Samstag, 29. Dezember 2012

Alice und die Mondknochen - Jonathan Caroll 'Laute Träume'

Die Analogie zwischen Lewis Carolls 'Alice im Wunderland' und dem Roman seines Namensvetters Jonathan Carroll 'Laute Träume' liegt nahe. Zwar fällt die Heldin der 'Lauten Träume' nicht wie Alice in einen Kaninchenbau, aber in ihren Träumen erlebt sie nicht minder fantastische Geschichten.

Die Geschichte beginnt mit einem Doppelmord. In einem New Yorker Mietshaus erschlug der unscheinbare Nachbar Mutter und Schwester.
"Der Axtmörder wohnte eine Treppe tiefer. Wir kannten uns, weil er ständig seinen kleinen hässlichen Hund ausführte, den ich immer streichelte, wenn ich den beiden zufällig im Hausflur begegnete." (erster Satz)
Cullen, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, sitzt währenddessen mit ihrem Mann und Baby Mae am Frühstückstisch. Im nebensächlichen Plauderton schweift die Geschichte ab und Cullen erzählt uns, wie sie ihren Mann kennenlernte, über den Umweg einer vorangegangenen unglücklichen Beziehung verbunden mit einem Schwangerschaftsabbruch. Doch was zunächst als eine Nebensächlichkeit abgetan wird, wirft deutliche Schatten in Gestalt von Cullens immer wiederkehrenden, lebhaften Träumen, in denen sich eine Art Fortsetzungsgeschichte in einer fantastischen Welt namens Rondua entspinnt. In ihren Träumen hat Cullen eine Aufgabe gemeinsam mit einer Menge Fabelwesen und ihrem ungeborenen Sohn Pepsi zu erfüllen, während sie in der realen Welt in New York das Leben einer jungen Mutter zu bestehen hat. Mit der Zeit wird ihr klar, sie war nicht zum ersten Mal in Rondua, doch diesmal ist es an ihrem Sohn Pepsi, die große Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, das Land mit Hilfe der fünf Mondknochen zu retten. Mehr und mehr gerät Cullen in den Sog ihrer lebhaften Traumwelt und die Grenzen zwischen Traum und Realität beginnen zu verwischen. Als ihr der Regisseur Weber Gregston bei einem Interviewtermin zu nahe kommt, schlägt sie ihn mit einem magischen Blitz nieder. Der vom Blitz Getroffene ist nicht nur plötzlich in sie verliebt, vielmehr beginnt er ebenfalls vom Traumland Rondua zu träumen. Doch was steckt tatsächlich hinter Cullens Träumen, in denen sich der Konflikt zwischen Gut und Böse immer mehr zuspitzt und der sich mehr und mehr in die Realität hinein erstreckt?

Klingt doch eigentlich gar nicht schlecht, oder? Nur irgendwie hat es der Roman trotz des fulminanten ersten Satzes nicht geschafft, mich wirklich in seinen Bann zu ziehen. Irgendwie wirkt die anfänglich im Plauderton erzählte Geschichte etwas halbbacken, trotz des im starken Kontrast dazu gipfelnden Endes. Die fantastische Welt ist in meinen Augen viel zu blass geraten und wird meist nur punktuell angedeutet, während die New Yorker Realität Cullens durchgehend interessant und unterhaltsam, wenn auch mit einigen Längen geschildert wird. Immerhin schien Jonathan Carroll das Thema der Traumwelt Rondua für interessant genug gehalten zu haben, fünf weitere Romane darin spielen zu lassen, auf deren Bekanntschaft ich jetzt allerdings verzichten werde.

Fazit: Starker Anfang, gute Idee, aber leider mit gezogener Handbremse ausgeführt.

Jonathan Carroll
Laute Träume (engl. Bones of the Moon)

Phantastische Bibliothek Nr. 197
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.,
1997
200 Seiten

Sonntag, 16. Dezember 2012

Psychologisches und Konstruiertes - Philip Sington "Das Einstein Mädchen"

Was für ein bescheuerter Titel für einen Roman. Aber wie heißt es doch: 'Don't judge a book by the cover' und daher also auch nicht notwendigerweise nach dessen Titel. Natürlich hat das Buch etwas mit Albert Einstein zu tun. Zudem spielt es laut Klappentext auch in meiner Nachbarschaft, eine Kombination von der ich mir einiges versprach. Aber wir werden sehen....

Die Handlung des Romans von Philip Sington spielt vorwiegend in Berlin sowie Potsdam und Caputh, letzteres der Standort von Albert Einsteins berühmten Sommerhaus, zur Zeit kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Eine wunderschöne junge Frau wird halbnackt und bewusstlos im Wald nahe Caputh aufgefunden und in die Berliner Charité eingeliefert.  Der einzige Hinweis auf Ihre Identität bleibt zunächst ein Handzettel, der bei ihr gefunden wurde, auf dem eine öffentliche Vorlesung Albert Einsteins zum 'aktuellen Stand der Quantentheorie' angekündigt wird. Als die Frau wieder zu sich kommt, kann sie sich an nichts erinnern, weder daran, wer sie ist, noch wie sie in diese Lage gekommen ist. Der Psychiater Martin Kirsch, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird,  nimmt sich des interessanten Falls der von der Presse als 'Einstein-Mädchen' bekannt gemachten Frau an. Als er versucht, mehr über seine Patientin herauszufinden geschieht das Unerhörte und der Arzt entwickelt eine starke Zuneigung zu seiner Patientin. Da Kirsch in einem wissenschaftlichen Aufsatz auf die Schwächen der Psychologie als exakte Wissenschaft hingewiesen hatte, erweckt er die Aufmerksamkeit eines führenden nationalsozialistischen Wissenschaftlers, der ihn für seine Zwecke im Gesundheitswesen einspannen will. Doch alles gerät in Bewegung. Kirschs Verlobung mit einer reichen Industriellentochter gerät zur Farce, seine Kollegen hintertreiben seine Bemühungen und im Zuge seiner "Ermittlungsarbeiten" führt die Spur über den entlegensten Winkel Serbiens nach Zürich zu Mileva Einstein, Albert Einsteins Exfrau und dessen Sohn Eduard, der auf dem Weg war, ein brillianter Psychiater zu werden, aber an Schizophrenie erkrankt und in der bekannten Züricher Burghölzli Klinik vor der Öffentlichkeit weggeschlossen lebt. Die anfangs spannende Geschichte endet in einem reichlich konstruierten, tragischen Ende, in das auch Albert Einstein selbst mitverwickelt wird.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen und war am Anfang vom Sog der geheimnisvollen Geschichte und ihren Referenzen an die tatsächlichen Ereignisse der Zeit mitgerissen. Doch leider geriet die Erzählung mit Fortschreiten der Handlung in meinen Augen leicht aus dem Ruder. Vom langwierigen Psychologisieren über das unvermeidliche Sichverlieben des Arztes in die mysteriöse Schönheit hin zu einem Ende, das mit Gewalt an den Haaren herbeigezogen scheint. Leider hat es Philip Sington nicht geschafft, mich mitzunehmen in die turbulenten 1930er Jahre Berlins, das im Roman eher wie eine abgestandene Theaterrequisite mehr oder weniger blass daherkommt. Hier hatte ich mehr erwartet. Auch konnte ich mich nicht mit dem Protagonisten und seinem Innenleben anfreunden. Der in anderen Rezensionen gelobte "echte, ernsthafte und politische Tiefgang" reißt es dann auch nicht heraus, zumindest habe ich diesen nicht in gleichem Maße empfunden. Ebenso entspreche ich nicht der Einschätzung vom 'Einstein-Mädchen' als "Unterhaltungsroman auf hohem Niveau". Hätte er dies, erschiene das Ende weniger konstruiert und mehr plausibel.

Fazit: Unterhaltungsroman mit historischem Hintergrund und ein wenig Berliner Lokalkolorit, von dem ich mir mehr erwartet hatte.

 Philip Sington
 Das Einstein-Mädchen

 Deutscher Taschenbuch Verlag
 (2012)
 464 Seiten
 9,95 Euro

Montag, 10. Dezember 2012

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich...

Um auch gleich bei den untreuen Ehefrauen zu bleiben (vgl. Effie Briest aus dem letzten Beitrag), darf in dieser Rubrik natürlich auch nicht Tolstois 'Anna Karenina' fehlen. Insbesondere da gerade auch eine Neuverfilmung in den Kinos anläuft, sollte man wieder einmal die Werbetrommel für das zugegebenermaßen umfangreiche literarische Werk rühren, dessen gut 1200 Seiten ihren bedeutungsschwangeren Tribut zollen. Also nichts für zwischendurch aber perfekt für die Zeit zwischen den Jahren, auch wenn diese Zeit für die ausschweifenden Tolstoischen Erzählarabesquen recht knapp bemessen scheint. Aber schon der erste Satz dieses Werkes ist ein ganz besonderer. Wusstest Ihr übrigens, dass er in Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' zitiert wurde?


Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.
...und damit ist schon viel über die Geschichte gesagt. Wir wissen ja, dass untreuen Ehefrauen in der mitunter moralintriefenden Literatur des 19. Jahrhunderts ein ganz bestimmtes Schicksal beschieden war. Das ist ähnlich wie mit dem Untergang der Titanik. Wir alle wissen wie es endet. Trotzdem fasziniert uns die Geschichte immer wieder aufs Neue.

Leo Tolstoi: Anna Karenina, Erstausgabe 1878.

Eine komplette Rezension zu Leo Tolstois 'Anna Karenina' gibt es hier bei den Damen von leselink.de.

Mittwoch, 28. November 2012

In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm....

Es ist einer DER Klassiker, wenn es um das Thema "gelangweilte Ehefrau hat eine Affaire, die sie noch bereuen wird" geht. Doch während Flauberts 'Madame Bovary' keinen Ausweg aus ihrem Dilemma mehr sieht und sich selbst mit Gift das Leben nimmt, steht Fontanes Titelheldin 'Effie Briest' dem Leben weitaus positiver gegenüber. Aber auch Fontane ist noch gebunden in den Zwängen seiner Zeit und gibt dem Roman ein etwas moralinsaures Ende. Tatsächlich soll ein aus Liebe und Eifersucht heraus geführtes Pistolenduell auf der Berliner Hasenheide, in dem sich am 27. November 1886 Richter Emil Hartwich und Baron Armand Léon von Ardenne gegenüberstanden, die Vorlage zu Fontanes Roman geliefert haben nach einer Affäre Hartwichs mit Ardennes Ehefrau Elisabeth. Richter Hartwich starb am 1. Dezember an den Folgen der im Duell erlittenen Schusswunde. Man mag von Fontane halten was man will, Hauptsache, man setzt sich einmal mit ihm auseinander und bildet sich seine eigene Meinung, da er ein Fenster in dieses ferne 19. Jahrhundert öffnet, das uns heute trotz unenthaltsamer Medienberieselung so fremd geworden ist. Ein guter Freund nannte Fontane auch schon einmal den "am meisten überschätzten deutschen Autor", aber seine Effie Briest ist wirklich einer der Romane, die man kennen sollte. Alleine schon der erste Satz zeigt, dass Fontane alles andere als ein 'Action'-Schriftsteller war, sondern sich viel Zeit ließ - manchmal für meinen Geschmack auch ein wenig zu viel - um die Szenerie eingehend exakt, mitunter auch für den Fortgang der Geschichte viel zu detailliert, zu schildern...

"In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. "

Theodor Fontane, Effie Briest, Erstausgabe 1896,

Donnerstag, 22. November 2012

Der Zeit pfuscht man nicht ins Handwerk - Stephen King 'Der Anschlag'

Staunen, ja sogar Entsetzen schlug mir entgegen, als ich verkündete, was ich mir da als neuen Lesestoff auserkoren hatte. "Also das hätte ich jetzt nicht von Dir gedacht...". Zugegeben, es ist bestimmt schon mehr als 20 Jahre her, dass ich meinen letzten Stephen King, den Horror-Klassiker "Es" gelesen habe. Seither hatte sich mein Interesse an der Literatur doch etwas verlagert. Aber als ich eine nahezu als enthusiastisch zu bezeichnende Rezension in der Zeit gelesen hatte - bei der Zeit muss man ja schon zufrieden sein, wenn sie ein - zumindest für mich - halbwegs lesbares literarisches Werk nicht ausschließlich nur niedermacht - wurde ich doch neugierig. Insbesondere da es bei diesem Roman um das Thema Zeitreisen gehen sollte, war ich gespannt, wie sich der von seinen Jüngern hochverehrte Meister der Horror-Bestseller-Literatur diesem für ihn eigentlich unüblichen Thema widmen würde...

Man beginnt also in den ersten Seiten vor sich hinzulesen und merkt recht schnell, wie einen die Geschichte in ihren Bann zieht. Fesselnd schreiben kann er ja. Nun, ob Sie's glauben oder nicht, Jake Epping, seines Zeichens Englischlehrer in der Erwachsenenbildung, wird von seinem krebskranken Freund Al Templeton, dem Besitzer eines alten Diners, in ein unglaubliches Geheimnis eingeweiht. Die Stufen hinab in den Vorratskeller von Als Schnellrestaurant führen geradewegs in die Vergangenheit des Jahres 1958, und zwar genau zum 9. September, 11.58 Uhr. Und das tun sie anscheinend immer wieder. Egal, wie lange man sich in der Vergangenheit aufhält, in der Gegenwart vergeht immer nur ein kurzer Augenblick. Geht man die Stufen wieder hinab, landet man in der selben Zeit und stets an der selben Stelle. Aber was passiert, wenn man auf diese Vergangenheit einwirkt und diese verändert, und zwar so, dass es unweigerlich Auswirkungen auf die Gegenwart haben muss...?

Dieser Frage widmen sich zahlreiche Autoren von Zeitreisegeschichten und lösen die dadurch verursachten Paradoxa im Ursache-Wirkungsgefüge unseres Raum-Zeit-Kontinuums einmal mehr oder weniger elegant. Üblicherweise folgen die Autoren dabei einem dieser drei Schemata:
  1. Unveränderliche Zeitlinie: Bei dieser Variante kann sich der Zeitreisende anstrengen, wie er will, er schafft es einfach nicht, den Strom der Zeit zu verändern, da immer irgend etwas dazwischen kommt. Entweder "wehrt" sich die Zeit, oder die Taten des Zeitreisenden haben auf den Fluss der Zeit keine weiteren schwerwiegenden Auswirkungen - wie ein kleiner Zweig, der in einen Strom fällt, diesen nicht veranlasst, sein Bett zu verlassen.
  2. Dynamische Zeitlinie: Der Zeitreisende verändert den Lauf der Zeit und damit seine ursprüngliche eigene Gegenwart. Hier treten Paradoxa auf, wie z.B. der Versuch, seine eigenen Vorfahren zu ermorden, so dass der Zeitreisende selbst nie geboren worden wäre und auch nie die Zeitreise angetreten hätte und daher auch nie seine Vorfahren hätte umbringen können.
  3. Multiversum: Jeder Zeitreiseversuch des Zeitreisenden zurück in die Vergangenheit erschafft ein neues (paralleles) Universum. Dort haben die Taten des Zeitreisenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Zeit, allerdings wirken sie nicht in seinem ursprünglichen Universum, das parallel zum neugeschaffenen Universum besteht.
Aber keine Angst. Wir werden hier nicht in esoterische theoretische Physik verfallen, sondern werden uns weiter der Geschichte widmen. Und Stephen King versteht es, das Thema auszureizen und lässt seine Protagonisten auf die Idee kommen, die Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 in Dallas zu verhindern. Zumindest ist das der Plan. Während Al an der Aufgabe aufgrund seiner Erkrankung scheiterte, gibt er den Staffelstab an Jake weiter. Nachdem Jake sich überzeugt konnte, dass sich die Gegenwart tatsächlich verändern lässt (dynamische Zeitlinie), muss er aber erst noch gut 5 Jahre in der Vergangenheit verbringen. Diese 5 Jahre sind das eigentliche Hauptthema des Romans. Dabei versucht Jake zunächst eine Gewalttat in Derry, zu verhindern, einer Stadt, die dem geneigten Leser als Schauplatz des Bestseller-Romans "Es" bekannt sein dürfte. Mit gefälschten Papieren und Tips für Sportwetten aus der Gegenwart gerüstet - 'Zurück in die Zukunft' lässt grüßen - verschlägt es Jake an die Schule in einer texanische Kleinstadt, wo er in Ruhe das sich anbahnende Attentat abwarten möchte. Übrigens ist das 1.000-Seiten Buch angefüllt mit Cameos, Zitaten und Selbstzitaten Kings. Aber so einfach der Plan anfänglich auch erscheint, lässt sich die Vergangenheit doch nicht so einfach verändern. Natürlich kennt Jake den gesamten Ablauf des Attentats, den Täter Lee Harvey Oswald und dessen Vorbereitungen, die ihm sein Freund Al minutiös aufgezeichnet in einem Buch überlassen hat. Aber die Zeit wehrt sich immer wieder auf ihre eigene Weise mit aberwitzigen Zufällen oder ungeplanten Unfällen.

Alles hängt mit allem zusammen, das soll einem die Lektüre dieses Buches verdeutlichen. Dabei geht es nicht nur um den vielzitierten Schmetterlingseffekt, bei dem der Flügelschlag eines Schmetterlings durch eine ungeahnte Verkettung von Ursache und Wirkung auf einem anderen Kontinent einen Orkan auslösen kann. Nein, auch Stephen Kings Werk wird in diesem Buch immer wieder zitiert und aufgegriffen. Und da vieles in seinen Büchern Kings persönlicher Biografie entnommen ist, führt uns dieses Buch irgendwie auch durch die Stationen der Lebenswelt seines Autors. Aber vor allen Dingen liest es sich unterhaltsam und spannend. Aufgrund seiner Länge ist es sicher nicht als Gute-Nacht-Lektüre geeignet, die man in kurzen 20-30 Seiten Häppchen liest, sondern verlangt nach einigen Regenwetter-Urlaubstagen, an denen man sich mit einer schönen Tasse Tee in den Seiten der unglaublichen Geschichte verlieren kann. Ich hatte ja so meine Bedenken, ob sich King am Ende aus der Paradoxie-Falle seines Zeitreisekonstrukts zu retten versteht, aber er hat es tatsächlich geschafft und hat die Geschichte zu einem schlüssigen Ende geführt.

Fazit: Großes Kino, spannend geschriebene, wohlrecherchierte und gut durchdachte Geschichte. Lesen!

Weitere Zeitreiseromane im Biblionomicon:
Stephen King
Der Anschlag

Heyne, 2011
1056 Seiten
26,99 Euro



Montag, 12. November 2012

Weit draußen in den unerforschten Einöden...

Ein weiterer Beitrag in der Rubrik "berühmte erste Sätze" führt und diesmal zurück zu einem Buch, dass ich irgendwann Anfang der 1980er Jahre zum ersten Mal gelesen habe...


"Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spiralarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von etwa achtundneunzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender kleiner baugrüner Planet, dessen vom Affen stammenden Bioformen so erstaunlich primitiv sind, daß sie Digitaluhren noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten."

Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis, Ullstein (1984)

Mehr muss man zu diesem Klassiker auch nicht sagen ;-) Ich habe das Buch bevor lange bevor es richtig populär geworden ist in der Stadtbücherei entdeckt und an einem schwülwarmen Sommerferientag am Baggersee liegend in einem Rutsch durchgelesen. Ich muss damals einen ziemlich schrägen Eindruck bei den anderen Badegästen hinterlassen haben, da dieser seltsame Junge mit seinem Buch mehrfach unvermittelt immer wieder in Lachkrämpfe verfiel...

Dienstag, 6. November 2012

Was für eine Kombination! - Eric Larson 'Marconis magische Maschine'

Wir können es uns heute gar nicht mehr vorstellen, aber es gab tatsächlich einmal eine Zeit - und eigentlich ist das noch gar nicht so lange her -, in der einem die Bilder eines Unglücks oder eines Verbrechens nicht unmittelbar nach dem Ereignis aus dem Fernsehen oder dem Internet entgegenflimmerten. In der es noch seine Zeit dauerte, bis die Nachricht von einem unerhörten Ereignis die Landesgrenzen oder gar den Ozean überqueren konnte. Vor knapp über 100 Jahren, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ging diese aus heutiger Sicht "entschleunigte" Epoche endgültig zu Ende, als die Entwicklung der Funktechnik auch noch die letzten bis dato bestehenden Grenzen der Kommunikation zum Einsturz brachte. Bestieg man im Jahr 1900 ein Schiff zu einer Passage über den Atlantik, blieb man - ob man es wollte oder nicht - für gut 10 Tage ohne jegliche Nachricht darüber, was in der restlichen Welt vorgegangen war. Erst als man von Bord ging, brachte man sich wieder auf den aktuellen Stand, d.h. soweit die Nachricht über die bereits bestehenden Telegraphenverbindungen gemorst oder von einem schnelleren Schiff mitgebracht worden war. Eigentlich ideale Voraussetzungen, um ein Verbrechen zu begehen, das ungesühnt bleiben soll, da man sich den Nachforschungen mit einer Reise über den Ozean entziehen konnte, um unbemerkt an Land zu gehen und zu verschwinden.

Guglielmo Marconi gilt als genialer Geschäftsmann und patenter Ingenieur, der der Funktelegrafie zum Durchbruch verhalf. Auch wenn die grundlegend dazu notwendigen Erfindungen nicht von ihm selbst gemacht wurden, so war es doch sein felsenfester Glaube als beherzter Dilettant, wohlhabender Erbe und Geschäftsmann, dass er an seinem Traum von der drahtlosen Kommunikation festhielt, allen Widrigkeiten zu Trotze. Am 12. Dezember 1901 gelang ihm nach Jahren zahlloser vergeblicher Versuche der erste transatlantische Funkempfang eines Signals (der Buchstabe S des Morsecodes) aus Poldhu auf der Halbinsel The Lizard in Cornwall auf dem Signal Hill bei St. John's in Neufundland. Gegenüber den Forschern und Wissenschaftlern an den Universitäten hatte er einen entscheidenden Vorteil: Geld.

Zeit seines Lebens aber machte ihm seine fehlende wissenschaftliche Qualifikation trotz oder vielmehr aufgrund seines bahnbrechenden Erfolges zur Zielscheibe akademischer Hochnäsigkeit. Zudem hatte er es als Italiener schwer, in England Fuß zu fassen. Auch wenn er akzentfreies Englisch sprach blieb er doch ein Ausländer. Zwar ein Ausländer mit Geld und technischem Know How, das Begehrlichkeiten weckte, aber in den Augen der versnobten Briten eben ein Ausländer. Begleitet wurde der durchbrechende Erfolg seiner Erfindung der drahtlosen Telegrafie von einem spektakulären Kriminalfall, dessen Aufklärung und Dingfestmachung des Täters nur mit Hilfe von 'Marconis magischer Maschine' ermöglicht wurde. Dieser Kriminalfall und die zähen Versuche des genialen Italieners werden von Erik Larson in paralleler Montage entwickelt und sind dabei für ein "Sachbuch" überaus spannend geraten. Der nach allen Seiten harmlos wirkende Arzt und Homöopath Hawley Harvey Crippen ist die zentrale Figur dieses ungewöhnlichen Kriminalfalls, der im Jahre 1910 großes Aufsehen in der britischen Öffentlichkeit erregte. In zweiter Ehe heiratete er die 14 Jahre jüngere Cora Turner, die von einer Karriere als Opernsängerin träumte. Obwohl Crippen ihre Karrierepläne finanzierte, scheiterte Cora mangels Talent und ergab sich dem Alkohol und zahlreichen Affairen. Crippen brachte seine Frau mit Hilfe eines Gift-Cocktails um, zu dem nur er als Arzt Zugang hatte. Anschließend zerlegte er die Leiche und vergrub sie unter den Fliesen im Keller seines Hauses, während er nach außen bekannt gab, seine Frau wäre in die USA zurückgezogen und dort leider verstorben. Als allerdings Crippens Geliebte Ethel le Neve bei ihm einzieht und mit dem Schmuck der verschwundenen Ehefrau gesehen wird, gerät Crippe schließlich ins Visier von Scotland Yard. Zwar gelingt es ihm zunächst, die Verdachtsmomente zu zerstreuen, und das Paar nutzt seine Chance zur Flucht, zunächst auf den Kontinent und schließlich nach Übersee. Doch ist den beiden nicht bewusst, dass bereits die neue Funktechnik Einzug auf ihren Transatlantikdampfer genommen hat und die Ermittlungen einen bis dato ungeahnten Lauf nehmen werden, an dem die Öffentlichkeit erstmals quasi "live" durch die damaligen Medien beteiligt wird.

Erik Larsons Sachbuch liest sich wie ein spannender Kriminalroman und auch die Bemühungen Marconis um Anerkennung zeichnen ein psychologisch differenziertes Bild dieser historischen Figur, das den Leser in seinen Bann zieht. Zwar bin ich aus beruflichem Interesse an der Mediengeschichte etwas vorbelastet, aber ich glaube, dass das Buch auch bei einem unvoreingenommenen Leser Zustimmung erfahren wird. Tatsächlich sorgte der Fall des Dr. Crippen noch Jahre nach dem Abschluss des Falles für Diskussionsstoff, insbesondere die psychologische Seite des Falls, die von Larson ausführlich dargelegt wird, so z.B. auch bei Agatha Christie, die sich ausgiebig damit beschäftigte.

Fazit: Was für eine Kombination - ein Sachbuch zur Mediengeschichte der Funktelegrafie in Kombination mit einem spektakulären Verbrechen. Muss man gelesen haben!

Erik Larson
Marconis magische Maschine - Ein Genie, ein Mörder und die Erfindung der drahtlosen Kommunikation,
Fischer Tb., Frankfurt (2009)
449 Seiten

Freitag, 2. November 2012

Alles Gute, was geschieht, setzt das nächste in Bewegung

...zumindest laut Goethe. Inspiriert durch die beiden Damen von leselink.de habe ich mich eines jetzt wirklich schon sehr alten Blogbeitrags im Biblionomicon aus dem Jahr 2007 erinnert, in dem ich mich -- damals angeregt durch ein Literatur-Quiz in der ZEIT -- mit den berühmten "ersten Sätzen" literarischer Werke auseinandergesetzt und deren Bedeutung diskutiert habe. An sich hatte ich ja nicht vor, noch eine weitere Rubrik im Biblionomicon aufzumachen, insbesondere da sich das leselink.de bereits den "ersten Sätzen" verschrieben hat. Aber ich stoße dann doch immer einmal wieder auf erste Sätze, die mich faszinieren, die aber aus so weitläufig eher unbekannten Werken stammen, dass sie nirgendwo anders auftauchen.

Zudem finde ich, es darf nicht immer nur beim allerersten Satz bleiben. Will man mehr über das Buch oder den Autor erfahren, muss man schon etwas weiterlesen. Aber muss es bei einem Zitat bleiben, auch wenn es 2-3 Sätze ausmacht. Ich glaube, damit kann man einen besseren Eindruck vermitteln, als wenn man nur den allerersten Satz betrachtet. Außerdem, wenn ich hier schon eine "Erste Sätze" Rubrik aufmache, dann soll sie sich doch auch wirklich von anderen unterscheiden, sowohl inhaltlich als auch der Form halber.

Los gehts:
„Der Axtmörder wohnte eine Treppe tiefer. Wir kannten uns, weil er ständig seinen häßlichen kleinen Hund ausführte, den ich immer streichelte, wenn ich den beiden zufällig im Hausflur begegnete.“
Jonathan Carroll, 'Laute Träume', suhrkamp, 1988 (natürlich nicht mehr im Buchhandel erhältlich, dafür aber bald hier im Biblionomicon rezensiert...)

Freitag, 28. September 2012

Mephisto als Gretchen - Jacques Cazotte 'Der verliebte Teufel'

Zugegeben, die Geschichte ist alt und stets die gleiche. Mal trifft es den unbedarften Spießbürger mal den hochgelehrten Wissenschaftler, die Spannbreite ist groß. Sei es aus Begierde, Ruhmsucht oder Neid, der Protagonist sieht keine andere Möglichkeit zur Verwirklichung seiner geheimsten Wünsche als einen Packt mit dem Teufel zu schmieden. Ziert er sich zu anfangs, tritt der Teufel als gekonnter Verführer auf. Und wir alle wissen, dass einem so ein Pakt mit dem Leibhaftigen meist teuer zu stehen kommt. So nimmt denn das Unheil seinen Lauf....

Anders bei Jacques Cazotte und seiner Novelle "Der verliebte Teufel", denn in seiner Geschichte vom Pakt mit dem Teufel gelingt es dem jungen Alvares den Teufel durch einen Trick gefügsam zu machen. Als Kind seiner Zeit im Schatten der Aufklärung ist Alvares' Wissbegierde übergroß. Das Übersinnliche zieht ihn an und er sucht sich einen Lehrer, der ihn in der Kunst der Geisterbeschwörung unterrichten soll. In seinem Eifer aber beschwört Alvares gegen den Rat des Lehrers als erstes gleich den Teufel herauf und verlangt von ihm totale Unterwürfigkeit. Dieser lässt sich tatsächlich darauf ein und verwandelt sich in das atemberaubend schöne Mädchen Biondetta - hier haben wir wieder das Verführungsmotiv - aber entgegen allen vermutbaren Umständen ist es dann doch der Teufel, der sich in den jungen Alvares verliebt. So gerät der Verführer zur Verführten. Obwohl Biondetta, die Alvares als Page in seinen Dienst nimmt, versucht, den jungen Helden nach allen Regeln der Kunst zu betören, bemerkt dieser - wie die meisten Männer - erst einmal nichts. Irgendwann aber ist es dann auch um Alvares geschehen, doch hat er sich in den Kopf gesetzt, er müsse vor einer Vermählung mit der Schönen erst noch die Zustimmung seiner streng gläubigen Mutter einholen und jetzt beginnt der Teufel in Gestalt von Biondetta seine wahren Fähigkeiten auszuspielen...
»Wir leben mit den Geistern unserer Vorfahren; die unsichtbare Welt lebt und webt um uns.« (Jacques Cazotte)
Geboren im Jahr 1719 trat Jacques Cazotte als Schüler in das Jesuitenkolleg seiner Heimatstadt Dijon ein und begann danach eine Laufbahn in der französischen Marineverwaltung. Als Schiffszahlmeister wurde er 1747 nach  Martinique versetzt, wo er zu Wohlstand gelangte. Dort startete er auch seine ersten literarischen Versuche und nach seiner Rückkehr 1757 quittierte er den Dienst und zog sich als freier Schriftsteller ins Privatleben zurück. Als Privatmann und Gesellschafter stand er am Ende seines Lebens den Martinisten nahe, einer mystische theosophischen Bewegung, die den Freimaurern nahestand. Seit 1775 bekannte er sich zum Gedankengut der Illuminaten und rühmte sich prophetischer Gaben. So brach er auch mit seinem ursprünglichen katholischen Glauben und wandte sich dem Okkultismus zu. Diese Verbindung jedoch sollte ihm zum Verhängnis werden. Am 10. August 1792 als Anhänger der monarchistisch eingestellten Martinisten verhaftet, wurde Cazotte nach nur kurzem Prozess zum Tode verurteilt und am 25. September 1792 auf der Guillotine hingerichtet.

Mit dem verliebten Teufel, den Jacques Cazotte 1772 erstmals veröffentlichte und vier Jahre später in gründlicher Überarbeitung in seine Sammlung „Scherzhafte und moralische Werke“ integrierte, begründete Cazotte ein neues literarisches Genre, das im Französischen als Fantastique bezeichnet wird und Elemente aus Science Fiction, Horror und Fantasy vorwegnahm bzw. in sich vereint. Phantastische, ja surreale Ereignisse dringen in die reale Welt ein und es bleibt dem Leser überlassen, ob er diese für bare Münze nimmt oder ob sich alles nur in der Einbildung des Erzählers ereignet. Was die vorliegende Geschichte aber auch aus unseren heutigen Augen gut 250 Jahre nach ihrem Erscheinen reizvoll macht, ist ihr Plot, in der die Rollen von Verführer und Verführten elegant wechseln. Ähnlich wie im Faust geht es hier um die Verantwortung des Einzelnen für sein Handeln. Allerdings macht es sich Cazotte am Ende doch noch einfacher als Goethe, wenn er Alvaro sein Heil in der Religion finden lässt, während Faust sich durchaus erst noch die vielzitierte  'Gretchenfrage' stellen lassen muss:
„Nun sag, wie hast du's mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ (Johann Wolfgang v. Goethe, aus Faust)
Ganz egal, wie schlecht der Mensch auch sein mag, ein wenig Reue und schon steht ihm der Weg zur Glückseligkeit inklusive der Pforte ins himmlische Paradies offen und der Teufel hat das Nachsehen.

Fazit: Klassiker des Genres, der einer altbekannten Geschichte eine neue Wendung abgewinnt, auch heute nach über 200 Jahren noch überaus lesenswert!

Jacques Cazotte
Der verliebte Teufel
Edition Büchergilde (2007)
120 Seiten
17,90 €

Sonntag, 16. September 2012

Rachel Joyce 'Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry'

Heute nimmt sich Claudia einem der aktuellen 'Bestseller' in Ihrer Gastrezension an. Wir wissen ja eigentlich alle, dass das Prädikat 'Bestseller' lediglich Auskunft darüber gibt, was sich gut verkauft und nicht unbedingt auch für literarische Qualität steht. Aber wir wollen erst einmal nichts übers Knie brechen, sondern Claudia zu Wort kommen lassen....

Es gibt Bücher, die man auf keinen Fall lesen möchte. Das hat nicht immer einen bestimmten Grund. Manchmal schon, z.B. weil sie auf der Bestsellerliste folgendermaßen angepriesen werden: „So wie der Hundertjährige“ oder „Wenn Sie den Hundertjährigen mochten, dann mögen Sie auch Harold Fry“. Grund genug, die Finger davon zu lassen. Der 'Hundertjährige' flatterte mir als Leseexemplar auf den Nachttisch, als noch niemand an den Erfolg dieser Geschichte glauben konnte - der sich, wie ich finde, dann schnell und zurecht einstellte. Prinzipiell mag ich solche Geschichten - aber warum muss einem guten, originellen Buch immer gleich eine „Fälschung“ folgen. Naja, weil es, wenn es einmal funktioniert hat, auch ein zweites Mal funktionieren wird. Ich ärgerte mich beim Erscheinen der zweiten Pilgerreise nur darüber, dass sie erschienen war und ignorierte sie. Bis mich meine ehemalige, liebe Kollegin Anka bat, es zu lesen und ihr meine Meinung zu dieser Geschichte zu sagen. Sie selbst war sehr angetan von der „Fälschung“. Ich habe mich also breitschlagen lassen - zumindest empfand ich das so und setzte mich mit eben diesem Gefühl und Harold Fry in den Garten...

Wie immer ganz kurz zur Geschichte: Harold Fry lebt mit seiner Frau Maureen ein bescheidenen, langweiliges, ödes, Leben. Der Sohn David ist längst aus dem Haus, der Kontakt sporadisch. Der Alltagstrott ist lähmend. Zwischen die ordentlichen Gardinen, die blitzenden Fenster und den porentiefreinen Teppich flattert eines Tages der Brief einer alten Bekannten, Queenie Hennessy, ins Haus. Sie schreibt Harold, um sich zu verabschieden. Sie sei an Krebs erkrankt. Harold trifft diese Nachricht tief, obwohl er Queene beinahe vergessen hatte. Er versucht eine Antwort zu formulieren, was ihm sehr schwer fällt:
„Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir leid. Alles Gute – Harold (Fry).“ (Seite 13). 
Er nimmt den Brief und will ihn zum Briefkasten bringen. Dort angekommen stellt er fest, dass der Tag recht schön ist und er sowieso nichts vorhabe. Er machte sich also zum nächsten Briefkasten auf und zum dann wieder zum nächsten und zum nächsten...Auf seinem Weg denkt er nach. Über sich, Maureen und David, seine Eltern. Neben allen Gedanken, die ihm nur so durch den Kopf zu schießen scheinen kristallisiert sich eine Frage heraus, die ihn plötzlich ergreift:
„Wer bin dann eigentlich ich?“ (S. 19). 
Er kommt auf eine völlig absurde Idee: er will zu Queenie laufen, bis nach Berwick, durch das ganze Land. Hinter dieser Idee steht noch ein viele verrücktere Idee, nämlich die, dass Queenie so lange leben würde, wie er sich auf dem Weg zu ihr befände. Er informiert das Hospiz, indem Queenie lebt:
„Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen und sie muss weiterleben.“ (S. 28). 
Zugegeben eine völlig absurde Vorstellung - aber diese Vorstellung treibt Harold an zu laufen. Seine Reise ist nicht nur das Zurücklegen von Kilometern - eine Reise, insbesondere eine Pilgerreise, ist immer auch eine Reise zu sich selbst. So ergeht es in den einsamen Stunden auf seinem Weg auch Harold. Die Gedanken kreisen - um fast alles, was in seinem Leben eine Rolle gespielt hat. Auf diese Weise lernt der Leser Harold kennen - durch dessen Erinnerungen und Gedanken. Im Laufe des Buches wird Harold ein alter Bekannter; man erfährt vieles über seinen Beruf, die restliche Familie, die Beziehung zu seinem Sohn, die Beziehung zu seinem eigenen Vater, der verstört aus dem Krieg zurück kam. Immer wieder setzt er sich auch mit seiner Ehe zu Maureen auseinander. Anfangs nicht nur positiv, kommt er doch schließlich zu der wichtigen Erkenntnis:
„Er konnte sich selbst nicht mit einer anderen Frau als Maureen vorstellen. Sie hatten so viel miteinander geteilt. Ohne sie zu leben wäre, als würden ihm alle lebenswichtigen Organe genommen und von ihm bleibe nichts als eine leere, zerbrechliche Hülle.“ (S. 154). 
Parallel zu Harold durchlebt Maureen die gleichen Gedankengänge, grübelt und erinnert sich. Ihre Empfindungen schwanken ebenso wie Harolds. Anfangs wütend über sein Verschwinden, wird sie im Laufe der Zeit weicher und erinnert sich an den Mann, den sie einmal geliebt hatte.
„Maureen fragte sich, wo Harold wohl schlief, und wünschte, sie könne ihm gute Nacht sagen. Sie reckte den Hals zum Himmel und suchte in der Dämmerung nach dem ersten Sternfunkeln.“ (S. 185). 
Neben der Erkenntnis über sich und sein Leben ist Harolds Reise auch von totaler Erschöpfung geprägt - sie bringt Harold an die Grenzen seiner körperlichen und emotionalen Leistungsfähigkeit.

Wer jetzt eine philosophische Abhandlung über den Sinn des Lebens erwartet, den muss ich enttäuschen. Die Geschichte von Harold, oder besser, die Geschichte von Harold, Maureen und Queenie ist weit weniger als das. Hochtrabende Formulierungen oder sinnschwangere Gedanken der Protagonisten fehlen. Was der Leser bekommt ist ein zielsicherer Blick auf ein ganz normales Leben, das manchmal einen Anreiz braucht um sich aus seiner Tristesse zu befreien. Das Ganze ist gewürzt mit ein bisschen schüchterner Romantik, mit Dramatik, Trauer, aber auch Freude über die Menschen, denen man einfach so am Straßenrand begegnet.

Ich bin versöhnt mit der „Fälschung“, die doch ihre ganz eigene Qualität hat. Harold Fry lädt Sie ein mit auf seine Reise zu sich selbst zu gehen und mein Rat ist: gehen Sie ruhig mit!

Rachel Joyce
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Krüger Verlag (2012)
384 Seiten
18,99 Euro

Samstag, 1. September 2012

Kein Vergleich... - Jacques Chessex: 'Der Schädel des Marquis de Sade'

An sich wollte ich das aktuell in den Bestsellerlisten stehende, derweil aber in den Feuilletons zerrissenene Stück Vulgärprosa 'Shades of Grey' mit prominenter Verachtung strafen, da ja schon genug darüber geredet wurde (vgl. "Schrottprosa zwischen zwei Buchdeckeln"[1]). Allerdings lag der Vergleich mit meiner zuletzt geselenen Lektüre nur allzu nahe, wenn auch nur vom Topos her betrachtet, aber nicht von der Ausführung. Ganz im Gegenteil... 

Jacques Chessexs 'Der Schädel des Marquis de Sade' ist wahrscheinlich in keiner Weise geeignet als Lektüre für den typischen 'Shades of Grey' Leser (man sollte besser sagen 'Leserin' [2]), da schlichtweg wenig passiert und die Beschreibungen der dem Marquis zugeschriebenen Leibes- und Liebespraktiken trotz einer geschliffen scharfen Sprache mehr nur an der Oberfläche kratzen, wie wohl deren (Spät-)folgen in drastischer und oft unappetitlicher Weise ausführlich dargelegt werden. Aber darum geht es in diesem kurzen, wohlgesetzten Büchlein eigentlich gar nicht....

Im Jahre 1814 sitzt der mittlerweile 74 Jahre alte Marquis Donatien Alphonse François de Sade in einer Irrenanstalt in Charenton-Saint-Maurice nahe Paris. Immerhin hatte der Adelige die Wirren der französischen Revolution und der daran anschließenden Herrschaft des Terrors trotz Skandalen, Festungshaft und abenteuerlichen Fluchtversuchen nahezu unbeschadet überstanden, wurde aber letztendlich doch von Napoleon auf Betreiben seines Polizeiministers Joseph Fouché ins Asyl von Charenton zwangseingewiesen. Nebenbei erwähnt war dies nicht sein erster bzw. einziger Zwangsaufenthalt dort. Zunächst wurde der Gefangene äußerst zuvorkommend und mit zahlreichen Privilegien ausgestattet behandelt, bevor er am Ende seines Lebens isoliert in Einzelhaft sogar mit Schreibverbot belegt wurde. Nun hatte de Sade ja einen auch heute noch bekannten Ruf, und diesem wird er auch in Charenton sowie in Jacques Chessexs Roman gerecht, der die letzten Monate des Lebens des Marquis als Insassen der Irrenanstalt Charenton szenenhaft skizziert. Nichts und niemand kann den schaurigen und ruchlosen Marquis aufhalten und noch immer ist er dabei, Empörung und Schrecken zu verbreiten, während er seinen alten Leidenschaften ungezügelt fröhnt, auch wenn er körperlich mehr und mehr verfällt.
"Koliken, Schwindel, Entzündungen, gereizte Drüsen in den Nebennieren, brandiger Mund, Atemnot, Schleimhusten, Übergewicht, schwere Beine, Krampfadern, nicht zu reden von den Testikeln, die beträchtlich geschwollen sind und über deren ständiges Stechen sich Monsieur Marquis beklagt..." (Seite 41)
Als der überzeugte Atheist schließlich stirbt, glaubt sein Widersacher, der Anstaltsgeistliche, am Ende doch noch über ihn zu triumphieren, da dieser verhindert, dass de Sade ungeweiht und ohne Kreuz, so wie es sein ausdrücklicher Wunsch war, bestattet wird. Doch wer glaubt, dass der Tod das Ende de Sades und seines unheiligen Treibens wäre, wird eines Besseren belehrt. Kaum vier Jahre später wird der Leichnam exhumiert und der Schädel vom Rumpf abgetrennt. Die Phrenologen jauchzen angesichts dieser Reliquie im Chor, dass de Sades Schädel "in jeder Hinsicht dem eines Kirchenvaters gleiche" und der Schädel geht auf Tournee, wobei gleich mehrere Gipsabgüsse von ihm angefertigt werden. Doch jeder dieser Schädel scheint ein Eigenleben zu führen und übt auf seine Umgebung einen boshaften und verhängnisvollen Einfluss aus, der oftmals in aberwitziger Gewalt, erotischer Raserei und Tod endet.
"Im Licht des Todes, dessen Nähe die Person nicht länger leugnen kann, wirft jedes Wort, jede Tat einen schärferen Schatten" (Seite 43)
Die Wirkungsgeschichte de Sades, seine literarischen, philosophischen und weltanschaulichen Einflüsse füllen ganze Bände, so dass ich diese hier gar nicht erst thematisieren möchte. Die Quelle seiner Popularität bilden seine pornografischen, kirchenfeindlichen und philosophisch geprägten Romane, nach deren Vorbild er wohl auch seine Lebensführung gestaltete. Nicht umsonst wurde das Wort "Sadismus" von seinem Namen abgeleitet. Selbst die Psychologie hat er maßgeblich beeinflusst, auch wenn dies bei den meisten Fachvertretern nicht besonders wohl gelitten ist. Mehr als ein Jahrhundert vor Sigmund Freud nahm de Sade bereits die Verflechtung von Todestrieb und Lebenstrieb - von Freud als Eros-und-Thanatos-Theorie bezeichnet - vorweg in seinen Romanen 'Juliette oder Die Vorteile des Lasters' und 'Justine oder Die Leiden der Tugend', in denen er dem Phänomen explizit und ausführlich nachging. Chessex schildert den sterbenden de Sade aus den Augen seiner Aufseher, Pfleger und Bediensteten betrachtet als charismatischen Koloss. Gezeichnet von seinem ausschweifenden Leben, manisch und akribisch in seinen literarischen (und anderen) Ergüssen schwelgend, übt er eine seltsame Macht über sie alle aus, obwohl eigentlich er der Gefangene ist. Sein Mythos überdauert seinen Tod und seine Gebeine, d.h. sein Schädel und dessen Repliken, transportieren seinen morbiden Einfluss bis hinüber in unsere Zeit.

Fazit: Jacques Chessex hat mit seinem Alterswerk ein sprachlich geschliffenes Kleinod geschaffen, das fasziniert, manchmal ein wenig ekelt, aber auf alle Fälle zum Nachdenken anregt. Lesen!

Jacques Chessex
Der Schädel des Marquis de Sade

Nagel & Kimche (2011)
128 Seiten
15,90 Euro







Bibliografie:
 [1] Schrottprosa zwischen zwei Buchdeckeln, Interview mit Denis Scheck im dradio vom 10.07.2012
 [2] Julia Enke: Shades of Grey - Sadomasochismus im Blümchenstil, FAZ vom 06. Juli 2012

Montag, 27. August 2012

Exzessiver Redeschwall und narrative Detailverliebtheit - Charles Brockden Brown 'Arthur Mervyn oder Die Pest in Philadelphia'

Er ist so eine Art Simplicius Simplicissimus mit einer Prise Felix Krull. Nie weiß man so genau, ob man ihm sein wohlmeinend naives Gutmenschentum abkaufen soll, oder ob er gerade dabei ist, uns über's Ohr zu hauen. Die Rede ist von Arthur Mervyn, dem Romanhelden von Charles Brockden Browns 1799 erschienenen Roman 'Arthur Mervyn oder Die Pest in Philadelphia', einem sehr frühen Stück amerikanischer Literatur. 

Ehrlich zugegeben, hatte ich bis vor kurzem noch nie etwas von Charles Brockden Brown (1771-1810) gehört. Aber im Zuge meines Interesses für die Gothic Novel stieß ich schon bald auf diesen Namen und seinen bei den Zeitgenossen populären und vielgelobten Schauerromanen. Allen voran der 'Wieland', begeistert gefeiert von Lord Byron, seinem Freund Percy Bysshe Shelley und seiner Frau Mary Wollstonecraft Shelley, die 20 Jahre später mit 'Frankenstein' ihr bis heute populäres Meisterwerk vorlegen sollte, dessen Idee in einer schaurig stürmischen Gewitternacht am Genfer See entstanden sein soll. 'Wieland' war Brockden Browns erfolgreichstes Werk, in dem er schildert, wie die Hauptperson, Theodore Wieland - ein (fiktiver) Verwandter des Schriftstellers Christoph Martin Wieland - durch einen Bauchredner in den Wahn getrieben und zum Mörder wird. Tatsächlich gilt Brockden Brown als einer der ersten amerikanischen Romanautoren, dem eine Schlüsselrolle beim Verständnis der Anfangsjahre der US-amerikanischen Republik zukommt. Zudem gilt er als der erste US-amerikanische Schriftsteller, der es tatsächlich schaffte, von seinen Büchern zu leben. Aber zurück zu Arthur Mervyn....

Vom akuten Gelbfieber gezeichnet wird Arthur Mervyn vom Erzähler der Geschichte, einem Arzt, auf der Straße aufgelesen und in dessen Heim gesund gepflegt. Ein Freund des Erzählers erkennt Mervyn und erhebt schwerwiegende Anschuldigungen, von denen sich Mervyn, der jetzt seine Geschichte erzählen wird, reinwaschen möchte. Dies bildet die Rahmenhandlung der folgenden Erzählung, die uns mit dem Leben des vom Lande stammenden, jungen und unerfahrenen Arthur Mervyn, bekannt machen soll, der in die ihm unbekannte Welt der Stadt im postrevolutionären Amerika gerät und dabei in allerlei bizarre Abenteuer verwickelt wird. Er gerät in die Dienste eines Betrügers und Mörders, was seiner Reputation keinen guten Dienst leistet. Er verliebt sich erst einmal in die falsche Frau, weist die Liebe einer anderen ab, und fängt sich dabei das in der Stadt wütende Gelbfieber ein. Dabei schildert Brockden Brown die Schrecken der Krankheit aus erster Hand, die er am eigenen Leib durchleben musste. Schlimmer noch als der Verlauf der Krankheit ist, wie die Gesellschaft mit dieser und deren Opfern umgeht. Brockden Brown schildert die unsäglichen Zustände der damaligen Hospitäler, die panische Flucht der Bevölkerung aufs Land, die nahezu verlassenen Städte, die rücksichtslosen Plünderungen und den allgegenwärtigen Tod.

Am Ende fügt sich natürlich alles irgendwie zum Guten und auch Arthur Mervyn findet die Liebe seines Lebens, auch wenn das alles zunächst gar nicht so einfach ist aufgrund von Standes- und Altersuntertschieden. Wahrlich, ein episches Werk mit verschlungenen Handlungspfaden, Unterpfaden, Um- und Irrwegen, das vom erzähltechnischen Standpunkt her betrachtet die Geister scheidet. Manche Kritiker sehen darin Brockden Browns Meisterwerk, andere werfen ihm eine schlampige Handlungsführung und mangelnde Handwerkskunst als Autor vor, verliert er sich doch gerne in narrativen Wucherungen, knüpft keinen roten Faden, legt seinen Figuren einen exzessiven Redeschwall in den Mund und lässt den Leser gerne verwirrt zurück.
"The numerous subplots of Arthur Mervyn defy summary, for they have neither beginning nor end...The threads of the plot are loosly held together, and the unity of the story is lost on detail piled on detail."(David Lee Clark, aus Pioneer Voice, p. 181)
Dabei zeichnet Brockden-Brown den Charakter Mervyns differenziert zwischen einfältigen, aber gutherzigen Bauerntölpel und dem auf den eigenen Vorteil bedachten Schlitzohr, dem man aber kaum etwas übel nehmen kann. So laviert er zwischen Grimmelshausens Simplicissimus (1668) und Thomas Manns  Felix Krull (1954), stets mit einem Seitenblick auf Laurence Sternes Tristram Shandy (1766).

Fazit: Episch wuchernder Entwicklungsroman aus dem frühen Amerika über das Glück, das Unglück und die seltsamen Abenteuer eines jungen Burschen, dem man kaum etwas abschlagen kann. Mit Längen aber ein durchaus lesbares Kulturgut.


Charles Brockden Brown
Arthur Mervyn
oder
Die Pest in Philadelphia

Diogenes (1999)
672 Seiten
aktuell nur antiquarisch erhältlich...


Samstag, 4. August 2012

Die verhängnisvolle Sucht nach Wissen - Honoré de Balzac 'Der Stein der Weisen'

Honoré de Balzac: Der Stein der Weisen
Globus Verlag, Berlin W66, ca. 1920
"Wer immer strebend sich bemüht, den wollen wir erlösen", so singt es der Chor der Engel am Ende von Goethes Faust. Auch wenn wir nicht zum Ziel gelangen, so ist es doch unser Streben nach dem höheren Ziele hin, das alleine schon zu lobpreisen ist. Der Weg ist das Ziel. So ist denn auch die Suche nach Wissen, meist konotiert mit dem edlen und guten Verlangen des Strebens nach Erkenntnis, ein Unterfangen, das kein festes, greifbares Ziel umfasst. Die Frage nach dem "warum?" lässt immer noch Raum für ein weiteres "warum?". Und nur allzu leicht kann es geschehen, dass dieses strebende Verlangen zur Manie und zur Sucht gerät. Wie jede Sucht, kann diese den Süchtigen, wie auch dessen Umfeld leicht ins Verderben führen.

Die großen und immerwährenden Themen der Menschheit sind es, die es Honoré de Balzac angetan haben, und die er in seiner auf ursprünglich über 90 Bänden und Erzählungen angelegten "menschlichen Kommödie" aufzugreifen gedachte. So auch die vergebliche Sucht nach Erkenntnis, mit der der flämische Chemiker Balthazar Claes Anfang des 19. Jahrhunderts seine Familie in Grund und Boden richten wird. Eigentlich war die Chemie Ende des 18. Jahrhunderts gerade dabei, sich von der Alchemie und ihrer jahrhundertealten Suche nach dem "Stein der Weisen" und der damit verbundenen Goldmacherei zu emanzipieren. War die Alchemie noch "die Kunst, gewisse Materalien zu höherem Sein zu veredeln, und zwar derart, dass mit der Manipulation der Materie auch der um ihr Geheimnis ringende Mensch in einen höheren Seinszustand versetzt werde", musste sie der modernen Naturwissenschaft weichen. Balzac setzte die Handlung seines Romans "Der Stein der Weisen" (auch als "Die Suche nach dem Absoluten" erschienen) in das bodenständische Flandern, um das undramatische an seinen Protagonisten herauszustellen, anstelle das mondäne Paris zu wählen. Balthasar Claes lebt also in der Provinz, ist aber durchaus ein moderner Chemiker, hat er doch bei Lavoisier und anderen Größen studiert. Er bestellt seine Laborausstattung bei den besten Herstellern und hält sich über die neuesten Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften auf dem Laufenden.

Angestachelt von einem in Kriegszeiten einquartierten Hausgast und Amateur-Chemiker gerät er auf die Suche nach dem chemischen Absoluten. Das "Absolute" ist aber nicht wie bei den mittelalterlichen Alchemisten der Stein der Weisen, sondern das allgemeine Prinzip, durch das sich Licht, Wärme, Elektrizität, Galvanismus und Magnetismus erklären lassen. Seine Versuche kreisen um die Umwandlung von Kohlenstoff in Diamanten basierend auf der Grundlage ihrer chemischen Gleichheit. Doch wird all sein Streben vergeblich sein. So verschleudert er das ehrbare Familienvermögen für seine zahllosen fruchtlosen chemischen Versuche. Seine hingebungsvolle und opferbereite Ehefrau eignet sich sogar chemisches Fachwissen an, nicht um ihren Mann bei seinen Versuchen zu unterstützen, sondern um ihn von seinem verheerenden Treiben abzubringen. Aber vergebens.
"Aber was ließ sich gegen die Wissenschaft tun? Wie sollte man ihre immerwährende tyrannische und stets wachsende Macht brechen.' Wie eine unsichbare Rivalin töten? Wie kann eine Frau, deren Macht durch die Natur begrenzt ist, gegen eine Idee kämpfen, die unbegrenzte Freuden gewährt und immer neue Reize besitzt?" (Seite 56)
Der Preis, den Balthazar Claes für seine Manie bezahlen muss ist hoch: Millionen von Francs wirft er in den Rachen der Laborausstatter, seine ihn liebende Frau geht daran zugrunde und stirbt, die Familie und seine Kinder stehen am Rande des Ruins. War er einst ein angesehener Bürger der Stadt Douai, ein liebevoller Familienvater und Ehemann, lässt ihn seine Besessenheit um den Erkenntnisgewinn seine komplette Außenwelt vergessen.
"Balthazar wurde von der Wissenschaft derart in Anspruch genommen, daß ihn weder das Unglück Frankreichs, noch der erste Sturz Napoleons, noch auch die Rückkehr der Bourbonen von seiner Beschäftigung abhalten konnten. Er war weder Gatte, noch Vater, noch Bürger, er war nur Chemiker." (Seite 142)
So erzählt uns Balzac hier die Familientragödie der Claes, ausgelöst durch eine wissenschaftliche Monomanie. Balthazar Claes reiht sich damit ein in die Reihe der "Mad Scientists", der verrückten Wissenschaftler - heute ein Stereotyp der Popkultur - die sich und ihre Umwelt ins Verderben stürzen. Allen voran auch Mary Wollstonecraft Shelleys neuer Prometheus Victor Frankenstein, der an der Ingolstädter Universität aus Leichenteilen den idealen Menschen schaffen wollte und sich sich damit anmaßte, Gottes Werk gleichzutun und bitter dafür bezahlen musste. Ebenso wie Claes war Frankenstein so von seiner Forschung eingenommen, dass er alle anderen Verpflichtungen vergaß und schließlich Freunde und Familie ins Unglück stürzen musste. Der Urvater aller verrückten Wissenschaftler aber liegt im Fauststoff begründet, dessen historisches Vorbild, der Magier Johann Faust in Goethes Drama zum viel studierten Gelehrten mutiert. Das faustische Verlangen, der Weg hin zur höchsten Erkenntnis, die sich mit den "erlaubten" Mitteln nicht bewerkstelligen lässt, führt dazu, dass er sich der schwarzen Magie verschreibt. Dieses Verlangen, sich über die geltenden Konventionen hinwegzusetzen und diese durch das Streben nach einem höheren Ziel zu legitimieren ist auch heute noch ein populäres Motiv, um den Wissenschaftler zu charakterisieren, der Allmachtsphantasien hegt und nach der Weltherrschaft strebt. Die Spur zieht sich weiter über Kubricks 'Dr. Strangelove' bis hin zur mutierten Labormaus 'Brain' aus der Cartoon-Serie 'Pinky and the Brain'.

Fazit: Archetypische Story eines Mad Scientists, dessen Manie seine Familie ins Verderben stürzt, erzählt von einem der größten Erzähler überhaupt. Kommt etwas altertümlich daher, ist aber auf alle Fälle lesenswert!


Bibliografie und Lesenswertes:

Dienstag, 31. Juli 2012

Im Auge des Betrachters - Gail Jones 'Sechzig Lichter'

Man hat zu jeder Epoche so seine Vorstellung. Mitunter sind diese aber von der Realität ziemlich weit entfernt und häufig recht lückenhaft - zumindest geht es mir (von einigen Ausnahmen mal abgesehen) mitunter genau so. Nimmt man z.B. das Viktorianische Zeitalter: Spontan denke ich an Reifröcke und Korsetts, zivilisierte Teestunden, gesittete Spaziergänge untergehakter Paare unter weißen Sonnenschirmen; dann an die Präraffaeliten - vor allem an John William Waterhouse und seine Lady of Shalott (1888), an die wunderschöne Architektur, an Charles Dickens und seinen Freund Wilkie Collins, an Shaw, Wilde und Stevensons Schatzinsel - ja, und an das Commonwealth. Aber natürlich werden meine schlaglichtartigen Vorstellungen der wahren Zeit in keiner Weise gerecht. Dafür braucht es schon ein wenig mehr:

Wer sich ganz auf die Zeit Königin Viktorias einlassen und zumindest für kurze Zeit in ihr abtauchen möchte, dem sei der Roman "Sechzig Lichter" von Gail Jones ans Herz gelegt. Und auch wer sich selbst als, sagen wir es ganz lapidar 'Freund guter Literatur' bezeichnet, wird viel Freude an dem, für meinen Geschmack viel zu dünnen Bändchen, finden - ich jedenfalls war sehr traurig, als es sich nach 220 Seiten seinem Ende neigte.

Wie immer möchte ich gar nicht zu viel von der Geschichte vorwegnehmen. Nur so viel: Lucy Strange - nomen est omen - und ihr Bruder Thomas erleben ihre Kindheit gemeinsam mit ihren Eltern in Sydney. Als ihre Mutter Honoria im Kindbett stirbt und ihr Vater Albert sich vor lauter Kummer nicht anders zu helfen weiß, als sich zu vergiften, sind die Geschwister auf sich gestellt. Sie reisen zu ihrem Onkel Neville nach London, wo sie sich gemeinsam mehr schlecht als recht durchbringen, schließlich jedoch zu einer Familie zusammenwachsen. Die Gegensätze zum geliebten Sidney sind frappierend und für Lucy anfangs beängstigend:
"Es war die Größe des Ortes, an die sie sich nicht gewöhnen konnte: mehr Straßen und Gassen, als sich je ein Mädchen würde merken können, Tausende von Schornsteinen, die in den Himmel stachen, Gebäude, endlose Gebäude hinter komplizierten Fassaden, die wirkten wie missbilligende Gesichter mit roten Augen." (S. 75)
Thomas stellt sich, nachdem er den missglückten Versuch unternommen hatte Küfer zu werden, bei Mr Martin Childe’s Laterna Magica Establishment vor, um dort
"eine berufliche Laufbahn einzuschlagen, bei der er mit der Projektion von Bildern zu tun haben würde. [...]. Beide liebten vor allem die Trugbilder, die grässlichen Horrorgeschichten, die Gespenster und die ungebändigte Gewalt.“ (S. 90f.) 
Lucy arbeitete in einer Fabrik für Papierveredelung und ahnt zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie nah ihr das von ihr hergestellte Produkt später einmal sein würde. Dennoch ist bereits deutlich die Affinität zum Werkstoff zu spüren:
"Am liebsten arbeitete sie mit Papier. Ein einzelnes Blatt wurde in die Albuminlösung getaucht und dann zum Trocknen aufgehängt. [...]. Alles an diesem Arbeitsprozess stank, doch gewährte er das vorindustrielle, befriedigende Gefühl, einen gesamte Herstellungsprozess bis zur Vollendung betreut zu haben, bis die Päckchen sauber adressiert an die Fotografen geschickt wurden." (S. 93)
Lucy vermag ihre Umwelt auf eine Art und Weise wahrzunehmen, die den meisten Menschen immer verschlossen sein wird. Eine erste tiefergehende Wahrnehmung erlebte sie in Kindertagen, als ihr Mrs. Connor, eine alte blinde Nachbarin, ihre Eindrücke schildert:
"Ich liebe [...] sehr laute Vögel. In diesem Land haben wir so viele, sie erfüllen den Himmel." Danach hörte Lucy die ganze Woche Vögel laut zwitschern. Ein einziger Satz hatte die Welt und das in ihr Gegenwärtige neu geordnet. Ein einziger Satz. Nur einer. (S. 52)
Charles Darwin
Fotografie von
Julia Margarete Cameron, 1888
Ihre Sicht auf die verschiedensten Dinge ist immer wieder Thema. Sie verzeichnet solche Momente später in ihrem Tagebuch als "Nicht Entstandene Fotografien", die allein durch Gail Jones‘ Beschreibungen vor unserem inneren Auge sichtbar werden:
"Einfach nur das. Drei saphirblaue Hyazinthen in einem Tontopf. Sie besaßen die Ernsthaftigkeit von Monumenten und die Vollkommenheit Edens. Und Venen wie Schnüre, wie die an den Händen alter Menschen." (S. 83)
Man kann die Blumen doch förmlich riechen, oder? Erst nachdem Lucy nach Bombay geschickt wird, um sich dort zu verheiraten, wird sie zur "wirklichen“ Fotografin, die ihre Ideen nun nicht mehr nur im Gedächtnis entwickelt, sondern auf Papier fixiert. Große Unterstützung leistet Isaac Newton, ihr vom Onkel arrangierter Ehemann, der sich jedoch statt mit der großen Liebe, zu seinem Leidwesen, mit tiefenempfundener Freundschaft zufrieden geben muss. Er ist es, der Lucy eine Fotoausrüstung schenkt. Bereits kurz nach ihrer Ankunft im neuen Land bemerkt sie
„dass diese Welt dichter pigmentiert war: Die Farben waren intensiver, durchdringender und hafteten den Gegenständen stärker an. Nach Australien war Lucy England wie eine blasse Nation vorgekommen, voller leicht verhärmter und totenbleicher Gesichter. Doch Indien überstrahlte selbst Australien.“ (S. 111)
Mit allen Sinnen erfährt sie die für sie neue Kultur, die Menschen, Landschaften und Gerüche. Gail Jones beschreibt das alles so eingehend und plastisch, dass man völlig eintauchen kann - sowohl in die Zeit als auch in den Raum. Zurück in England verbleibt Lucy nicht mehr viel Zeit und sie erleidet ein Schicksal, das sie mit vielen Menschen zu dieser Zeit teilte - Schwindsucht. Von der Krankheit geschwächt und gezeichnet beschließt sie, "eine letzte Reihe von Fotografien aufzunehmen, die ihre Abschiedsbotschaft sein würde und Trauer abwenden sollte."

Gail Jones vermittelt uns mit ihrem Roman eine Vorstellung des Viktorianischen Zeitalters, bietet Einblicke in die frühe Fotografie und lässt uns an verschiedenen Nebenschauplätzen teilhaben, z.B. schaut sie immer wieder zurück in die Vergangenheit und bringt uns so die zauberhafte Liebesgeschichte zwischen Honoria und Albert, ihren Eltern, näher. Sechzig Lichter ist ein absolut zauberhaftes Buch, das mit viel Feingefühl das tragische Schicksal einer jungen Frau vermittelt ohne jemals sentimental zu sein - herausragend!

Kathleen Newton auf einem Bild
Jacques Tissots
(A Type of Beauty, 1880)
...darüber hinaus: Ich bin die gesamte Lesezeit hindurch überzeugt gewesen, dass es sich bei Lucy Strange um eine reale Persönlichkeit handelt. Als ich versuchte etwas mehr über sie in Erfahrung zu bringen, wurde mir klar, dass dem nicht so ist. Vielmehr hat sich Gail Jones durch die Person der Julia Margarete Cameron (1815-1879) inspirieren lassen. Cameron - übrigens Großtante Virginia Woolfs, die ihr Leben im Theaterstück "Fresh Water" verarbeitete - lebte in großbürgerlichen Verhältnissen in England und den britischen Kolonien und begann erst spät mit der Fotografie, nachdem sie 1863 eine Kamera von ihrer Tochter geschenkt bekam - zum Zeitvertreib. Bereits ein Jahr später wurde sie in die Royal Photographic Society aufgenommen. Seit 1865 präsentierte sie ihre Fotografien, die sie selbst bereits als "Errungenschaften der Kunst" bezeichnete, in zahlreichen Ausstellungen. Bekannt sind zahlreiche Portraits viktorianischer Persönlichkeiten, z.B. das des Naturforschers Charles Darwin. Das Schicksal Lucy Stranges teilte Cameron nicht. Hier orientierte sich Gail Jones an der Geliebten des französischen Malers Jacques Tissots, Kathleen Newton. Sie lebten gemeinsam in London, bis auch sie früh an der Schwindsucht verstarb. (Für die hilfreichen Informationen möchte ich Katharina Picandet vom Verlag Edition Nautilus herzlich danken!)

Schwindsucht und weiße Pest...
...sind historische Bezeichnungen für die Tuberkulose, eine sich weltweit verbreitende, meist die Lunge befallende, bakterielle Infektionskrankheit. Erst 1882 beschrieb und benannte Robert Koch das Mycobacterium tubercolosis, wofür er 1905 mit dem Nobelpreis für Physiologie ausgezeichnet wurde. Anfang des 19. Jahrhunderts war in England einer von vier Todesfällen auf die TBC zurückzuführen und noch 2008 vielen nach Angaben der WHO über 1,8 Millionen Menschen dieser Infektion zum Opfer.

Laterna Magica (um 1760)
Laterna Magica:
Die Laterna magica ist ein Projektionsgerät - sozusagen der erste Diaprojektor - das vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein in ganz Europa verbreitet war. Besonderer Beliebtheit erfreute es sich im 19. Jahrhundert, wo es regelrecht zum Massenmedium avancierte. Meist waren es umherziehende Schausteller, die ihre Vorführungen auf Jahrmärkten, Messen oder in Varietétheatern präsentierten. Auch in Kirchen und Wirtshäusern wurden Aufführungen veranstaltet. Die Vorführungen dauerten bis zu zwei Stunden und wurden von Musik begleitet oder sogar durch einen "Lecturer" kommentiert. Zur Blütezeit der Laterna Magica im 19. Jahrhundert waren verschiedene Arten von Projektionsbildern verbreitet, die dem Zuschauer auf unterschiedliche Weise raum-zeitliche Vorgänge vermitteln konnten: durch Bilderreihen, Veränderungen im Bild selbst mithilfe beweglicher Masken oder Überblendungen - sozusagen Kino entschleunigt.

Eure Claudia Kleimann-Balke


Gail Jones
Sechszig Lichter
Edition Nautilus 978-3-89401-562-6 , gebunden
dtv 978-3-423-138465, Taschenbuch

Mittwoch, 18. Juli 2012

Auf der Jagd nach dem Glück - Benedict Wells 'Fast Genial'

Stell Dir vor, Du lebst in einer US-Kleinstadt in einem heruntergekommenen, schmutzigen Trailerpark. Du hast keine Ahnung, wer eigentlich Dein wirklicher Vater ist. Dein Stiefvater hat Deine zu Depressionen neigende Mutter schon lange verlassen. Zudem hat sie gerade ihren Job als Verkäuferin verloren und der Stiefvater die Unterhaltszahlungen drastisch gekürzt. In der Schule gehörst Du auch nicht mehr zu den Gewinnern, nachdem Du das Ringen als Sportart aufgegeben hast, und Dein zukünftiger Weg in Richtung 'Versager' scheint eigentlich schon vorprogrammiert.

Genauso geht es Francis Dean, knapp achtzehn Jahre alt, dessen Mutter gerade ins Krankenhaus eingewiesen wird, weil die Depressionen einmal wieder verstärkt durchschlagen. Aber nach dem Selbstmordversuch seiner Mutter findet Francis einen Brief, der alles ändern soll. Sein Vater, so schreibt seine Mutter, sei in Wahrheit ein erfolgreiches Genie, ein Cello-spielender Harvard-Wissenschaftler mit einem IQ von 170. Francis sei im Rahmen eines Experiments, an dem seine Mutter teilgenommen hatte, in der Retorte gezeugt worden.  Dabei greift Wells auf eine reale Geschichte zurück, die vor gut 10 Jahren durch die Presse geisterte:  die 1980 vom Eugeniker Robert Klark Graham gegründeten Hochbegabten-Samenbank. Dachte Francis zuvor, dass sein Vater ein Niemand gewesen sei, ein Versager, der seine Familie im Stich gelassen hat, so ist er jetzt überzeugt davon, dass sein Leben einen Sinn hat und er unbedingt seinen richtigen Vater finden muss.
"All diese verlorenen Gestalten, die nichts zustande brachten, die es nicht in sich hatten, je etwas Großes zu stemmen. Und plötzlich durchzuckte es Francis. Er würde einmal so werden wie sie, egal wie sehr er sich wehrte. Er würde niemals von hier wegkommen!" (Seite 57)
Zusammen mit seinem schrägen Freund Grover und der knapp älteren Anne-May, in die sich Francis in der Klinik verliebt hat, macht sich das Trio auf den Weg. Mit dem von seinem Stiefvater abgetrotzten Geld starten sie zu einem Roadtrip, der sie durch mehrere Bundesstaaten nach Las Vegas und schließlich nach Kalifornien führen soll, zur Klinik, in der Francis gezeugt wurde, um dort Informationen über seinen Vater zu bekommen. Doch Las Vegas wird auch zu einer Art Wendepunkt für Francis. Zunächst verliert er all sein Geld, dann kommt es auch noch zum Streit zwischen den Freunden. Schließlich gelingt es Francis tatsächlich mehr über seinen Vater herauszubekommen. Der Weg führt dabei sogar bis nach Mexiko und am Ende erweist sich der Traum vom 'perfekten Vater' doch nur als Irrweg. Alles kommt anders als man denkt, aber letztendlich passt doch alles zusammen.
"Weißt du, es heißt ja immer, dass man mit harter Arbeit und Fleiß alles erreichen kann,,aber dabei vergisst man, dass Glück und Pech im Leben eine oft noch viel größere Rolle spielen. Es hängt so viel mehr vom bloßen Zufall ab, als wir wahrhaben wollen." (Seite 242)
'Fast genial' ist also der erste Roman, den Wells nach seinem Durchbruch mit 'Becks letrzter Sommer' schrieb. Allenthalben (außer in der NZZ) wird der Roman von Benedict Wells hochgelobt. Ja, der Roman liest sich flott, spannend und gleich unterhaltsam. Aber mit dem Zeichnen der Figuren tut sich Benedict Wells noch schwer. Irgendwie kommen die Zerrissenheit und die tatsächlichen Gefühle der drei Hauptakteure nicht wirklich beim Leser an, so dass man sich in sie hineinversetzten könnte. Und ja, die Geschichte wirkt reichlich "konstruiert". Das Coming-of-Age Roadmovie fesselt zunächst mit dem abstrusen Gedanken, dass ein Verlierer seine geniale Herkunft entdeckt und darüber zum Gewinner mutieren könnte. Doch fällt es Wells auch hier schwer, die Triebkraft seiner Gralssuche über mehrere Bundesstaaten und knapp 300 Seiten hinweg aufrecht zu halten. Immer wieder werden dabei Klischees über Klischees gestapelt. Auch wenn viel passiert auf dieser Reise quer durch die USA, am Ende blieb ein schales Gefühl zurück. Dennoch, es sind die Dialoge und Gespräche der drei Heranwachsenden, in denen die Träume und Sehnsüchte dieser Ruhelosen zum Ausdruck kommen, die mich letztendlich doch mit dem Buch versöhnt haben.

Fazit: Roadmovie, Gralssuche und Erwachsenwerden, das alles bietet Benedict Wells Roman. Nur dass er an die stilistischen Vorbilder ('Der Fänger im Roggen' oder 'On the Road') dabei nicht ganz heranreicht. Trotzalledem nicht schlecht.


Benedict Wells
Fast genial
Diogenes (2011)
336 Seiten
19,90 Euro

Samstag, 7. Juli 2012

Eiskalt - Christoph Ransmayr 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis'

Nein, es war vielleicht nicht die beste Idee, dieses Buch im Monat Juni zu beginnen, bei sommerlich schwülwarmen Temperaturen. Immerhin, zur Zeit um den Johannistag bleibt es in unseren Breiten fast bis gegen 11 Uhr abends hell - naja, natürlich 'hell' im Sinne von 'noch nicht ganz schwarzdunkle Nacht'. Gibt dies doch zumindest einen kleinen gedanklichen Hinweis darauf, dass es noch weiter droben im Norden eine Gegend gibt, in der zu dieser Jahreszeit die Sonne überhaupt nicht mehr unter geht. Stellt man sich dann aber im Gegensatz dazu vor, dass dem polaren Tag auch eine mehrmonatige Nacht folgt, ein immerwährendes Dunkel und ein verzweifeltes Harren in der Eiseskälte in der Hoffnung, eines Morgens doch zumindest ein kleines Stückchen der Sonnenscheibe wieder am Horizont zu erspähen, dann beschleicht einen ein schauriges Gefühl. Man fragt sich, warum Menschen sich das freiwillig antun. Insbesondere, wenn man gezwungen ist, in einer kleinen Nussschale von Schiff, eingeschlossen von polarem Packeis, ständig dem knarrenden Drängen des Eises ausgeliefert, in Dunkelheit und Kälte auszuharren.

Genau dies ist das Thema von Christoph Ransmayrs authentischem, kollagenartig zusammengestellten Bericht 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis', in der er die Geschichte der k.u.k österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition von 1872 unter Linienschiffsleutnant Carl Weyprecht und Oberlieutenant Julius Payer auf der Suche nach neuem Land unterhalb des Pols und der Nordostpassage geschildert wird. Dabei bedient sich Ransmayr originaler Dokumente und Briefe, die wie in einer Art Kollage zusammengewürfelt in der Rahmengeschichte auftauchen über den orientierungslosen Josef Mazzani, der auf den Spuren der Weyprechtschen Expedition auf eigene Faust nach Spitzbergen reist und dort verloren gehen wird. Daneben stellt Ransmayer Fotografien, alte Stiche oder Personallisten der Expedition und verfolgt auf eigenen Exkursen die Geschichte des Wettlaufs um den nördlichen Pol und die trügerischen Versprechungen einer Nordost- bzw. Nordwestpassage, die einen kürzeren Seeweg nach Indien und Asien, und damit höheren Profit verheißen. Doch im Mittelpunkt des Berichts steht die Expedition von 1872, in der sich ein kleiner Haufen verwegener Männer von der adriatischen Küste stammend nach Bremerhafen einschiffen und sich auf den Weg ins Ungewisse auf der Suche nach Ruhm und Ehre fürs österreichische Vaterland machen.
"Wer die Natur bewundern will, der beobachtet sie in ihren Extremen. In den Tropen, in ihrer vollsten Pracht und Üppigkeit, im strotzenden Sonntagskleide, über dessen Betrachtung man nur allzu leicht geneigt wird, den Kern zu übersehen - an den Polen in ihrer Nacktheit, die aber umso klarer und deutlicher den großartigen inneren Bau hervortreten lässt." (Carl Weyprecht)
Doch der Norden ist unerbittlich. Nur allzuschnell ist der arktische Sommer vorüber und ihr Schiff, die Admiral Tegethoff, wird vom Eis eingeschlossen. Nachts schabt und kracht das Eis, das gegen die dünnen Schiffswände drängt. Und es wird dunkel. Der polare Winter hat ungeahnt deprimierende Wirkung auf die Besatzung. Monatelang eingeschlossen, einzig die vorhandenen Konserven und das Fleisch einiger Polarbären, die sich auf ihren Wanderungen im Packeis zum Schiff verirrten, halten die Männer mehr oder weniger am Leben. Kaum einer weist noch keine Erfrierungen auf. Krankheit und Skorbut greifen um sich. Als die Sonne im nachfolgenden Jahr endlich wieder über dem Horizont erscheint, hoffen und harren die Männer der Admiral Tegethoff darauf, dass das Eis endlich aufbricht, aber vergebens. Zwar entdecken sie tatsächlich ein neues, bislang unbekanntes Land, das sie nach ihrem Monarchen Franz-Josef-Land taufen. Doch verheißt der kahle eisige Felsen nichts als eine weitere trostlose Eishölle. Nach dem zweiten Winter im ewigen Eis ist ihnen klar, sie müssen sich zu Fuß in Richtung Süden aufmachen, wenn sie überleben wollen.
"Einsam und in Gedanken durchmess ich die ödesten Gefilde mit zögernden, langsamen Schritten und die Augen führ ich, auf Flucht bedacht, umher, aufmerkend, wo Menschenspur im Sande sich einpräge..." (Seite 108)
Obwohl sich für mein Empfinden das Buch etwas holprig las, hat es mich doch beeindruckt. Es zieht sich eine tiefe Melancholie des Scheiterns gleich einem roten Faden durch die vielen Geschichten rund um die Eroberung der Arktis. Wofür eigentlich die ganzen Strapazen, nur um am wortwörtlichen Ende der Welt eine Fahnenstange in das Eis zu treiben, die sich nach ein paar Monaten aufgrund der Eisdrift schon gar nicht mehr am Pol befindet? Warum, so frage ich mich, flogen Menschen zum Mond (den Kalten Krieg bei Seite gelassen)? Warum wird seit Jahren unentwegt sogar an einer bemannten Reise zum Mars geplant? Ich erinnere mich an den Satz aus dem Intro einer populären Fernsehserie aus meinen Kindertagen, der mir immer noch in den Ohren klingt: "To boldly go, where no man has gone before...". Es geht doch immer nur darum, das Ultima Thule zu erreichen, das noch unentdeckte Ziel, das noch kein Mensch je betreten hat. Und wenn man dann dort ist, sucht man sich das nächste. Erinnert mich irgendwie auch an den Mythos vom armen Sisiphus.

Fazit: Ein eiskalter und streckenweise deprimierender Reisebericht mit allerlei Wissenswerten über den arktischen Norden und den vergeblichen Versuch, diesen zu bezwingen. Winterlektüre!


Christoph Ransmayr
Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Fischer Tb., 2. Aufl. (2006)
368 Seiten
9,00 Euro