Samstag, 24. März 2012

Ein Plädoyer für die Exzentrik - Fredrik Sjöberg 'Der Rosinenkönig'

...oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen. So ist der Roman übertitelt, um den es heute gehen soll, und er erzählt von einem - nein eigentlich sogar von zwei Sonderlingen und vom Glück, sich ganz und gar in einer Sache verlieren zu können. Es kann -- und sollte -- ja nicht jeder nur im Durchschnitt bzw. (neudeutsch) "Mainstream" verweilen und so profanen Dingen nachgehen wie Fußball spielen, Briefmarken sammeln oder Kriminalromane lesen. Mainstream kann jeder. Die Nische oder vielmehr der "Longtail" wie es der Web2.0-affine heute bezeichnet, birgt ungeahnte Möglichkeiten. Also nur Mut...
"Kein Normalsterblicher erinnert sich heute noch an Gustaf Eisen."(Seite 154)
Fredrik Sjöberg erzählt in seinem Roman "Der Rosinenkönig" eigentlich erst einmal von sich selbst, obwohl er eigentlich die Biografie des heute bei uns absolut unbekannten schwedischen Naturforschers Gustaf Eisen schreiben will und dabei ständig abschweift. Das verbindende Element zwischen den beiden ist denn auch ihre Vorliebe für das Besondere. Schwebfliegen...(hier lasse ich erst einmal eine bedeutungsschwangere Atempause)... Schwebfliegen sind es, die es dem insektensammelnden Autor angetan haben und wie besessen ist er ständig bestrebt, seine umfangreiche Sammlung durch die seltensten Exemplare zu ergänzen. Und auch Gustaf Eisen (1847-1940) war neben vielen anderen Dingen auch ein bedeutender Schwebfliegensammler. Und als Schwebfliegenafficionado gleichwie als Insektensammler ist man vor allen Dingen eines, nämlich akribisch und genau.
"Genauigkeit", kommentierte meine Handarbeitslehrerin freundlich, "ist löblich, kann aber sehr leicht übertrieben werden" (Seite 10)
Mit dieser Eingangsfeststellung schließt uns Fredrik Sjöberg die Türe auf zu einer faszinierenden Gestalt mit noch faszinierenderen Interessen und Neigungen. Gustaf Eisens wissenschaftliche Karriere begann schon in sehr jungen Jahren. Kaum hatte er die Schule beendet, veröffentlichte er zusammen mit seinem besten Freund Anton Stuxberg, mit dem er zusammen die Fauna (natürlich auch die Insekten) der Ostseeinsel Gotska Sandön erkundet hatte, zwei Bücher in der königlichen Akademie der Wissenschaften. Im anschließenden Studium der Biologie erwachte sein besonderes Interesse für ...(Trommelwirbel)... Regenwürmer, deren Erforschung er sich forthin verschrieb.
"Die Würmer haben kein Gehör. Sie nahmen keinerlei Notiz vom durchdringenden Laut einer Trillerpfeife, die mehrmals neben ihnen ertönte, ebensowenig von den tiefsten und lautesten Tönen eines Fagotts. Sie reagierten nicht auf Schreie, wenn man darauf achtete, dass der Luftstrom sie nicht traf. Wenn man sie auf einen Tisch neben der Klaviatur eines Pianos legte, auf dem man möglichst laut spielte, blieben sie vollkommen ruhig."(Seite 99)
Eisens bahnbrechende Forschung auf dem Gebiet der Regenwürmer sollte sogar noch vom großen Charles Darwin zitiert werden, was einem Ritterschlag gleichkam. Seine weitere Forschungsarbeit verschlug ihn nach Kalifornien, auf die andere Seite der Welt. Er erforschte die damals noch unbewohnte Insel Santa Catalina Island und ging auf Entdeckungsreise in die Sierra Nevada. Als er nach einer Fehlinvestition nahezu mittellos dasteht, begann er zunächst 1880 mit dem Weinbau in Kalifornien, machte einen erfolglosen Abstecher als Tabakpflanzer und landete schließlich den großen Wurf in der Kultivierung und Produktion von Rosinen, worüber er 1890 ein weltweit gültiges Standardwerk verfasste.

Doch damit nicht genug. Eisen rettete die kalifornischen Mammutbäume im Sequoia Nationalpark durch persönliche Intervention beim amerikanischen Präsidenten vor der drohenden Abholzung, er stieg auf zum Abteilungsleiter der Californian Academy of Sciences, gab den Posten um die Jahrhundertwende dann wieder auf und eröffnete ein Fotoatelier in San Francisco. Beim schweren Erdbeben von 1906 verlor er erneut alles, seine Bibliothek, seine Sammlung und seine umfangreiche Korrespondenz. Aber ein Gustaf Eisen gibt nicht auf und sucht sich etwas Neues. So reiste er für die Milliardärsgattin, Sammlerin und Mäzenatin Phoebe Hearst durch die ganze Welt, um Antiquitäten für sie zu erwerben. Dabei entdeckte er auch 1915 in einem New Yorker Antiquitätengeschäft einen antiken Kelch aus Antiochia, den er -- es musste ja so kommen -- nach ausgiebigem Studium als den heiligen Gral identifizierte. Eisen publizierte noch bis ins hohe Alter und galt nebendem noch als Experte für antike Glaskunst und die Porträts George Washingtons.

Auch wenn ich schwedischen Autoren generell etwas reservierter gegenüberstehe, hat mich die Lektüre dieses kleinen Büchleins doch auch in ganz besonderer Weise berührt. Nein, ich zähle nicht zum exklusiven Club der Insektensammler -- ist es mir doch zuwider, nur zum Zwecke der Erweiterung meiner persönlichen Sammlung, kleine Tierchen auf Nadeln aufzuspießen und deren Leichen abzuheften. Aber wer von uns fühlt sich nicht manchmal auch als Sonderling zwischen all den Angepassten und Normalen dieser Welt. Ganz egal, wofür unser Herz schlägt, wenn schon, dann sollten wir uns mit Haut und Haaren darauf einlassen. Denn das hat mir das Beispiel des schwedischen Sonderlings gelehrt, auch wenn Fredrik Sjöberg am Ende resumiert
"Irgendetwas an der Kombination von Insekten und Sammeln wirkt auf Frauen extrem abschreckend. Die Insekten selbst trifft meines Erachtens keine Schuld und das Sammeln an sich, die wahre Knopfologie, im Grunde auch nicht, sondern diese spezielle Kombination. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass die Frauen gute Instinkte haben..."(Seite 167)
Fazit: In liebenswerter Detailfülle erzähltes kleines Büchlein über einen heute vergessenen bemerkenswerten Sonderling, der uns mit seiner Liebe zum Detail und seinen "Stehaufmännchenqualitäten" auch heute noch durchaus zum Vorbild gereicht. Lesen!


Fredrik Sjöberg
Der Rosinenkönig - oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen
Verlag Galiani Berlin (2011)
236 Seiten
18,99 Euro





  Follow my blog with Bloglovin

Samstag, 17. März 2012

Kraut und Rüben - Pierre David und Martine Willemin 'Der Küchengarten des Königs'

Heute wieder ein Gastbeitrag aus Claudias Feder zu einem außergewöhnlichen Gartenbuch. Ich freue mich wirklich sehr darüber, das Biblionomicon auch einmal nicht nur mit der üblichen literarischen Kost zu bestücken und hoffe es ergeht den Lesern ebenso, denen ich das heute beschriebene Buch nur wärmstens ans Herz legen kann...


Versailles 1678 Jean-Baptiste de La Quintine spaziert durch das mehr als 100 Hektar große Areal, das ungefähr 20 Kilometer westlich von Paris liegt und lässt seinen Blick über den neu gestalteten Park schweifen. Das von Ludwig XIII. als Jagdschloss erbaute Gebäude hat sich längst zur repräsentativen Residenz seines Sohnes gemausert. Der Park entspricht den Vorstellungen des Barock, ist opulent, verspielt, überschwänglich. Alle Elemente, die wir noch heute mit barocker Gartenarchitektur verbinden, scheinen genau an diesem Punkt ihren Ursprung zu nehmen. Die besten Ingenieure und Künstler wurden bei diesem großen Projekt mit dem Ziel vereint, dass ganz Frankreich die Strahlkraft dieses Ortes wahrnehmen sollte. Terrassen für höfische Gelegenheiten, ein Wasserkanal auf dem eine Miniaturflotte Seeschlachten austragen konnte, eine Orangerie in der exotische Früchte wuchsen, ein Labyrinth in dem man sich gern verlief, kunstvoll und symmetrisch angelegte Parterren, Bosketten für diverse Vergnügungen, zahlreiche Brunnen und vielfältige Skulpturen.

Der Garten diente nicht ausschließlich der Zerstreuung und Lustbarkeit, vielmehr stellte er eine Spiegelung des geltenden Ordnungsprinzips dar. Ludwig der XIV., seines Zeichens „Sonnenkönig“, setzte sich mit dem griechischen Gott Apollon gleich und das nicht nur aus mythologischen Gründen, sondern aus politischem Kalkül. Apollon, als Führer der neun Musen und Stifter einer universellen Harmonie, repräsentierte zugleich die politischen Ziele des Königs: Ludwig als Haupt einer christlichen Welt, die er befriedete und beherrschte. Der Garten spiegelte dieses Ordnungsprinzip wieder und war somit weit mehr als die Summe seiner – in diesem Fall botanischen – Teile.

Die Ikonographie barocker Gartenarchitektur, insbesondere die der Versailler Ausführungen, ist ein umfangreiches Thema, über das seitenweise referiert wurde. Aber ich schweife ab - dabei sind wir doch aus einem anderen Grund hier. Zurück also zu La Quintine. Mit all dem Prunk und Gloria des Parks, den Lustbarkeiten der Labyrinthe und Bosketten, hatte er wenig zu tun. Er kümmerte sich seit 1670 eher um das leibliche Wohl seines Königs, denn er war der „Direktor der Obst- und Gemüsegärten der königlichen Schlösser“.

Alte Obstspalierformen (wikipedia)
Wer jetzt darüber verwundert ist, dass es im barocken Park von Versailles auch Gemüse gibt, dem geht es wie mir. Und wer sich nun Streuobstwiesen und Beerensträucher vorstellt, hat weit gefehlt. Der Küchengarten des Königs ist ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht. Auf neun Hektar erstreckt sich der Obst- und Gemüsegarten, dessen Grundriss auch heute noch kaum von den Plänen La Quintines abweicht. Um ein rundes Becken in der Mitte, formieren sich 16 Beete, in denen Gemüse und alte Gewürze neben modernen Erdbeerpflanzen gedeihen. Eingefasst sind die Beete von Birnbäumen – an dieser Stelle muss der Begriff „Birnbaum“ neu definiert werden. Die Birnbäume des Königs sind als Spaliere aufgebunden, wobei der Obstbaumschnitt auf eine neue Stufe gestellt wurde. La Quintine war ein großer Verfechter des Obstbaumschnittes und Meister dieses Fachs. Er begründet das Formen von Spalieren folgendermaßen:
„Der erste ist sicher, eine größere Fülle an schönen Früchten und diese sogar früher ernten zu wollen. Der zweite Grund ist, dass bei jedem Wetter der Baum viel angenehmer anzusehen sei, als wen er überhaupt nicht beschnitten wäre.“ (S. 36) 
(Foto: Carsten Balke)
In der Tat habe ich so etwas zuvor nicht in dieser Vielfalt und Pracht gesehen. Der beschriebene innere Teil des Küchengartens, der hortus conclusus, ist umgeben von einer hohlen Mauer, wo z.B. kriechende Früchte wie Melonen und Kürbisse wachsen und in Kübeln Feigen gepflanzt sind. Das Prädikat „Gesamtkunstwerk“ hat auch der Bildband verdient, der den königlichen Küchengarten so wunderschön in Szene setzt. Allein das Format (beinahe A3) ist imposant. Pierre David und Martine Willemin verfassten die Texte über die Entstehung und die Geschichte des Gartens und erklären, wie die Gärtner es bewerkstelligt haben – und es bis heute tun - derart kunstvolle Gewächse zu züchten, wie z.B. die beschrieben Birnbäume. Dabei greifen sie auf zahlreiche historische Abbildungen und Zitate zurück. Darüber hinaus liefern sie uns über jedes einzelne Kraut und jede Beerensorte spannende, überaus wissenswerten Details:
„Die Erdbeere ist eine Scheinfrucht aus der Familie der Rosaceae (Rosengewächse). Aus botanischer Sicht gehört sie nicht zu den Beeren, sondern zu den Nüsschen (...). Lange Zeit im wilden Zustand verblieben, war die Erdbeere noch im Mittelalter wenig geschätzt, wie jede Frucht, die sehr nah am Boden wächst. Karl V. führte jedoch den Anbau von Erdbeeren im Garten des Louvre zu Dekorationszwecken ein. In der Renaissance beginnen die Menschen sie in der Kombination mit Wein zu schätzen. In dieser Zubereitungsweise hat der Sonnenkönig eine große Menge gegessen (...). La Quintine musste ganzjährig Erdbeeren für die Tafel des Königs liefern.“ (S. 57) 
(Foto: Carsten Balke)
Die liebevoll erzählten Anekdoten und das botanische Wissen vermitteln die beiden Autoren auf eine Art und Weise, die mich immer wieder in diesem großformatigen Band versinken lässt. Aber - ohne diesen Teil des Buches in irgendeiner Form schmälern zu wollen - wäre es ohne die fabelhaften Bilder von Gilles Mermet nur halb so beeindruckend. Beim ersten Blick auf den Einband – er zeigt einen Birnbaum in der Form „Verrier-Palmette mit sechs Ästen“ als Contrespalier, also freistehend – habe ich gedacht, ich sähe eine Zeichnung. Anfangs erinnert diese unglaublich umfangreiche Sammlung an die Darstellung idealisierter Wunschvorstellungen gärtnerischer Perfektion. Es dauert einen Moment, bis der Betrachter die Abbildungen als Fotografien erkennt und erstaunt feststellt, dass er es mit realen Obstbäumen in mannigfaltigen Wuchsformen zu tun hat, die sich vorzustellen er nie gewagt hätte. Mermet setzt Obst, Gemüse und Kräuter ins rechte Licht und macht Äpfel und Erbsenschoten zu Hauptakteuren. Kraut und Rüben, wie man sie noch nie gesehen hat. Er vergisst aber auch diejenigen nicht, die dieses Wuchswunder erst möglich machen und die uralten Bäume und Sträucher mit Hingabe hegen und pflegen. Nach dem Lesen oder auch nur dem Ansehen des Bandes werden Sie die nächste Kartoffel nicht mehr achtlos in die heiße Pfanne werfen, sondern sie mit anderen Augen sehen – zumindest für einen kurzen Moment.

Fazit: Der „Küchengarten des Königs“ ist ein wunderbarer Fundus an Informationen, die nicht nur das Gärtnerherz erfreuen, sondern jedem Leser tiefe Einblicke in die Geschichte dieses großen Gartens ermöglichen. Ein Buch, das man immer wieder zur Hand nehmen muss, um Ausflüge in die Botanik zu unternehmen.



Pierre David, Martine Willen
Der Küchengarten des Königs
Dumont Buchverlag (2011)
208 Seiten
49,95 Euro

Sonntag, 11. März 2012

Den Rückwärtsgang verklemmt - Egon Friedell 'Die Reise mit der Zeitmaschine'

Egon Friedell: Die Rückkehr der
Zeitmaschine, Piper, München (1946)
Zeitreisen haben schon immer eine gewisse Faszination auf mich ausgeübt, auch schon als Kind. Immerhin haben meine Eltern noch lange bis in mein Erwachsenenalter hinein wiederholt die peinliche Geschichte erzählen müssen, wie ich mich aus Angst vor den grausigen Morlocks am Sonntag Nachmittag, während H.G. Wells 'Zeitmaschine' im Fernsehen lief, hinter der Wohnzimmercouch versteckt hielt. Auch damals hatte ich mich schon gefragt, warum der Zeitreisende eigentlich nicht auch einmal in die Vergangenheit gefahren ist. Aber wahrscheinlich wollte H.G.Wells einfach das Problem der Vertauschung von Ursache und Wirkung umgehen, die dabei leicht entstehen könnte (oder aber auch nicht...).

Das Reisen in die Zeit hat nach H.G.Wells 'Die Zeitmaschine' immer wieder von Neuem Autoren, Philosophen und Wissenschaftler in seinen Bann gezogen. So auch der hier im Biblionomicon im vergangenen Jahr besprochene Roman 'Die Landkarte der Zeit' von Felix J. Palma (hier die zugehörige Rezension), der die ganze Geschichte samt ihren Autor Herbert George Wells aufgriff und in kongenialer Weise fortgesetzt hat. Aber heute soll es hier um die relativ kurze Geschichte 'Die Reise mit der Zeitmaschine' des von mir hochverehrten österreichischen Schriftsteller, Kulturphilosophen, Religionswissenschaftler, Historiker, Dramatiker, Theaterkritiker, Schauspieler, Journalist, Kabarettist und Conférencier Egon Friedell gehen, von dessen Leben und Wirken später noch die Rede sein soll. Um gleich ein eventuelles Missverständnis auszuräumen, der Roman erscheint heute unter einem anderen Titel, nämlich 'Die Rückkehr der Zeitmaschine' (der den Inhalt der Geschichte auch nicht viel besser trifft).

Das kleine Büchlein beginnt mit dem einleitenden Briefverkehr zwischen Egon Friedell, der mit der Bitte um Aufklärung an H.G.Wells schreibt, was mit dem Zeitreisenden nun am Ende des Romans bzw. vielmehr am Ende des anscheinend den Tatsachen entsprechenden Berichts geschehen sei. Die Antwort von H.G. Wells Sekretärin dagegen fällt recht unfreundlich aus, da sie die Mutmaßung, es könnte sich um eine rein fiktive Geschichte handeln, schroff von der Hand weist. Aber immerhin gibt sie Herrn Friedell den Namen eines Bekannten des Zeitreisenden an, der als Zeuge in der ganzen Geschichte herhalten kann. Von diesem nun erhält Egon Friedell den gewünschten Bericht und der Leser erfährt von den Bemühungen des Zeitreisenden, zurück in die Vergangenheit zu fahren.

Denn genau zu diesem Thema bleibt H.G.Wells dem Leser seiner 'Zeitmaschine' ja noch einiges schuldig. Was wird aus dem Zeitreisenden, dessen Namen uns Wells noch nicht einmal verrät und welche Abenteuer hat er bei seinen weiteren Reisen zu bestehen? Ebenso lässt sich Wells auch nicht wirklich über die Theorie des Zeitreisens an sich und den dadurch verursachten potenziellen Paradoxa aus. Wir sehen also, genau hier vermag Friedell den Faden aufzunehmen und in eleganter Weise wie geschildert an die Originalgeschichte anzuschließen. Denn bei seinem Versuch, in die Vergangenheit zu reisen, stößt der Zeitreisende überraschend auf (technische) Probleme und er ist gezwungen, zuerst noch einmal in die Zukunft zu reisen (quasi um "Anlauf zu nehmen"). So erhält er im Jahr 2123 das nötige intellektuelle Rüstzeug, um seine Reise in die Vergangenheit (zumindest theoretisch) antreten zu können, doch will sich der Erfolg auch dann nicht wirklich einstellen....

Also, wer eine spannende und aktionsreiche Romanhandlung wie in H.G.Wells Original erwartet, der könnte von Egon Friedells kleinem Büchlein leicht enttäuscht werden. Friedell ist ein Meister der ironisch und zumal sarkastischen Zwischentöne und das mitunter auf hohem intellektuellen Niveau. Das Buch erschien zuerst posthum 1946, nachdem die Nationalsozialisten Friedells Schriften bereits in den 1930er Jahren auf den Index gesetzt und verbrannt hatten. Dennoch hinterließ uns dieser großartige Erzähler eine überaus lesenswerte, dreibändige Kulturgeschichte der Neuzeit, sowie eine ebenfalls auf drei Bände ausgelegte Kulturgeschichte des Altertums, die er nicht mehr beenden konnte. Übrigens hat auch sein literarisches Vorbild für den vorliegenden Roman, H.G. Wells, eine vielbeachtete Weltgeschichte geschrieben. Egon Friedells tragisches Ende scheint selbst wie aus einem Roman entsprungen.
"Am 16. März 1938 erschienen gegen 22 Uhr zwei Männer der SA vor dem Haus von Egon Friedell, Wien 18, Gentzgasse 7, um, wie jedenfalls er meinte, den „Jud Friedell“ abzuholen. Während sie mit seiner Haushälterin diskutierten, nahm sich Friedell das Leben, indem er aus einem Fenster der im 3. Stock gelegenen Wohnung sprang. Verbrieft ist, dass er dabei nicht verabsäumte, die Passanten umsichtig mit dem Ausruf „Treten Sie zur Seite!“ zu warnen." (Quelle: wikipedia)
Fazit: Als Einstiegsdroge in die Lese- und Gedankenwelt eines geistreichen Erzählers bestens geeignet! Sonst wohl eher nur für hartgesottene Fans der 'Zeitmaschine'. Trotzdem: LESEN!

Samstag, 3. März 2012

Sprachkünstlerisch wertvolle Vergangenheitsbewältigung - Günther Grass 'Die Blechtrommel'

"Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann."(Seite 7)

Das, Herrschaften, ist ein fulminant wuchtiger erster Satz in einem nicht minder gewichtigen Roman von Format, der Appetit auf mehr macht. Es dämmert einem recht schnell, warum "Die Blechtrommel" zur Zeit ihres Erscheinens so viel Wirbel machte und warum ihr Autor Günter Grass schlussendlich auch in den Nobelpreishimmel erhoben werden musste. Ihr Protagonist, Oskar Matzerath der Zwerg, ist heute genauso eine Literaturikone wie Gregor Samsa als gewaltiger Käfer, Hans Castorp als lungenkranker Sanatoriumsgast, Quasimodo als glockenschwingender Buckliger oder Humbert Humbert auf der Suche nach kleinen Mädchen.
"Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen. Noch heute kommt mir deshalb der Bibeltext: "Es werde Licht und es ward Licht" - wie der gelungenste Werbeslogan der Firma Osram vor." (Seite 47)
Oskar Matzerath gehört, wie er uns selbst erzählt, zu den "hellhörigen Säuglingen, deren geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen ist". So beäugt er von Anfang an kritisch kommentierend die Welt der Erwachsenen und lässt sich auf das Abenteuer "Leben" erst ein, als seine Mutter Agnes verspricht "Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine Blechtrommel bekommen." Erzählt wird hier also die Lebensgeschichte des Gnoms Oskar Matzerath, geboren in Danzig, der beschließt, an seinem dritten Geburtstag das Wachstum einzustellen und fortan in trommelnder Manier den Gang der Geschichte kommentierend zu begleiten, d.h. in unserem Falle das Aufkeimen des Nationalsozialismus, den zweiten Weltkrieg bis hin zur Einnahme Danzigs durch die Rote Armee und die frühe Nachkriegszeit mit ihrem Wirtschaftswunder im westdeutschen Rheinland.

Wie so viele andere auch, kannte ich bis vor kurzem lediglich den großartigen Film Volker Schlöndorffs, der mich schon als Kind beeindruckt hat - und das nicht nur wegen der darin dargestellten freizügigen Szenen. Bildgewaltig kommt der Film daher und ebenso einprägsame, lebendige Bilder, die vermag Grass nur zu gut in seinem Roman zu zeichnen. Man denke nur an die Szene vom Sonntagspaziergang der Familie Matzerath zusammen mit Oskars Onkel Jan Bronski, der ein Verhältnis mit dessen Mutter hatte und eigentlich auch als Oskars wahrer Vater gilt. Ein Fischer am Strand zieht einen Pferdekopf an einem Seil aus den Fluten der Ostsee, den er als Köder für Aale genutzt hatte - und das Bild mit dem halbverwesten Pferdekopf aus dessen Nüstern sich die Aale schlängeln ist mir ebenso wie die daraufhin sich übergebende Agnes Matzerath im Gedächtnis geblieben. Übrigens erholt sich Agnes, deren Mann Alfred  - ein begnadeter Hobbykoch - dem Fischer die Aale abkauft und diese zum Mittagessen serviert,   daraufhin nicht mehr wirklich und frisst sich an Fisch zu Tode bzw. stirbt an einer Fischvergiftung.

Auf gut 700 Seiten durchlebt der Leser alle Stationen in Oskars Leben bis hin zu seiner Einlieferung in die anfangs erwähnte Heil- und Pflegeanstalt. Dieses hier detailliert nachzuerzählen überlasse ich gerne berufeneren Geistern, da ohnehin schon genügend Zusammenfassungen dieses Romans kursieren. Aber die knappste und prägnanteste aller Kurzfassungen liefert uns Oskar selbst in Form eines Glaubensbekenntnisses am Ende des Romans:
"Was soll ich noch sagen: Unter Glühbirnen geboren, im Alter von drei Jahren vorsätzlich das Wachstum unterbrochen, Trommel bekommen, Glas zersungen, Vanille gerochen, in Kirchen gehustet, Luzie gefüttert, Ameisen beobachtet, zum Wachstum entschlossen, Trommel begraben, nach Westen gefahren, den Osten verloren, Steinmetz gelernt und Modell gestanden, zur Trommel zurück und Beton besichtigt, Geld verdient und den Finger gehütet, den Finger verschenkt und lachend geflüchtet, aufgefahren, verhaftet, verurteilt, eingeliefert, demnächst freigesprochen, feiere ich heute meinen dreisigsten Geburtstag und fürchte mich immer noch vor der Schwarzen Köchin - Amen." (Seite 709)
Ganz großes Kino, aber durchaus keine leichte Kost und vor allen Dingen doch auch Geschmacksache. Nicht jeder vermag der Grass'schen Schilderung der piefigen NS-Zeit im heute polnischen Danzig mit seinen bis zur Karikatur verzerrten Romanhelden etwas abzugewinnen. Doch sprachlich und erzählerisch setzt Grass in meinen Augen Maßstäbe - auch wenn dies bestimmt nicht für alle der mehr als 700 Seiten des Romans gelten mag. Mit dem Katholizismus muss Grass wohl auf Kriegsfuß stehen, lässt er doch kaum ein gutes Haar daran. Oskar selbst bleibt eine Zerrfigur, der alles verneinende Gnom, in dessen Welt sich eine kindliche Sicht der Dinge mit Altklugheit und Boshaftigkeit abwechselt, und der an seiner Welt letztendlich scheitert.

Fazit: Große Literatur, große Sprachgewalt. Ein Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte. Alleine schon aus diesem Grunde: LESEN!

Günter Grass
Die Blechtrommel
dtv (1993)
784 Seiten
12,90 Euro