naturalis“ von Plinius dem Älteren (ca. 23-79 n. Chr.) oder auch die Werke von Horaz oder Vergil. Neben Werken in lateinischer Sprache erscheinen auch erste Druckwerke in den jeweiligen ”Volkssprachen“. Weite Verbreitung fand z.B. der ”Ackermann aus Böhmen“ von Johannes von Tepl, geschrieben um 1400 und 1470 erstmals in Bamberg von Albrecht Pfister gedruckt und mit großformatigen Holzschnitten verziert. Dieses Streitgespräch zwischen einem sterbenden Bauern und dem unsterblichen Tod wurde zu einem der ersten Bestseller der Geschichte.
"Erlischt uns Menschen das Lebenslicht, Und scheidet dahin alles irdische Leben, Wie soll´s dann Tod noch und Sterben geben? Wohin, Herr Tod, sollt Ihr dann kommen?" (Johannes v. Tepl: Ackermann aus Böhmen)
Die mit dem Buchdruck einhergehende Verbreitung der Lesefertigkeit förderte das Entstehen neuer literarischer Gattungen, insbesondere der neuen literarischen Gattung des Prosaromans. So entstanden Reiseberichte, satirische Exempelerzählungen wie der ”Eulenspiegel“, Übersetzungen von Volkssagen und neue, unterhaltende oder auch belehrende Romane und Ratgeber.

Conrad Celtis’ Epitaph
Hans Burgkmair d. Ä. (1507)
Insbesondere die Geistesströmung des Renaissance-Humanismus verdankte dem Buchdruck weite Verbreitung und enormen Einfluss. So rühmte der deutsche Humanist Conrad Celtis (1459–1508) die Buchdruckerkunst, erst diese "habe einen Anschluss an die geistige Größe der Antike möglich werden lassen". Startete die Renaissance, die Rückbesinnung auf die Werte und Ideale der Antike im Italien des 14. Jahrhunderts und brachte zahlreiche Dichter, Wissenschaftler und Philosophen hervor, sah der aus Mainz stammende Celtis sich und seine Landsleute diesseits der Alpen als hoffnungslos rückständig und unfähig, diesen geistigen und kulturellen Vorsprung jemals aufzuholen. Die große Chance eines Anschlusses an die Führungsrolle der Kulturvölker bot die neue Erfindung des Buchdrucks, mit dem philologisch korrekte Editionen und Antologien der antiken Werke in großer Auflage und zu einem erschwinglichen Preis produziert werden konnten. So verbreiteten sich bereits während der Inkunabelzeit die Werke zahlreicher antiker Autoren. Cicero, Ovid, Terenz, Horaz und Vergil wurden in großer Stückzahl gedruckt. Aber auch Werke der Rechtssprechung, wie die ”Institutiones Iustiniani“, wissenschaftliche Werke und die medizinischen Werke des griechischen Arztes Galen (129-199) erlangen grosse Popularität und wurden zum Ausgangspunkt kultureller und wissenschaftlicher Entwicklung.

 [Weiter geht es hier demnächst mit Teil 6: Gutenbergs Erben und der Siegeszug des Buchdrucks]


Weitere Beiträge zur Mediengeschichte im Biblionomicon:
Literatur:
  • [1] Brandis, Thilo: Handschriften- und Buchproduktion im 15. und frühen 16. Jh. In: Ludger Grenzmann; Karl Stackmann (Hg.): Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der frühen Reformationszeit. Stuttgart, pp.176-193 (1984)
  • [2] Wehmer, Carl: Zur Beurteilung des Methodenstreits in der Inkunabelkunde. In: Gutenberg Jahrbuch 1933, pp. 250-324 (1933)
  • [3] Badische Landesbibliothek: Nachweis von Inkunabeln der Badischen Landesbibliothek
  • [4] Meinel, Ch., Sack, H.: Digitale Kommunikation  Vernetzen, Multimedia, Sicherheit, Springer Verlag, Heidelberg (2009).

Montag, 29. August 2011

Zwischen Pornografie und antiker Tragödie - Jonathan Littell 'Die Wohlgesinnten'


Zwischen Pornografie und antiker Tragödie scheint nur ein schmaler Grat zu liegen. Dies zumindest legt meine zugegebenermaßen ungewöhnliche Urlaubslektüre von Jonathan Littells umstrittenen Erfolgsroman 'Die Wohlgesinnten' nahe. Erzählt wird dabei die fiktive autobiografische Geschichte von SS-Obersturmbannführer Dr. Maximilian Aue, promovierter Jurist, polyglott, humanistisch gebildet, und unmittelbar an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt, die er uns Lesern aus erster Hand - und dazu aus Sicht des Täters - schildert. Das fast 1400 Seiten starke Werk dominierte aus literarischer Sicht meine letzte Urlaubswoche und hat mich ungleich stärker als manch' anderes Buch der letzten Zeit beschäftigt und zum Nachdenken gebracht...
"Ihr Menschenbrüder, lasst euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wollen es auch gar nicht wissen." (Seite 9)
Aber wie stellt man es an, ein derartiges Werk unvoreingenommen zu beurteilen? Der Holocaust aus Tätersicht beschrieben ist zwar nicht ganz neu (vgl. Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf), aber dieser Täter tritt hier ungleich zivilisierter, kultivierter und gebildeter auf, als man ihn aus den einschlägigen Medien kennt. So beherrscht er Latein und Altgriechisch, spricht fließend Französisch, liebt Couperin und Bach, diskutiert über mittelalterliche Philosophie und liest Klassiker der französischen Romantik im Original. Dadurch bietet er auch für den heutigen 'Kulturbürger' genügend Raum zur Identifikation, dem Jonathan Littell aber gezielt immer wieder den Boden unter den Füßen entreißt, sobald er die mit Krieg und Holocaust verbundenen Grausamkeiten bzw. die perversen sexuellen Phantasien des Protagonisten minutiös schildert.
"Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!" (Seite 39)
Doch erst einmal zur Handlung: Dr. Maximilian Aue, Jahrgang 1913, mittlerweile Direktor einer französischen Textilfabrik zur Spitzenherstellung schreibt die Geschichte seines Lebens, deren Schwerpunkt seine Zeit als SS-Offizier im 2. Weltkrieg bildet. Die Erinnerungen an seinen Vater, der als Freikorps-Mitglied in den Wirren nach dem 1. Weltkrieg verschwand, erscheinen nur noch als blasse Kindheitserinnerungen. Seine Mutter Heloise, eine Französin, lässt den Vater für Tod erklären, um den reichen Franzosen Aristide Moreau zu heiraten und zieht mit Max und seiner Zwillingsschwester nach Antibes an die französische Mittelmeerküste. Diesen 'Verrat' an seinem Vater wird Max seiner Mutter niemals verzeihen.
"Ein Mann mit Überzeugungen? Das war ich früher sicherlich, doch wo war sie heute, die Klarheit meiner Überzeugungen? Zwar konnte ich meine Überzeugungen noch wahrnehmen, sie flatterten leise um mich herum, aber wenn ich versuche, eine von ihnen zu greifen, entglitt sie meinen Fingern wie ein nervöser, glittschiger Aal." (Seite 665)
Mit seiner Zwillingsschwester Una (lateinisch: Die 'Eine') entwickelt sich während des Heranwachsens ein inzestiöses Verhältnis, das von den Eltern entdeckt wird. Max kommt auf ein Internat und ist dort sexuellen Übergriffen der älteren Mitschüler ausgeliefert. Aus Trotz und aus Hass gegenüber seiner Mutter tritt er später in die SS ein. Während seine Schwester in der Schweiz Psychologie bei C.G. Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie, studiert, promoviert Max in Berlin als Jurist. In der SS ist Max gezwungen, seine homosexuellen Neigungen zu verbergen. Sein ständiges Junggesellendasein wird ihm noch manche Rüge, selbst vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler eintragen.

Den Krieg erlebt Max an zahlreichen Schauplätzen in nahezu ganz Osteuropa. Wir finden ihn im Kaukasus, auf der Krim, in der Ukraine. Er ist mit dabei in Babyn Jar, in Stalingrad, in Auschwitz und im Untergang Berlins. Hier ist er aktiv als SS-Offizier an der Vernichtung der Juden beteiligt und erledigt dienstbeflissen seine Aufgaben, ohne dabei allzu offensichtliche Brutalität an den Tag zu legen -- und das ist eigentlich auch das Erschreckende daran. Littell verflicht hier genaue historische Recherche mit einer fiktiven Lebensgeschichte und führt dem Leser Organisationsstrukturen und -abläufe des Grauens unmittelbar und im Detail vor Augen.
"Die Notwendigkeit ist, wie bereits die Griechen wussten, nicht nur eine blinde, sondern auch eine grausame Göttin." (Seite 824)
In Stalingrad verwundet besucht Aue seine Eltern auf Genesungsurlaub in Frankreich. Der Hass auf seine Mutter, in den er sich während des Krieges hineingesteigert hatte, entlädt sich im Mord, an den er selbst aber keine Erinnerung mehr hat. Er erwacht am Morgen nackt in seinem Bett und entdeckt den Stiefvater mit der Axt in der Brust und seine Mutter erwürgt. Überstürzt flüchtet er zurück nach Berlin. Aber die Tat lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Die Kriminalpolizei nimmt Ermittlungen auf und schnell verheddert sich Aue trotz der Protektion seiner Vorgesetzten immer tiefer. Die beiden Kriminalbeamten Clemens und Weser verfolgen den Obersturmbannführer fortan wie die griechischen Rachegöttinnen selbst in den unglaubwürdigsten Situationen, wie z.B. bei der Auflösung des Konzentrationslagers Ausschwitz beim Anrücken der Roten Armee oder im Endkampf um Berlin. Auch wenn Max Aue am Ende den Krieg überleben wird, wird ihn die Tat des Muttermordes wie auch seine ungesühnte Beteiligung am Holocaust Zeit seines Lebens nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
"Die Katastrophe war bereits eingetreten, und sie bemerkten es nicht, denn die Katastrophe ist der Gedanke an die bevorstehende Katastrophe, der alles Gute noch vor Eintritt des Unheils verdirbt."(Seite 620)
Ich hatte mich erst relativ spät nach Beginn der Lektüre gefragt, warum der Roman diesen seltsam anmutenden Titel 'Die Wohlgesinnten' trägt. Der Titel bezieht sich auf den letzten Teil der Orestie des Aischylos, der Jonathan Littells Roman nachempfunden ist. Der griechische Held Agamemnon wird von seiner Frau Klytaimnestra und ihrem Liebhaber bei seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg ermordet. In gleicher Weise wähnt Aue seine Mutter und ihren neuen Mann am Tod seines Vaters verantwortlich. Orest, Agamemnons Sohn, tötet seine Mutter und deren Liebhaber und wird fortan von den Rachegöttinnen, den Erinyen, verfolgt. Diese Rolle der Erinyen übernehmen die beiden Kriminalbeamten Clemens (lateinisch: Der 'Sanfte') und Weser, die Aue fortan auf der Spur sind und diesen nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Während Orest von der Göttin Athene beschützt wird, in deren Tempel er sich flüchtet und der es letztendlich gelingt, die Erinyen zu besänftigen, wird Aue von den SS-Oberen protegiert.

Um die historischen Tatsachen weiter zu verfremden, treten zwei fiktive Industrielle -- Dr. Mandelbrot und Herr Leland -- als Aues Gönner auf, wobei Dr. Mandelbrot auch durchaus als genialer Schurke eines James Bond Films durchgehen könnte, in Anbetracht seiner seltsamen Vorliebe für Katzen und seinen blonden, sich einander zu stark ähnelnden, walkürehaften Assistentinnen in SS-Uniform, die sich Max Aue -- wenn auch vergeblich -- in Liebesdingen andienen. Mandelbrot wird geschildert als nahezu bewegungsunfähiger Mann von immenser Leibesfülle, der mit Hilfe eines Elektrorollstuhls bewegt wird, und der unter zunehmender Flatulenz leidet. Sein Einfluss auf die NS-Politik scheint enorm und nach Kriegsende wird er sein dunkles Spiel nahtlos in Moskau auf der Gegenseite fortsetzen.

Doch neben der fiktiven Romanhandlung steckt hinter allem die historische Realität, die minutiös, wenn auch oft nur im Vorbeigehen geschildert wird. Natürlich macht sich ein gebildeter Mensch wie Dr. Aue auch seine Gedanken zur Rechtfertigung der Aufgaben der SS und zur Judenfrage. Die kühle Distanziertheit und die sich scheinbar schlüssig ergebende Notwendigkeit in den Augen Aues verstört den Leser, der sich immer wieder fragt, wie er in der gleichen Situation denn gehandelt hätte.
"Mit einem Mal spürte ich das ganze Gewicht der Vergangenheit, den Schmerz des Lebens und des unerbittlichen Gedächtnisses, ich blieb allein[...]allein mit der Zeit und der Traurigkeit und dem Leid der Erinnerung, mit der Grausamkeit meiner Existenz und meines künftigen Todes. Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen." (Seite 1359)
Es ist zu einfach, die Täter immer nur in die Ecke der pathologischen Gewaltmenschen rücken zu wollen. Schuld trägt jeder, der zur Tat beigetragen hat. Wo aber beginnt diese Schuld und wo hört sie auf? Inwiefern trägt der Befehlsempfänger die Schuld, der den Hebel zum Gashahn bedient hat, der wohl noch am direktesten an den Morden beteiligt war, im Gegensatz zum Weichensteller, der die Weiche des Zuges bedient hat, die diesen aus Deutschland nach Auschwitz gelenkt hat? Sind nur die Entscheidungsträger an der Spitze verantwortlich, die von den Befehlsempfängern ein 'Mitdenken im Sinne des Befehlsgebers' verlangt hatten? Die hier thematisierte Schuldfrage war für mich einer der nachdenklichsten Aspekte des Romans. Allerdings haben mich die vielfach wiederkehrenden, pornografisch anmutenden sexuellen Fantasien des Protagonisten bei der Lektüre mehr und mehr angewidert. Wahrscheinlich sind sie aber auch genau in diesem Sinne gedacht.

So gibt diese kurze Rezension eigentlich nur die 'Spitze des Eisbergs' zu einem umfangreichen und vielschichtigen Roman wider, in dem griechische Tragödie inklusive eines ansehnlichen Restes bürgerlichen Bildungskanons vermengt mit historischer Realität und pornografischen Gewaltfantasien zu einem gigantischen Mashup geraten.

Fazit: Ein gigantisches Werk, angesiedelt zwischen Bildungsroman und Pornografie. Nichts für jedermann, aber man sollte es gelesen haben!


Jonathan Littel:
Berlin Verlag (2008)
1392 Seiten
36,00 Euro






Links:





Donnerstag, 18. August 2011

Alles wegen Ada - Friedrich C. Delius 'Die Frau, für die ich den Computer erfand'

Konrad Zuse, das lange verkannte Genie, hatte hier in Deutschland schon immer einen schweren Stand. Wer weiß schon, dass im vergangenen Jahr, anlässlich Zuses 100-ten Geburtstag, tatsächlich auch das "Zuse-Jahr" gefeiert wurde, mit dem der Erfinder des Computers gebührend gewürdigt werden sollte. Und überhaupt war es ein langer Kampf, bis Zuse tatsächlich die Anerkennung bekam, die ihm zustand. Für mich als Informatiker ist Friedrich C. Delius' Roman 'Die Frau, für den ich den Computer erfand' auch ein ganz besonderes Stück, das ich aus meinem persönlichen Blickwinkel heraus betrachte und bewerte.

Überhaupt hörte ich erst etwas von Konrad Zuses Existenz und Bedeutung, als ich damals in München mein Informatikstudium begann. Zu dieser Zeit war der geniale, aber wenig vom Glück begünstigte Tüftler und Erfinder einer deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt, obwohl er tatsächlich verantwortlich ist für die heute wohl wichtigste und bahnbrechendste technische Erfindung der letzten 50 Jahre. Naja, natürlich ist er das, aber die Geschichte geht eben ihren eigenen Lauf bzw. wird die Geschichte - wie es ja immer heißt - von den Siegern geschrieben. Und das waren nach Ende des 2. Weltkrieges natürlich Amerikaner und Briten, die mit ihren eigenen Entwicklungen auf dem Gebiet der Informatik zwar ein gutes Stück hinter Konrad Zuse zurück lagen, doch wusste leider auch niemand davon.

Aber erst einmal alles der Reihe nach. Delius schrieb dieses Buch als gut 150-seitigen Monolog Konrad Zuses, ein Gespräch mit einem Journalisten Mitte der 1980er Jahre, das an einem einzigen Abend stattfand und bis in die Morgenstunden andauerte. Schauplatz des Geschehens war der hessische Stoppelsberg, ein erloschener Vulkan in der Rhön, nahe Zuses früherer Wirkungsstätte. Für einen Informatiker kommt Zuse zunächst allzu klassisch gebildet daher, zumindest was das allgemeine Klischee meiner Zunft betrifft, das uns ja Scheuklappen und Berufsblindheit attestiert. Er betrachtet sich und seine Arbeit unter dem Aspekt der Faust-Geschichte, in der Mephisto den genialen Wissenschaftler Faust um den Preis seiner Seele verführt.

Allerdings gibt es kein Gretchen, für die Zuse den Computer erfand -- die war ja auch nur ein 14-jähriges, unschuldiges Mädchen in der Faust-Geschichte. Vielmehr müssen wir an dieser Stelle schon Teil 2 der Tragödie bemühen, und unserem Zuse eine Helena zu suchen. Wer kann dabei anderes in Frage kommen, als die "Mutter" aller Programmierer, nämlich Ada Augusta Byron Countess of Lovelace, Tochter des berühmten Lord Byron und Assistentin des genialen Charles Babbage, der bereits im 19. Jahrhundert die Idee der universalen Rechenmaschine mit seiner mechanisch betriebenen Analytical Engine vorwegnahm, die zwar nur eine Idee auf dem Papier blieb, aber für die Ada doch die allerersten Computerprogramme entwickelt und geschrieben haben soll. Zuse liest in einer Bibliothek über Ada in einer kleinen Randnotiz eines Mathematikbuches und verliebt sich in die Idee, dass es da eine Frau, zumal eine Mathematikerin gegeben hat, die zwar über 100 Jahre vor ihm gelebt hat, die ihm aber seelenverwandt erscheint. Sie ist es, die zur Triebfeder seiner Ingenieurskunst wird, und die ihn über die Jahre hinweg stets -- wenn auch nur in Gedanken -- begleitet.

Wir erfahren eine Menge über Zuse und die Geschichte des Computers. Angefangen mit dem bereits legendären leergeräumten Wohnzimmer von Zuses Eltern, in der er zusammen mit Freunden und unterstützt von seiner Familie die allererste, zunächst noch mechanische Rechenmaschine baut, dann die erste elektromechanische Rechenmaschine bis hin zu den Ideen des allerersten vollelektronischen Universalrechners. Wir hören von all den Problemen, die die Kriegszeit mit sich brachte, und Zuses abenteuerlichen Flucht aus Berlin am Ende des Krieges. Als er dann nach dem Krieg versucht, seine Firma aufzubauen, scheiterte er nur allzu oft am technischen Unverständnis der deutschen Nachkriegswirtschaft, die die Bedeutung und Tragweite der neuen Computer noch nicht einschätzen kann. Dies geht sogar soweit, dass sich das Patentamt nahezu 20 Jahre Zeit lässt, um über Zuses Patent für den Computer zu entscheiden, um es anschließend wegen "mangelnder Erfindungshöhe" abzuweisen.

Delius wählt die ungewöhnliche Erzählform des Monologs, um die Geschichte mit Zuses eigenen Worten zu erzählen. Dies verleiht ihr Authentizität und hält den Leser auch dann bei der Stange, wenn er kein Informatiker sein sollte. Natürlich handelt es sich um einen Roman, also um eine fiktive Geschichte. Allerdings hat Delius dennoch eine Menge Fakten und historische Tatsachen um den seltsamen deutschen Erfinder gesammelt, die dem Leser auf kurzweilige und unterhaltsame Weise präsentiert werden.

Fazit: Die ungewöhnliche Geschichte eines ungewöhnlichen "deutschen" Erfinders, der seiner Zeit um Jahre voraus war ... das war allerdings auch sein Pech! Unbedingt lesen, auch für Nichtinformatiker!
Friedrich Christian Delius:
Rowohlt, Berlin (2009)
288 Seiten
19,90 Euro










Freitag, 12. August 2011

Vom Mythos zur Propaganda - Jean-Pierre Luminet 'Alexandria 642'

Natürlich ist da an aller erster Stelle der Mythos vom Hort und Schmelzpunkt des antiken Weltwissens, die Bibliothek von Alexandria, angegliedert an das alexandrinische Museion, Forschungsinstitut und 'Think Tank' der griechisch-hellenistisch geprägten Antike. Und im gleichen Atemzug hebt der moderne Bildungsbürger an zu einem Seufzer, um all dem verlorenen Wissen nachzutrauern, das mit dem Niedergang dieser antiken Bildungsstätte zugleich verschwand. Und genau hier setzt auch die Propaganda an, gleich aus welcher kulturell-ideologischen Ecke sie stammte, wenn es darum ging, wem denn nun die Verantwortung an diesem unwiederbringlichen Verlust zugeschanzt werden soll....

Wir schreiben das Jahr des Herren 642, oder sollten wir besser sagen, wir befinden uns im 20. Jahr, nachdem der Prophet die Stadt Mekka verlassen hatte und die islamische Zeitrechnung begann. Der islamische Feldherr Amr Ibn Al-As steht vor den Toren der Stadt Alexandria, die über kurz oder lang zum Ruhme des Allmächtigen eingenommen werden wird. Die allgemeine Panik erfasst auch Johannes Philoponos, den letzten 'Bibliothekar', der um den Fortbestand seiner Bibliothek bangt. Zusammen mit seiner Großnichte Hypathia und dem Arzt Rhazes versuchen die drei den Feldherren von seinem ursprünglichen Plan abzubringen, die Bibliothek und all' ihre in den 1000 Jahren ihres Bestehens gesammelten Schriften den Flammen zu überantworten.

Dabei holen sie weit aus und zeichnen das Bild der antiken Gelehrsamkeit beginnend mit der Gründung Alexandrias im 4. vorchristlichen Jahrhundert durch Alexander den Großen, über die Gründung des Museions und der Bibliothek durch Ptolemaios I. Soter und die großen Gelehrten der Antike, die alle zumindest die Bibliothek einmal besuchten, bis hin zu ihrem fortdauernden Verfall, angefangen beim Brand der Hafenanlagen während des römischen Bürgerkrieges zwischen Cäsar und Pompeius, bis hin zu den frühchristlichen Eiferern und ihrer Wut gegen die heidnischen Schriften. So hören wir von Aristoteles, dem Lehrer Alexanders und von Euklid, dem Vater der Mathematik und der Geometrie. Aristarch von Samos berechnet die Entfernung von der Erde zur Sonne und schlägt als erster ein heliozentrisches Weltbild vor, das die Erde nicht mehr als Zentrum des Universums sieht, sondern diese auf eine Kreisbahn um die Sonne schickt. Archimedes und seine zahlreichen Erfindungen, nicht zuletzt seine gefürchteten innovativen Kriegsgeräte, und Eratosthenes, dem es mit erstaunlicher Genauigkeit gelang, den Erdumfang mit Hilfe einfacher Dreiecksberechnungen zu bestimmen. Zahlreiche weitere Wissenschaftler kommen zu Wort, so z.B. der Astronom Hipparch, der Geograph Strabon, der Philosoph Philon von Alexandria, der versuchte biblisches Gedankengut und hellenistisch-philosophische Ideen miteinander zu verbinden, und der großen Einfluss auf die Kirchenväter ausübte. Seneca, Epiktet, Klaudios Ptolemaios, der Arzt Galenos, der Mathematiker Diophantos, oder auch die Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypathia von Alexandria als erste Märtyrerin der Wissenschaft gegenüber religiöser Intoleranz.

Luminet schwelgt in diesem Kanon des antiken Wissens und spinnt darum eine einfache Geschichte, der es genauso ergeht, wie einem Film über die Titanic: Man weiß, die Bibliothek wird am Ende untergehen. Trotzdem werden die ungeheuer vielen Fakten auf unterhaltsame Weise zusammen mit Anekdoten und Geschichten dargestellt, so dass sie niemals langweilig wirken. Ein ausführliches Personenverzeichnis mit Zeittafeln und wissenschaftlichen Fußnoten runden das Buch ab und geben vertiefende Auskunft über die zahlreichen dargestellten Fakten.

Und der Leser wird gefesselt durch die vergebliche Aussicht, dass es den Protagonisten doch gelingen könnte Amr vom Auftrag seines Kalifen Omars abzubringen. Doch leider steht am Ende das Urteils Omars über die heidnische Wissenschaft schon lange fest. Denn steht in den heidnischen Schriften nichts, was dem Koran widerspricht, so sind sie überflüssig und können verbrannt werden. Anderenfalls widersprechen sie dem Wort Gottes und müssen aus eben diesem Grund verbrannt werden. Aber auch diese Geschichte wurde wie so viele andere auch wahrscheinlich nur erfunden zum Zweck politischer und religiöser Propaganda gegenüber einem Gegner, den man ob der stattgefundenen Barbarei mit einem Brandmal versehen wollte.

Fazit: Mehr Sachbuch als Roman, aber für alle, die an der Welt der Antike interessiert sind, ein absolutes MUST READ!

Jean-Pierre Luminet:
Deutscher Taschenbuchverlag (2005)
287 Seiten
8,90 Euro

Mittwoch, 10. August 2011

Wo steckt eigentlich Dr. Evil? - Frank Schätzing 'Limit'

Ja, das fragt man sich tatsächlich, wenn man sich erst einmal in Frank Schätzings schwergewichtige Weltraum-Oper 'Limit' vertieft und hoffentlich nicht den Faden verloren hat, angesichts der eng bedruckten 1328 Seiten...Wo steckt eigentlich Dr. Evil? Denn auf diese tragikomische Gestalt wartet man eigentlich die ganze Zeit über, in der diese Mega-Story (was den Umfang betrifft) abrollt, die einem James-Bond-Film alle Ehre machen würde. Schön, dass der Erfolgsautor Schätzing nach seinem Ozean-Erfolg 'Der Schwarm' in den Weltraum und damit in die nahe Zukunft wechselte, aber musste die Geschichte unbedingt so lang geraten....?

Wir schreiben das Jahr 2025. Julien Orley, Selfmade-Milliardär -- irgendwie erinnert er mich an eine Mischung aus Richard Branson (Virgin Galactic) und Tim O'Reilly (Web 2.0) -- , hat der Menschheit mit der Kernfusion eine neue und annähernd grenzenlose Energiequelle geschenkt. Was man dazu braucht, ist das Isotop Helium-3, das in ausreichenden Mengen auf unserem Erdtrabanten, dem Mond, vorkommt. Aber um da heran zu kommen, muss auch die Weltraumfahrt revolutioniert werden. Und zu diesem Zweck hat Orley einen Weltraumfahrstuhls konstruiert, wie ihn der Science Fiction Autor Arthur C. Clarke bereits 1978 in einer Geschichte aufgegriffen und öffentlich bekannt gemacht hatte (übrigens hatte Clarke auch 1945 die Idee der geostationären Satelliten vorweggenommen). Der Weltraumlift bietet eine preiswerte und rentable Möglichkeit, Personen und Fracht ins All bzw. von dort zur Erde zu transportieren.
"Wie eigenartig. Selbst so etwas Exotisches wie Raumfahrt schien nur in der Kultivierung irdischer Mythen zu funktionieren, einfach, indem man Kletterhaken des Gewohnten in das Fremdartige trieb." (Seite 1136)
Um sein Unternehmen im großen Stil weiter auszuweiten und zu expandieren lädt Orley eine illustre Gruppe von einflussreichen Größen aus Wirtschaft und Unterhaltung ein, sein neues Hotel auf dem Mond zu eröffnen. Das Unternehmen soll den Investoren durch ein Erlebnis der besonderen Art schmackhaft gemacht werden und so erleben wir die Fahrt im Weltraumlift und den anschließenden Transport zum Mond hautnah und aus verschiedenen Perspektiven mit.
Zur gleichen Zeit wird der private Cyber-Ermittler Owen Jericho von seinem chinesischen Freund Tu Tian um einen Gefallen gebeten. Er soll die verschwundene Dissidentin Yoyo aufspüren. Dabei geraten alle drei in den Dunstkreis einer weltweiten Verschwörung, deren Angriffsziel die Unternehmungen Orleys darstellen, da sie die bestehende Welt- und Energiewirtschaft auf den Kopf stellen und so die gewohnte Weltordnung in Frage stellen.

Interessanter Fakt, die 1328 Seiten lassen sich tatsächlich inhaltlich recht knapp zusammenfassen. Eigentlich ist die Story ja auch ziemlich spannend, sie hätte sich aber auch mit gut 500 Seiten weniger erzählen lassen, ohne dass man dann den Eindruck gewinnen würde, dass etwas fehlt. Schätzing gestaltet die nicht allzu ferne Zukunft überaus interessant mit kleinen aber gewichtigen Innovationen, wie z.B. (halb-)autonome Fahrzeuge, 3D-Displays ohne Brillen (gibt es übrigens schon), aber auch den großen Themen Kernfusion, Mondprogramm und Weltallfahrstuhl. Besonders interessant auch zu lesen die wachsende Dominanz Chinas und dessen kultureller Einfluss selbst auf Alltägliches im ganzen Rest der Welt. Allerdings gerät dabei die ein oder andere gesamtwirtschaftliche oder politische Darstellung viel zu ausführlich. Schätzing verfolgt ganz ähnlich wie im "Schwarm" die Strategie, den Lesern quasi in Dialogform komplexe Entwicklungsprozesse vor Augen zu führen, die dann doch aber oft etwas aufgepfropft wirken und über weite Strecken den ein oder anderen Leser nur langweilen. Hier wäre eine etwas knappere, kondensierte Form dem Lesegenuss wohl eher entgegengekommen. Insbesondere, wenn man danach dann immer wieder auf Groschenroman-Metaphern stößt wie diese:
"Die Partei war von Geheimdiensten durchzogen wie der Gorgonzola von Schimmel" (Seite 445)
Überhaupt, wie ja schon anfänglich behauptet, entwickelt sich die ganze Geschichte tatsächlich wie einer dieser James-Bond-Filme: da haben wir die Jet-Set Superreichen, den coolen Cyber-Cop als einsamen Wolf, die vom Vater unverstandene Hacker-Dissidentin und einen ultrabrutalen Erz(!)schurken, auf dessen verdeckt operierende Hintermänner der Leser gespannt lauert. Dazu kommt dann noch das ganze Arsenal technologischer Gadgets, die allesamt in den Bereich der nahen Zukunft gehören. Eigentlich wartet man die ganze Zeit förmlich darauf, einen gesetzteren Mann mit Glatze, Mao-Anzug und Katze auf dem Schoß vorzufinden, der heimtückisch grinsend den kleinen Finger zum Mund bewegt....

Fazit: Etwas für hartgesottene Fans, die nicht davor zurückschrecken, auch einmal ein paar uninteressante Seiten zu überblättern. Ansonsten zwischendurch ganz interessant und ab und an auch spannend...


Frank Schätzing:
Kiepenheuer & Witsch (2009)
1328 Seiten
26,00 Euro (Hardcover)