Montag, 2. April 2012

Wer hätte das gedacht... - Bill Bryson 'Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge'

Ja, wer hätte das gedacht... Dieser Gedanke wird wohl früher oder später jedem durch den Kopf gehen, der einen Blick in diese prallgefüllte Wunderkammer werfen durfte, die Bill Brysons 'kurze Geschichte der alltäglichen Dinge' in sich birgt. Nostalgie wird ja gemeinhin als die süße Verklärung einer vergangenen Zeit angesehen und als eifriger Leser dieses Blogs mag man dessen Autor aufgrund der hier zusammengestellten Bücher gerne schon einmal als Nostalgiker ansehen. Aber 'mal ehrlich, würde ich wirklich leben wollen, in einer Zeit ohne die Segnungen der modernen Medizin, ohne der heute allgegenwärtigen Haus- und Sanitärtechnik inklusive selbstverständlicher Hygienestandards, ohne moderne Kommunikationsmittel, in einer Zeit der engen Moralvorstellungen und einem rigiden Verhaltenskodex? Und dann vielleicht noch in einer verdreckten, stinkenden Großstadt, in der der nicht so wohlhabende Teil der Bevölkerung unter unsäglichen Lebensbedingungen sein Dasein fristen musste? Wohl kaum.

Und dennoch bietet einem ausgerechnet die Beschäftigung des Lesens diese ungeahnte Möglichkeit auch in ferne Zeiten abzutauchen, allerdings ohne die vorab genannten Missstände dabei in Kauf nehmen zu müssen - auch wenn uns die Romane des 18. und 19. Jahrhunderts meist nur die Sonnenseiten des damaligen Lebens darzustellen pflegen (Ausnahmen gab es natürlich schon immer). Um so interessanter ist es aber, sich einmal die allgemeinen Lebensumstände an sich und deren Entwicklung vor Augen zu führen, eben weil der historische Alltag nicht zu unserer allgemeinen Schulbildung zählt und die meisten Geschichtsbücher nur von den "wichtigen" Dingen und Ereignissen zu berichten haben.

Bill Bryson nimmt uns in seiner "Kurzen Geschichte der alltäglichen Dinge" mit auf eine Reise in die Vergangenheit und bedient sich dabei eines genialen, bei Rednern altbekannten Kunstgriffs. Er führt uns durch diese Geschichte anhand seines Hauses, das wir Zimmer für Zimmer entsprechend dessen jeweiliger Aufgabe vom Keller bis zum Dachboden durchwandern. Und dabei ist dieses Buch wirklich eine gigantische Wunderkammer, die mit unzähligen Anekdoten und Geschichten aufwarten kann - auch wenn der Autor dabei hauptsächlich sein anglophiles Publikum im Auge hat und wir daher eine Menge über die Geschichte des Alltags in England und den USA lernen. Es ist mühselig bis schlicht unmöglich die gesamte Stofffülle zusammenfassen zu wollen, die Bill Bryson in diesem Band auffährt. So lernen wir einfach alles kennen, angefangen von Tischsitten, Nahrungs- und Genussmittel samt zugehöriger Küchengerätschaften über Gartenbau, Landschaftsarchitektur, Beleuchtung und Tapeten bis hin zu Mode, Kosmetik, Medizin oder Kindererziehung. Dabei sind das nur einzelne, stichprobenartig herausgezogene Themen und es steckt noch viel, viel mehr in diesem ausführlichen, aber immer noch nicht allumfassenden Bändchen.

Am besten, ich picke einfach eine der unzähligen, kurzen Geschichten heraus. Im Kapitel zum Thema 'Esszimmer' kommt Bryson auf den Tee als das Lieblingsgetränk der Briten zu sprechen. Dessen allererste literarische Erwähnung findet sich in den berühmten Tagebüchern von Samuel Pepys ('So nah und doch so fern...' rezensiert im Biblionomicon) und ist datiert auf den 25. September 1660:
"And afterwards I did send for a cup of tee (a China drink) of which I had never drunk before." (Samuel Pepys Tagebücher)
George Morland - A Tea Garden (1790)
Noch interessanter wird es aber, wenn man sich fragt, wie die Entdeckung dieser literarischen Referenz überhaupt zustande kam und was sie bewirkte. Der schottische Historiker David Macpherson referenziert diese Zeilen 1812 in seinem Werk "History of the European Commerce with India" zu einer Zeit, da noch niemand Samuel Pepys Tagebücher überhaupt kannte. Zufällig las ein Wissenschaftler in Cambridge Macphersons Arbeit und wurde auf die Tagebuchreferenz aufmerksam, da diese aus einer für England sehr bewegten Zeit stammten (Restauration, die Pest und der große Brand von London) und interessant zu sein versprachen. Da aber Pepys seine Tagebuchaufzeichnungen verschlüsselt hatte, wurde ein Student mit der Klarschrift beauftragt, deren Vollendung ganze drei Jahre in Anspruch nehmen sollte. Das Ergebnis waren die heute bekannten und wohl berühmtesten Tagebuchaufzeichnungen des englischen Barocks.

Auch vieles aus unserer heutigen Zeit Kurioses weiß Bryson zu berichten, z.B. zählen die hygienischen Angewohnheiten unserer Vorfahren nach heutigen Maßstäben bemessen wohl nicht zu den besten. So erzählt er von St. Goderik, der zum Kreuzzug aufbrach und sich solange nicht gewaschen haben soll, bis er wieder aus dem heiligen Land zurückgekehrt war. Der strengen Einhaltung dieses Gelübdes soll er letztendlich sogar seine Heiligsprechung verdanken. Doch auch Ludwig XIII. soll das erste Bad seines Lebens zu seinem 17. Geburtstag im Jahr 1608 angetreten haben. Und 1653 vermerkte der eifrige Tagebuchschreiber John Evelyn, dass er sich jetzt aus hygienischen Gründen den festen Vorsatz gefasst hätte, sein Haar einmal pro Jahr zu waschen.

Ich habe das unterhaltsam geschriebene Werk im englischen Original gelesen und kann es auch ohne weitere Vorbehalte als solches empfehlen. Die Idee, diese Geschichte(n) an die einzelnen Zimmer im Haus zu koppeln, sorgt dafür, dass der Leser auch bei der schier unüberschaubaren Fülle an Fakten den Überblick nicht verliert. Diesen Trick hat sich Bill Bryson bei den antiken Rednern abgeschaut, die ihre oft stundenlangen Reden mit Hilfe des Bildes eines Hauses memorierten, in dem man von Zimmer zu Zimmer ging und deren Inventar man mit den Argumenten seiner Rede verknüpfte.
"Wer diese Fähigkeit [des Gedächtnisses] trainieren will, muss deshalb bestimmte Orte auswählen und von den Dingen, die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder herstellen und sie an die bewussten Orte heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können die Orte anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen." (Cicero, Von der Redekunst, II, lxxxvi, 354) 
Fazit: Eine Wunderkammer vollgestopft mit Wissen, das sich in kaum einem anderen Geschichtsbuch in dieser Zusammenstellung findet, präsentiert in wunderbar unterhaltsamer Form, die an keiner Stelle langweilig wurde. LESEN!!!


Bill Bryson
Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge
Goldmann Verlag
640 Seiten
24,99 Euro
(Die englische Ausgabe gibt es schon für 7,99 Euro)








Auch im Biblionomicon besprochen: