Sonntag, 22. April 2012

Es ist alles eitel - Hans Pleschinski "Das Geheime Tagebuch des Herzogs von Croÿ"

"Es ist alles eitel", so lautet der Titel eines berühmten Gedichts von Andreas Gryphius, der damit die Weltfluchtstimmung des Barocks verbunden mit der Sinnlosigkeit allen irdischen Strebens auf heute immer noch beeindruckende Weise zu beschreiben verstand. Eitel, so mutet einem auch das beständige Hinterherhecheln des Herzogs von Croÿ nach Titeln und Ehren an, das er über weite Strecken seines "geheimen" Tagebuchs hinweg immer wieder und wieder beschreibt. Doch befinden wir uns bereits im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, und Emanuel Herzog von Croÿs Streben beschränkt sich zum großen Glück des Lesers nicht nur auf das Dasein eines Hofschranzens, sondern er ist interessiert und fasziniert zugleich von allen intellektuellen, wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen, die seine Zeit hervorgebracht hat.
"Ich kam am 23. Juni 1718 um zehn vor eins in der Früh im Schloß von Condé in der sogenannten Königskammer zur Welt" (Seite 11)
Mit diesen Worten startet das von Hans Pleschinski neu übersetzte und herausgegebene Tagebuch Anne Emmanuels Ferdinand François Herzog von Croÿ, das den Leser mit nimmt auf eine Reise ins 18. Jahrhundert und erst mit dessen Tod kurz vor der französischen Revolution endet. Auf den ersten Blick erscheinen die Aufzeichnungen de Croÿs mehr oder minder langweilig, wenn man zunächst den Stationen seines Lebens am Hofe Ludwig des XV. folgt. Zwar sind die Schilderungen des französischen Hofzeremoniells inklusive des An- und Ausziehens des Königs mit den damit verbundenen Rollen der einzelnen Würdenträger durchaus interessant, doch auf die Dauer nervt der Autor und Protagonist durch sein beständig strebendes Hecheln, sich vor den anderen Höflingen wieder um einen weiteren Zentimeter in der Gunst des Königs nach vorne bewegen zu wollen.  So entwirft er eine nicht enden wollende Flut von Denkschriften, die seine jeweiligen Ansprüche legitimieren und dem König in Erinnerung rufen sollen. Und wenn wir schon davon genervt sind, wie musste es dann erst dem König als Adressat all dieser mühseligen Aufzählungen gehen.
"Kurz vor Mittsommer genoß ich die schöne Dämmerung, den prächtigen Sonnenaufgang und wunderbaren Ausblick aus meiner Kammer. Ich sah die ersten Strahlen Paris vergolden, hörte Vogelgesang, spürte die Morgenfrische, roch den Duft von Geißblatt [hat irgendwer eine Ahnung wie Geißblatt riecht?], alles bezauberte mich, und nie war es herrlicher zu leben. Entzückt stieg ich in den Garten hinunter. Ich fühlte neue Kräfte und war heiter…" (Seite 176)
Anne Emmanuel, duc de Croÿ
(1718-1784)
Doch soll der anfänglich nötige Durchhaltewille des Lesers im weiteren Verlauf durchaus belohnt werden. Interessant werden die Aufzeichnungen de Croÿs vor allen Dingen immer genau dann, wenn von geschichtlich relevanten Ereignissen oder Persönlichkeiten die Rede ist. Denn hier werden wir Nachgeborenen durch den Blick de Croÿs zum Augenzeugen großer Ereignisse, wie der eindrucksvollen Wahl des deutschen Kaisers durch die Kurfürsten in Frankfurt, das Hofleben im Zeitalter der großen Mätressen Madame de Pompadour und Madame Du Barry, um deren Gunst und Einfluss der komplette Hofstaat buhlt und sich im Schaulaufen und Antichambrieren ergibt. Miterleben müssen wir auch die erschütternden Momente, in denen Ludwig XV., der König allen Schönens, in seinen letzten Tagen gezeichnet von den Blattern am lebendigen Leib verfault.
"Um viertel nach 10 begann das Feuerwerk … Es funkelte, blitzte und krachte wundervoll. Schrecklich war allein - als ich mich zum Schloß umwandte -, dass die Fenster des Spiegelsaals [in Versailles] geschlossen blieben. Weder der König noch seine Familie würdigten das Schauspiel eines Blickes … Falls dies Größe bedeuten soll, so ist sie wohl gründlich missverstanden ... Unselig die Menschen, die schon durch Geburt und Rang der schönen Dinge müde sind. Solches Schauspiel war nie zuvor bewundert gewesen." (Seite 240)
Obwohl die französische Revolution noch Jahrzenhnte auf sich warten lässt, scheint man bei diesen Worten des Tagebuchschreibers schon zu ahnen, was dem Land in naher Zukunft bevorstehen sollte. Beeindruckend sind auch die Schilderungen großer Zeitgenossen, wie z.B. Jean Jacques Rousseau, Benjamin Franklin oder Voltaire, die de Croÿ nicht nur äußerlich schildert, sondern die er auch selbst zu Wort kommen lässt und sie uns so aus erster Hand gegenübertreten lässt. Fasziniert und beeindruckt schreibt er am 27. August 1783 nach einer ersten erfolgreichen öffentlichen Demonstration eines Heißluftballons durch die Brüder Montgolfier
"Zu meinen Lebzeiten hatte sich die Physik Newtons durchgesetzt, hatte Franklin den Blitz bezwungen, waren die Längengrade entdeckt, die Gesetze von Ebbe und Flut erkannt worden, hatte Mr. Cook die bisher kaum bekannte andere Hälfte der Welt erkundet, waren künstliche Gase entdeckt und die Luft analysiert worden. Die Chemie und andere Wissenschaften hatten sich entwickelt und Beweise geliefert etc. Und nun erhoben sich die Menschen in die Lüfte. Vor Jahresfrist unvorstellbar. Und es bedeutetest den Anfang!" (Seite 399)
Anders als Samuel Pepys, der bedeutendste englische Tagebuchschreiber des 17. Jahrhunderts, von dem im Biblionomicon bereits mehrfach die Rede war, ist jedoch die Perspektive und der Adressat, den de Croÿ im Auge hat. Schnell wird deutlich, dass es sich bei de Croÿ durchaus nicht um "geheime" Aufzeichnungen handelt, wie der Titel mutmaßen lässt. Nein, der Herzog ließ seine Aufzeichnungen von einem Angestellten ins Reine schreiben und feinsäuberlich binden, um auch der Nachwelt als Beispiel zu dienen.
"In einem Vierteljahr wird M. Dupin meine Eintragungen ins reine geschrieben haben, von denen ich bereits 22 gebundene Quartbände habe. So können sie gelesen werden, während ich selbst bisher keine Zeit dafür fand, obwohl ich es irgendwann gerne einmal täte, um mich wieder ihres eigentlichen Sinns zu vergewissern, nämlich meinen Nachfahren Wissenswertes zu überliefern, mich selbst daran zu erfreuen und im Alter an die Ereignisse meines Lebens zurückzudenken." (Seite 221)
Heißluftballon der Gebrüder Montgolfier
am 19. Oktober 1783
Ganz anders dagegen wird man bei Samuel Pepys zum geheimen Verbündeten, eingeweiht in die für uns oft skurril wirkende Gedanken- und Gefühlswelt eines überaus fehlbaren Menschen. Rechnet man mit ein, dass Pepys seine Aufzeichnungen verschlüsselt abgefasst hat, waren diese tatsächlich nicht für die Augen der Nachwelt bestimmt, da sie ihren Autor oft sogar in einem recht zweifelhaften Licht erscheinen lassen. Aber genau dies macht sie für uns heute umso interessanter, da sie uns einen ungefilterten Blick in eine Welt auftun, die uns heute so fremd erscheint, als hätte Mr. Pepys auf einem anderen Planeten gelebt, obwohl uns so manche seiner Schwächen deutlich an unsere eigenen erinnern. Daneben wecken die Tagebuchaufzeichnungen de Croÿs auch Erinnerungen an Cholderlos de Laclos berühmte "Gefährliche Liebschaften", die uns menschenverachtende Kabale und Intrigen der gelangweilten adeligen Hofgesellschaft eindrücklich vor Augen führen so z.B. wenn er uns das überaus komplexe Verhandeln und Taktieren vor Augen führt, das mit der Verheiratung seines ältesten Sohnes und der Auswahl einer geeigneten guten Partie verbunden ist, und das zwischen offiziellem diplomatischen Verkehr und dem Schachern auf einem türkischen Bazar hin- und herzuschwingen scheint.

Fazit: Auszüge aus einem für die Nachwelt bestimmten Tagebuch des 18. Jahrhunderts aus privilegierter Perspektive, das einem nach einigen Anfangsschwierigkeiten durchaus fesselnd in seinen Bann ziehen kann. Lesen!


Links:

C.H.Beck (2011)
428 Seiten
24,95 Euro

Donnerstag, 12. April 2012

"Herr Merse bricht auf" - Aber wohin?

Und wieder eine Rezension aus der Feder meiner Lieblingsgastautorin Claudia zu einem Buch, das ich mit Sicherheit auch nicht selbst gelesen hätte. Aber Rezensionen bestehen ja auch nicht immer nur aus Lobhudeleien und nicht alles, das gelesen wird, gefällt. Sonst würden wir ja auch nur immer wieder die Bestenlisten hier wiederkäuen...

Ich hätte mich von meinem ersten Gefühl leiten lassen und „Herrn Merse“ gleich wieder aus der Hand legen sollen, als mich meine ehemalige Buchhandelskollegin darum bat, ‚ihn‘ zu lesen, um seine Geschichte als Buchtipp für eine kleine, regionale Zeitschrift zu empfehlen. Diese Tipps schreibe ich seit einiger Zeit und greife dabei gern auf Bücher zurück, die nicht bereits in jedem zweiten Frauenmagazin besprochen worden sind. Die Handlung von Karin Nohrs Roman "Herr Merse bricht auf" spielt auf Sylt – also in der Region – und würde sich demnach gut für den Buchtipp eignen. Außerdem, sei es kein Mainstreambuch, versicherte meine Kollegin, sondern etwas Besonderes. Diese Information hatte sie von einem geschätzten Kollegen – ebenfalls Buchhändler – bekommen, also eine durchaus vertrauenswürdige und geschätzte Quelle! Ich wurde hellhörig und sagte direkt zu, es gerne zu lesen und zu prüfen, ob ich den Band später für meinen Buchtipp würde nutzen können. Sie gab ihn mir in die Hand und ich stutzte bereits beim Anblick des Einbandes. Kennen Sie das? Es war mir sofort, ja am besten trifft es wohl ‚unsympathisch‘. Gibt es das? Kann ein Buch unsympathisch sein? Ich versichere Ihnen, es kann.

Da aber jeder eine Chance verdient hat – auch wenn derjenige nicht in das übliche Schema passt...man hat ja so seine Vorlieben, natürlich oder auch gerade bei Büchern – habe ich mich darauf eingelassen: Herr Merse, der ‚Held‘ der Geschichte, ist Hornist und nach drei Jahren Singledasein noch immer nicht über seine Scheidung hinweg. Um zu sich selbst zu kommen, Horn zu üben und endlich seine trennungsbedingte Tablettenabhängigkeit anzugehen, reist er nach Sylt in die Ferienwohnung seiner immer (im Geiste) präsenten und extrem dominanten Schwester. Zuerst hat der Leser definitiv Mitleid mit dem armen Herrn Merse. Seine Situation wird sehr detailliert geschildert, ebenso sein Tagesablauf, der sich erst einmal aus morgens joggen, Brötchen holen, zum Strand gehen und überlegen wie viele Antidepressiva zu nehmen sind, beschränkt:
„Am Abend hätte er nach seinem Plan ein letztes Mal eine und zwei Drittel Tabletten einnehmen können, aber er verringerte die Dosis auf eineinhalb.“ (S. 63) Mutiger Herr Merse!
Alles was er tut, sieht oder denkt wird von fremdgesteuerten Gedankengängen überfrachtet. Was hätte in dieser Situation seine Frau oder seine Schwester gesagt oder getan? Der Leser erfährt es durch immer wiederkehrende (dumme) Bemerkungen der beiden Damen, die allmählich nerven. Dennoch hat Herr Merse noch immer meinen Mitleidsbonus. Doch nun entwickelt sich eine zarte Beziehung zu einer natürlich wunderschönen Frau mit zwei Kindern bei der er sich ziemlich ungeschickt anstellt – beinahe pubertär möchte ich meinen. Er träumt von einer gemeinsamen Zukunft mit allem, was dazu gehört und malt sich alle möglichen Dinge aus. Platonisch bleibt es auch, wenn er sich z.B. fragt, was seine am Strand momentan abwesende Angebetete treibt:
„Sich mit ihrem Mann treffen wahrscheinlich. Wo war der überhaupt? Der vergessene Mann. Vielleicht kam der später, eben heute, erst an. Ja, und sie holt ihn aus Westerland ab. (...). Sie wurde bestimmt von allen Seiten angebaggert. So eine wir sie: ja. Gerade weil sie es nicht herausforderte. Weil sie einfach mit ihrem Liebreiz frei in der Welt stand.“ (S. 89) 
Im Prinzip ist diese Schüchternheit und Träumerei natürlich kein Problem, aber man hat die ganze Zeit das starke Bedürfnis Herrn Merse in sein Glück zu schupsen. Hilfe sucht er in Gesprächen mit seinem Freund Johannes...der sich im Laufe der Zeit als Johannes Brahms entpuppt, was immer mehr an der geistigen Gesundheit unseres Herrn Merse zweifeln lässt. Er steht sich selbst im Weg, ist schusselig, schüchtern, bemitleidenswert – aber will man das als Leser ganze 287 lang miterleben? Mir wurde der Sermon vom verlassen werden und unglücklich sein irgendwann zu bunt und ich dachte nur noch „Du Blödmann, dann tu‘ doch endlich etwas! Komm aus den Puschen!“ Denn einmal abgesehen von der nicht verkrafteten Trennung von einer Frau, die ihn genauso dominierte und drangsalierte, wie seine Schwester es in Kindertagen praktizierte (er war es somit gewöhnt), hat Herr Merse keine ernstzunehmenden Sorgen. Er hat ein Dach über dem Kopf, einen Job, ist gesund – was also ist sein Problem? Es hat sich mir nicht erschlossen. Psychologisch betrachtet...nein, soweit will ich mich aus dem Fenster lehnen. Karin Nohr ist Fachfrau (sie hat Psychologie und Literaturwissenschaft studiert) und kann die Probleme, die derartige Minderwertigkeitskomplexe und Depressionen, die unseren Herr Merse plagen, hervorrufen sicher viel besser verstehen und nachempfinden als ich. Und ich möchte mich auch keinesfalls über Probleme lustig machen oder sie kleinreden – aber...mich hat es nicht gefesselt. Ich fand Herrn Merse irgendwann nur noch bemitleidenswert, langweilig und enervierend. Er ist ein (sorry) blasser Waschlappen ohne Rückgrat.

Die von mir erhofften Beschreibungen der Insel Sylt sind ziemlich ganz knapp gehalten. Eigentlich schade, besonders im Hinblick auf die angedachte Buchtippgeschichte in der regionalen Zeitschrift...die es übrigens nicht geben wird. Auch sprachlich hat mich das Buch nicht gefesselt. Ich mag gut formulierte, lange Sätze – die fehlten mir. Wer aber auf Waschlappen und Probleme wälzen steht, dem sein Herr Merse ans Herz gelegt. Sympathie und Antipathie sind ja Gott sei Dank subjektiv. Für mich ist das nichts!

Eure
Claudia Kleimann-Balke


Karin Nohr
Herr Merse bricht auf
Albrecht Knaus Verlag
288 Seiten
19,99 €

Montag, 2. April 2012

Wer hätte das gedacht... - Bill Bryson 'Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge'

Ja, wer hätte das gedacht... Dieser Gedanke wird wohl früher oder später jedem durch den Kopf gehen, der einen Blick in diese prallgefüllte Wunderkammer werfen durfte, die Bill Brysons 'kurze Geschichte der alltäglichen Dinge' in sich birgt. Nostalgie wird ja gemeinhin als die süße Verklärung einer vergangenen Zeit angesehen und als eifriger Leser dieses Blogs mag man dessen Autor aufgrund der hier zusammengestellten Bücher gerne schon einmal als Nostalgiker ansehen. Aber 'mal ehrlich, würde ich wirklich leben wollen, in einer Zeit ohne die Segnungen der modernen Medizin, ohne der heute allgegenwärtigen Haus- und Sanitärtechnik inklusive selbstverständlicher Hygienestandards, ohne moderne Kommunikationsmittel, in einer Zeit der engen Moralvorstellungen und einem rigiden Verhaltenskodex? Und dann vielleicht noch in einer verdreckten, stinkenden Großstadt, in der der nicht so wohlhabende Teil der Bevölkerung unter unsäglichen Lebensbedingungen sein Dasein fristen musste? Wohl kaum.

Und dennoch bietet einem ausgerechnet die Beschäftigung des Lesens diese ungeahnte Möglichkeit auch in ferne Zeiten abzutauchen, allerdings ohne die vorab genannten Missstände dabei in Kauf nehmen zu müssen - auch wenn uns die Romane des 18. und 19. Jahrhunderts meist nur die Sonnenseiten des damaligen Lebens darzustellen pflegen (Ausnahmen gab es natürlich schon immer). Um so interessanter ist es aber, sich einmal die allgemeinen Lebensumstände an sich und deren Entwicklung vor Augen zu führen, eben weil der historische Alltag nicht zu unserer allgemeinen Schulbildung zählt und die meisten Geschichtsbücher nur von den "wichtigen" Dingen und Ereignissen zu berichten haben.

Bill Bryson nimmt uns in seiner "Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge" mit auf eine Reise in die Vergangenheit und bedient sich dabei eines genialen, bei Rednern altbekannten Kunstgriffs. Er führt uns durch diese Geschichte anhand seines Hauses, das wir Zimmer für Zimmer entsprechend dessen jeweiliger Aufgabe vom Keller bis zum Dachboden durchwandern. Und dabei ist dieses Buch wirklich eine gigantische Wunderkammer, die mit unzähligen Anekdoten und Geschichten aufwarten kann - auch wenn der Autor dabei hauptsächlich sein anglophiles Publikum im Auge hat und wir daher eine Menge über die Geschichte des Alltags in England und den USA lernen. Es ist mühselig bis schlicht unmöglich die gesamte Stofffülle zusammenfassen zu wollen, die Bill Bryson in diesem Band auffährt. So lernen wir einfach alles kennen, angefangen von Tischsitten, Nahrungs- und Genussmittel samt zugehöriger Küchengerätschaften über Gartenbau, Landschaftsarchitektur, Beleuchtung und Tapeten bis hin zu Mode, Kosmetik, Medizin oder Kindererziehung. Dabei sind das nur einzelne, stichprobenartig herausgezogene Themen und es steckt noch viel, viel mehr in diesem ausführlichen, aber immer noch nicht allumfassenden Bändchen.

Am besten, ich picke einfach eine der unzähligen, kurzen Geschichten heraus. Im Kapitel zum Thema 'Esszimmer' kommt Bryson auf den Tee als das Lieblingsgetränk der Briten zu sprechen. Dessen allererste literarische Erwähnung findet sich in den berühmten Tagebüchern von Samuel Pepys ('So nah und doch so fern...' rezensiert im Biblionomicon) und ist datiert auf den 25. September 1660:
"And afterwards I did send for a cup of tee (a China drink) of which I had never drunk before." (Samuel Pepys Tagebücher)
George Morland - A Tea Garden (1790)
Noch interessanter wird es aber, wenn man sich fragt, wie die Entdeckung dieser literarischen Referenz überhaupt zustande kam und was sie bewirkte. Der schottische Historiker David Macpherson referenziert diese Zeilen 1812 in seinem Werk "History of the European Commerce with India" zu einer Zeit, da noch niemand Samuel Pepys Tagebücher überhaupt kannte. Zufällig las ein Wissenschaftler in Cambridge Macphersons Arbeit und wurde auf die Tagebuchreferenz aufmerksam, da diese aus einer für England sehr bewegten Zeit stammten (Restauration, die Pest und der große Brand von London) und interessant zu sein versprachen. Da aber Pepys seine Tagebuchaufzeichnungen verschlüsselt hatte, wurde ein Student mit der Klarschrift beauftragt, deren Vollendung ganze drei Jahre in Anspruch nehmen sollte. Das Ergebnis waren die heute bekannten und wohl berühmtesten Tagebuchaufzeichnungen des englischen Barocks.

Auch vieles aus unserer heutigen Zeit Kurioses weiß Bryson zu berichten, z.B. zählen die hygienischen Angewohnheiten unserer Vorfahren nach heutigen Maßstäben bemessen wohl nicht zu den besten. So erzählt er von St. Goderik, der zum Kreuzzug aufbrach und sich solange nicht gewaschen haben soll, bis er wieder aus dem heiligen Land zurückgekehrt war. Der strengen Einhaltung dieses Gelübdes soll er letztendlich sogar seine Heiligsprechung verdanken. Doch auch Ludwig XIII. soll das erste Bad seines Lebens zu seinem 17. Geburtstag im Jahr 1608 angetreten haben. Und 1653 vermerkte der eifrige Tagebuchschreiber John Evelyn, dass er sich jetzt aus hygienischen Gründen den festen Vorsatz gefasst hätte, sein Haar einmal pro Jahr zu waschen.

Ich habe das unterhaltsam geschriebene Werk im englischen Original gelesen und kann es auch ohne weitere Vorbehalte als solches empfehlen. Die Idee, diese Geschichte(n) an die einzelnen Zimmer im Haus zu koppeln, sorgt dafür, dass der Leser auch bei der schier unüberschaubaren Fülle an Fakten den Überblick nicht verliert. Diesen Trick hat sich Bill Bryson bei den antiken Rednern abgeschaut, die ihre oft stundenlangen Reden mit Hilfe des Bildes eines Hauses memorierten, in dem man von Zimmer zu Zimmer ging und deren Inventar man mit den Argumenten seiner Rede verknüpfte.
"Wer diese Fähigkeit [des Gedächtnisses] trainieren will, muss deshalb bestimmte Orte auswählen und von den Dingen, die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder herstellen und sie an die bewussten Orte heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können die Orte anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen." (Cicero, Von der Redekunst, II, lxxxvi, 354) 
Fazit: Eine Wunderkammer vollgestopft mit Wissen, das sich in kaum einem anderen Geschichtsbuch in dieser Zusammenstellung findet, präsentiert in wunderbar unterhaltsamer Form, die an keiner Stelle langweilig wurde. LESEN!!!


Bill Bryson
Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Goldmann Verlag
640 Seiten
24,99 Euro
(Die englische Ausgabe gibt es schon für 7,99 Euro)








Auch im Biblionomicon besprochen: