Mittwoch, 27. Juni 2012

Enttäuschung für Monsterliebhaber - Rick Yancey 'Der Monstrumologe'

Wer kennt das nicht! Es gibt Themen auf die man sofort anspringt. Man kann sich ihnen einfach nicht entziehen – auch wenn sie an sich eigentlich nicht zu dem passen, was man sonst liest ... bei mir sind es (ich gestehe) Monster! Wenn sie mir dann auch noch so offenkundig präsentiert werden wie es bei Rick Yanceys „Der Monstrumologe“ der Fall ist, kann ich nicht widerstehen. Natürlich soll man ein Buch nicht nach seinem Äußeren beurteilen, aber das Cover ist nun einmal das Erste, was man von einem Buch zu sehen bekommt. Es in die Hand zu nehmen, um es dann umzudrehen und den Klappentext zu lesen - das ist erst der zweite Schritt. Zu einem gewissen Prozentsatz ist die Entscheidung für ein Buch zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen. So ging es zumindest mir, als mir der Monstrumologe in die Finger fiel. Der schwarz-weißer Einband in holzstichartigem Design mit geprägtem Titel ließ mich zugreifen. Als ich dann den Klappentext las, war es um mich geschehen. Das Buch musste mit und es musste auch sofort gelesen werden, versprachen doch bereits die ersten Seiten spannende Unterhaltung.


Ein erstes der Bilder, mit denen das Buch nicht geizt (meist kleine Abbildungen am Rande einer Seite), zeigt ein Regal mit Gläsern, die mit unterschiedlichsten Körperteilen von Ungetümen und Monstern gefüllt sind (erinnert hat mich das an die anatomische Sammlung der Charité – die finde ich großartig...die Formulierung klingt lässiger, als ich sie meine, also besser: beeindruckend). Passend dazu ist gleich am Anfang die Definition der Monstrumologie zu lesen, damit der unwissende Leser auch gleich weiß, womit er es zu tun hat: 
„Das Studium von Kreaturen, die sich dem Menschen gegenüber grundsätzlich böswillig verhalten und deren Existenz von der Wissenschaft nicht anerkannt ist. Meist handelt es sich um Wesen, die man dem Reich der Mythen und Legenden zuordnet.“ (Klappentext)
Aber nun erst einmal ein paar Worte zur Handlung: Wir haben es mit einem altbekannten Motiv der Literatur zu tun. In einer (frei erfundenen) Stadt in Neuengland lebt im Jahr 1888 der Waisenjunge Will Henry beim kauzigen Wissenschaftler Dr. Warthrop. Schon Wills Eltern, die auf tragische Weise bei einem Brand – dessen Umstände im späteren Verlauf der Geschichte noch eine große Rolle spielen werden – ums Leben kamen, arbeiteten für Dr. Warthrop. Der Doktor widmet sich mit vollem Einsatz der Monstumologie, jener oben definierten, geheimen Wissenschaft. Will muss ihn bei seinem zumeist nächtlichen Sitzungen assistieren. Der arme Junge schläft dabei fast immer ein und wird dafür von seinem uneinsichtigen Doktor immer wieder zu Unrecht gemaßregelt. Das Mitleid des Lesers ist Will in jedem Fall gewiss – so wie vor ihm auch Harry Potter oder David Copperfield.

Der schrullige Doktor bekommt eines Abends ein besonders monströses Exemplar auf seinen Seziertisch: einen Anthropophagen. Dieses unbekannte Wesen zeichnet sich besonders durch eine Merkwürdigkeit aus, es ist kopflos. Seine Augen befinden sich auf der Brust und sein scharfzahniges Maul in seinem Bauch. Dr. Warthrope konsultiert seine einschlägige Monsterliteratur und ist sich bald sicher, dass er es mit einer großen Bedrohung zu tun hat – wie könnte es auch anders sein (diesen Schluss hätten wir vermutlich auch ohne Fachliteratur geschlossen, oder?)?

Über die weiteren Entwicklungen der Geschichte möchte ich gar nichts mehr verraten. Nur so viel: die erhoffte Spannung blieb leider aus. Die Geschichte an sich hat mir gut gefallen – wäre sie doch nur 200 Seiten kürzer gewesen. Ein paar gute Dialoge hätten dem Roman gut getan, die vorhandenen erscheinen mir alle sehr konstruiert und sprachlich nicht zu den Protagonisten passend. Das mag daher rühren, dass die Geschichte rückblickend erzählt wird. Will schreibt sie als betagter Mann auf und die an sich spannenden Stellen werden durch diese Form des Erzählens ziemlich steif und langweilig; ein Junge spricht mit den Worten eines Greises – das ist einfach nicht stimmig. Scheinbar war sich Yancey auch nicht sicher, ob er ein Buch für Erwachsene oder doch lieber ein Jungendbuch schreiben soll. Erschienen ist es zwar als Buch für Erwachsene, aber immer wieder findet man sich beim Lesen in der Jugendbuchwelt wieder – eigentlich ist es dafür aber zu blutrünstig.

Ich bin hin und her gerissen. An sich eine gute Geschichte, aber deutlich zu lang. Theoretisch durchaus spannend, aber zu langatmig geschrieben. Eigentlich ein Jugendbuch, dafür aber zu blutig. Erwachsenenliteratur, aber sprachlich eher Jugendbuch...Schade!

Der zweite Teil der bisher drei „Monstrumologenromane“ liegt bereits in den Buchhandlungen aus: „Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo“. Der dritte Teil ist bisher nur im englischen Original „The isle of blood“ erschienen. Ich für meinen Teil habe genug vom Monstrumologen und werde mir sowohl den zweiten als auch den dritten Teil verkneifen.


Wundervölker aus der Schedelschen Weltchronik
Von wirklichen Monstern
Die Idee des kopflosen Monsters ist nicht ganz neu und man hat den Eindruck, dass der „yanceyische Anthropophage“ direkt der Schedelschen Weltchronik entsprungen ist. Die 1493 bei Anton Koberger in Nürnberg erschienene Chronik des Hartmann Schedel (Arzt, Humanist und Historiker) gilt als Meisterwerk der Buchdruckkunst und liefert mit unglaublichen 1809 Holzschnitten aus der Wolgemut-Werkstatt (dort, wo Albrecht Dürer bis 1490 in die Lehre ging und im Zuge dessen vermutlich auch den ein oder anderen Holzschnitt für spätere Ausgaben beisteuerte) einen umfassenden Blick auf die Welt und wie man sie sich im 15. Jahrhundert vorstellte. Sie unterteilt die Geschichte der Welt in sieben Weltalter von der Erschaffung der Welt bis zum jüngsten Gericht.

Ein Abschnitt der Chronik berichtet über die „Wundervölker“, die in fremden Ländern wohnen und erstaunliche Besonderheiten aufweisen. Die in der Chronik detailliert beschriebenen Vorstellungen dieser Bewohner entstanden bereits in der Antike und wurden recht kritiklos in das Mittelalter transportiert. Wie stellte sich der Mensch des Mittelalters die Bewohner fremder Länder vor? Z.B. so:
„Item in dem land libia werden ettlich on hawbt geporn vnd haben mund vnd augen. Ettlich sind bederlay geslechts, die recht prust ist in manlich vnd die lingk weiblisch vnd vermischen sich vndereinand vn gepern.“ (Schedelsche Weltchronik, Blatt XII)
The Travells of Sir John Mandeville (ursprünglich 14. Jhd.)
Beschrieben wird hier kein Anthropophage, auch wenn sich Yancey ganz sicher hier bedient hat, sondern ein Blemmyae (auch Acephale), ein kopfloses Wesen, dessen Augen und Mund sich auf dem Rumpf befinden. Neben diesem Wesen stellte man sich noch viele andere vor. Was fehlende Gliedmaßen oder ungewöhnliche Proportionen betrifft, kannte die Phantasie offenbar keine Grenzen. Die Füße der Antipoden z.B. waren nach hinten gerichtet, sodass sie nur rückwärts laufen konnten. Die Skiapoden (Schattenfüßler) besaßen lediglich einen großen Fuß, mit dem sie durch die Welt hüpfen und sich vor der Sonne schützen konnten. Wer Umberto Ecos „Baudolino“ gelesen hat, wird sich möglicherweise noch an Gavagai erinnern:
„Hände und Arme waren es ohne Zweifel, die das Wesen da hatte, das ihnen nun entgegenkam. Ansonsten aber hatte es nur ein einziges Bein. Nicht daß es verstümmelt gewesen wäre, denn dieses Bein verlängerte seinen Leib auf ganz natürliche Weise, als wäre nie Platz für ein zweites gewesen, und mit dem einzigen Fuß dieses einzigen Beins lief das Wesen ganz zwanglos [...]. Dann machte er das, was man allen guten Traditionen zufolge von einem Skiapoden erwartet: Er legte sich lang auf den Rücken, hob das Bein so, daß der große Fuß seinem Kopf Schatten spendete, verschränkte die Arme unter dem Kopf und lächelte glücklich, als läge er unter einem Sonnenschirm.“ (Baudolino, S. 416f)
Mit dem Zeitalter der Entdeckungen verschwanden auch die Wundervölker, denn nun bereiste man die zuvor unbekannten Länder und konnte die beschriebenen Völker (logischerweise) nicht finden. In der Schedel’schen Weltchronik bleiben sie jedoch lebendig und dienen Autoren immer wieder als beliebte Vorlage für Monster oder andersartige Wesen.

Eure
Claudia Kleimann-Balke


Rick Yancey
Der Monstrumologe
Bastei Lübbe (2010)
426 Seiten
14,99 Euro

Sonntag, 24. Juni 2012

Viktorianischer Drogentrip um eine schwierige Männerfreundschaft - Dan Simmons 'Drood'

Charles Dickes sollte seinen letzten Roman 'Das Geheimnis des Edwin Drood' niemals zu Ende schreiben können. Gut die Hälfte der Kapitel hatte der Großmeister der englischen Erzählkunst fertig gestellt und an den Verlag verschickt, als ihn sein Ende ereilte. Fatal, denn es sollte sich um eine Kriminalgeschichte handeln und Dickens hatte zwar viele Spuren gelegt, blieb uns die Aufklärung des eigentlichen Verbrechens aber schuldig. Schlimmer noch, er ließ auch noch zahlreiche Hintertüren offen, so dass es sich gar nicht um einen Mordfall handeln musste. Zum Glück für die Nachwelt haben sich bereits zahlreiche Autoren an der Vollendung seines letzten Werkes versucht, so auch nachzulesen im Biblionomicon unter 'Die Mutter aller Cliffhanger...'[1]. Was liegt also näher, als rund um die letzten Tage Charles Dickens und seinem unvollendeten Roman selbst einen Roman zu stricken. Material ist sicherlich genug dazu vorhanden. Insbesondere, wenn man Verschwörungsgeschichten mag, und Charles Dickens' Kollegen und Freund Wilkie Collins (vgl. Biblionomicon 'Fulminanter Genreauftakt des englischen Kriminalromans...'[2]) zum Verfasser bzw. Erzähler der geheimnisvollen Geschichte erhebt.
"Ich heiße Wilkie Collins, und da ich die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen auf einen Zeitpunkt hinauszuschieben gedenke, der mindestens eineinviertel Jahrhunderte nach meinem Ableben liegt, vermute ich, dass Du meinen Namen nicht kennst." (erster Satz des Romans)
Damit mag Wilkie Collins Recht haben, denn wer üblicherweise Romane des Autors Dan Simmons liest, ist wahrscheinlich eher im actionlastigen Horror-, Psycho- oder Science Fiction Genre zu Hause, als dass er sich mit englischen Kriminalschriftstellern des 19. Jahrhundert oder gar Charles Dickens auseinandersetzt. Dan Simmons Roman 'Drood' startet mit dem tragischen Eisenbahnunglück von Staplehurst, bei dem ein Zug eine Brücke hinabstürtzte. Charles Dickens saß tatsächlich als Passagier in diesem Zug und überlebte das Unglück wie durch ein Wunder körperlich unverletzt. Jedoch sollte ihn der Schrecken noch sein Leben lang verfolgen. Ausgehend von diesem tatsächlich biografischen Ereignis entspannt sich Dan Simmons Geschichte um den mysteriösen Mr. Drood, seine alptraumhafte, schrecklich verunstaltete Gestalt im schwarzen Umhang, die sich Dickens während des Eisenbahnunglücks vorstellt, als dieser sich um die Verletzten kümmern will. So plötzlich, wie er aufgetaucht ist, verschwindet er aber auch wieder, so dass sich Dickens und ebenso sein Freund Wilkie Collins, dem er sich anvertraut,  fragen, war diese Gestalt tatsächlich real oder nur eine Ausgeburt von Dickens überreizter Phantasie. Die Suche nach dem geheimnisvollen Drood gerät für die beiden zur Obsession, die sich durch das dunkle London eines vergangenen Jahrhunderts, durch Slums, Friedhöfe, Katakomben und die (gerade fertiggestellte) Kanalisation kämpfen müssen. Wilkie Collins ist zwar der jüngere der beiden, doch um seine Gesundheit ist es nicht gut bestellt. Die Gicht verursacht ihm dermaßen starke Schmerzen, dass er sein Leben nur noch mit steigenden Dosen von Laudanum und Opium meistern kann. Dickens ist ein begeisterter Anhänger des Mesmerismus und der Hypnose, die er  als Amateur praktiziert und als Salonkunststückchen gerne vorführt. Ist Drood und seine phantastische Parallelwelt, in der er die Weltverschwörung plant,  nur eine Ausgeburt der Opiumphantasien Wilkie Collins oder Dickens' Hypnoseexperimenten? So verwischen die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt und der Leser wird mitgenommen auf eine atemlose Jagd nach einem Phantom.

Charles Dickens (1812-1870)
Zwar klingt das Szenario ziemlich reißerisch, aber immerhin hat sich Dan Simmons durch Wilkie Collins Opiumsucht und Dickens Hypnose-Experimente einen gewissen Freiraum geschaffen, das Phantastische glaubhaft mit in diese biografische Gesellschaftsgeschichte einfließen und zum gestalterischen Element werden zu lassen. Immerhin erfährt man zahlreiche interessante Details über die  Beziehung der beiden ungleichen Freunde und Rivalen. Dickens - von Collins immer spotthaft als der 'Unvergleichliche' bezeichnet - gibt sich stets großspurig und lässt keine anderen Götter neben seinem Genie gelten. Collins kämpft gegen die durch seine Krankheit verursachten Schmerzen, schluckt so manche Unverschämtheit des großen Dickens wortlos hinunter und plant am Ende sogar minutiös dessen Ermordung. Dabei gewinnt der Leser Einblicke in die Schaffenswelt der beiden Autoren und lernt Wissenswertes über die Entstehungsgeschichte einiger ihrer bekannten Werke. Auch der allgemeine Kult um den Superstar Dickens und die Begeisterung, die seine Lesereisen beim Publikum hervorgerufen haben, werden eindrücklich geschildert.
"So verschenken wir Schriftsteller die Tage, Jahre und Jahrzehnte unseres Lebens für Stapel vollgekrakelter Blätter. Und wie viele von uns würden nicht, wenn dann der Tod ruft, al diese einem verschwendeten Leben abgerungenen Seiten eintauschen gegen einen weiteren Tag, gegen einen einzigen wirklich erlebten Tag mit jenen, die wir in unserer hochmütigen Einsamkeit vernachlässigt haben?" (Seite 844)
Besonders gefallen hat mir die charakterliche Darstellung der beiden Antagonisten Dickens und Collins und ihr schwieriges Freundschaftsverhältnis. Gefärbt wird das Ganze mit einer Menge viktorianischen Lokalkolorits, vermengt mit phantastischen Einschüben, die in dunkel schauriger und manchmal auch deprimierender Schemenhaftigkeit aus dem Londoner Nebel auftauchen und wieder in diesem verschwinden. Collins merkt am Ende selbst, dass ihm seine Droge nur allzu oft Wahngebilde vortäuscht, aber er will diese Tatsache nicht wahr haben. Für einen Liebhaber actionlastiger Schauergeschichten ist dieser Roman beim besten Willen nicht geeignet, lässt er sich doch über die gut 1.000 Seiten reichlich Zeit zur ausführlichen Schilderung seiner Charaktere und ihrer Lebenswelt. Auch hebt es den Lesegenuss erheblich, wenn man Dickens' Romanen, insbesondere mit seinem 'Edwin Drood' vertraut ist, denn es tauchen immer wieder Figuren aus diesem Werk auf und vermitteln dem Eingeweihten das ein oder andere DejaVu-Erlebnis.

Fazit: Ein viktorianischer Drogentrip in Kombination mit einer schwierigen Männerfreundschaft -- eine kurzweilige Hommage an Dickens und Collins Werke, ein ausgesprochener Lesetipp für Liebhaber, aber nicht unbedingt für jedermann.  

Literatur:

Dan Simmons
Drood

Heyne Verlag (2010)
976 Seiten
10,99 Euro

Samstag, 16. Juni 2012

Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren... - Hermann Kasack 'Die Stadt hinter dem Strom'

Hermann Kasack: Die Stadt hinter dem Strom
Suhrkamp Verlag, Berlin, 1948 (Erstausgabe)
Und wieder einmal ein Buch, das aktuell nicht verlegt wird und nur über das Antiquariat zu beschaffen ist. Eigentlich unverständlich, denn das Buch, um das es heute geht, war bei seinem Erscheinen unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg ein großer Erfolg und wurde bereits in den 1950er Jahren in zahlreiche Sprachen übersetzt, so dass es auch heute noch leicht seine Leser finden würde. Aber bevor wir weiter darüber nachgrübeln, warum der Suhrkamp Verlag dieses "Schätzchen" aktuell nicht mehr in seinem Verlagsprogramm führt, kommen wir besser zum Thema. Vor gut einem Jahr war mir weder der Name des Autors Herman Kasack ein Begriff, noch hatte ich etwas von seinem Roman "Die Stadt hinter dem Strom" gehört. Tatsächlich stand mein freundlicher Nachbar Andreas eines Tages vor der Türe und drückte mir das Buch in der Erstausgabe von 1948 in die Hand. Wir hatten uns kurz zuvor über Alfred Kubin, den genialen Illustrator der Geschichten Edgar Allan Poes, und dessen phantastischen Roman "Die andere Seite" unterhalten [1] [2]. Wenn mir Kubin gefallen hätte, dann müsste ich unbedingt Hermann Kasack lesen, insbesondere da der Roman auch hier in Potsdam zu Ende geschrieben worden sei. Es sollte aber noch einige Zeit ins Land gehen, bis ich mir die Zeit nahm, dieses ungewöhnliche Buch endlich zu lesen...

Wir begegnen zunächst dem Erzähler Dr. Robert Lindhoff, seines Zeichens Alt-Orientalist, der mit dem Zug in die "Stadt hinter dem Strom" reist. Aus seinen ersten Schilderungen der zerstörten Häuser und ihrer armseligen Bewohner fühlt man sich sofort an das zerbombte Deutschland der Stunde Null, direkt nach Ende des zweiten Weltkriegs erinnert. Dabei begegnet der Erzähler zunächst seinem Vater, den er eigentlich für tot gehalten hatte, bevor er sich auf den Weg zur geheimnisvollen Präfektur macht, wo man ihn bereits erwartet. Dort wird ihm sein Auftrag eröffnet, die freie Stelle als Archivar und Chronist anzutreten. Seine Aufgabe sei es, die Stadt zu durchwandern und alle seine Eindrücke und Erfahrungen für die Nachwelt als Chronist festzuhalten. Allerdings ist diese "Stadt hinter dem Strom" wirklich eine seltsame Stadt. Ihre Bewohner gehen oft sinnlosen, mechanischen Tätigkeiten nach ohne darüber nachzudenken, und scheinen allesamt gelenkt durch eine unbestimmte und geheimnisvolle Macht.
„Ich sah die Flächen einer gespenstischen Ruinenstadt, die sich ins Unendliche verlor und in der sich die Menschen wie Scharen von gefangenen Puppen bewegten.“
Bei seinen Streifzügen durch die Stadt trifft Robert Lindhoff auf seine Freundin Anna. Eigentlich war Anna verheiratet - wie auch Robert - und interessanterweise vertritt gerade sein totgeglaubter Vater Anna in ihrem endlos sich hinziehenden Scheidungsprozess als Anwalt - ohne zunächst genau über Roberts und Annas Verhältnis Bescheid zu wissen. Eine seltsame Kombination. Es kommt noch seltsamer, denn durch Anna erkennt Robert, dass er tatsächlich als einziger Lebender in einer Stadt der Toten unterwegs ist.
"Ich empfinde, sagte sie in einem singenden Tonfall, keinen Unterschied mehr. Träumen und Wachen, es ist nur eine verschiedene Drehung des Kreises, in dem wir uns bewegen. Du weißt es auch. Bilden wir uns nicht ein, dass wir leben, und in Wahrheit - "
Herman Kasack scheint das Buch unmittelbar unter dem Eindruck des Krieges und der Nachkriegszeit geschrieben zu haben und führt uns durch seine seltsame Welt in einer trüben, melancholisch depressiven Stimmungslage. Das Unwirkliche, teils durch die manchmal antiquiert verkomplizierte Sprache oder durch die pessimistisch gezeichneten Bilder und ihre tief melancholischen Figuren, verfolgt den Leser auf Schritt und Tritt, so dass diesem bereits von Anfang klar ist, dies ist kein realistischer, sondern vielmehr ein phantastischer Roman. Dabei spielt Kasack natürlich auch auf die Jenseitsfahrten und -visionen der griechischen Antike (Orpheus und Euridike) oder die eines Dantes (Die göttliche Kommödie) an. Der Strom, hinter dem die Stadt liegt, verweist eindeutig auf Lethe, den Strom des Vergessens, aus dem die Verstorbenen einen Schluck nehmen mussten, um ihr vorheriges Leben zu vergessen, bevor sie wiedergeboren werden konnten.
"Nicht um euretwillen kehrt zurück, wie ihr einmal wolltet, sondern um der Lebenden Willen. Geht als Geister in ihre Träume ein, ergreift von ihrem Schlaf Besitz, jenem Zustand, der dem Euren so ähnlich ist! Dort erscheint ihnen als mahnende Stimmen, als warnende und fordernde Stimmen und wenn es not tut als Plagegeister. Ihr haltet den Schlüssel des Gerichts in Euren Händen."
Das Unwirkliche, das dem Leser auf Schritt und Tritt verfolgt und die seltsam, geradezu schlafwandelnden Bewohner der Stadt, die von der allmächtigen, aber noch viel unwirklicher erscheinenden Präfektur gelenkt weden, erinnern an die beklemmenden Szenarien aus Kafkas 'Das Schloß' oder 'Der Process'. So zählt 'Die Stadt hinter dem Strom' zu den Werken der sogenannten 'inneren Emigration'. Anders als viele seiner Schriftstellerkollegen, die zu dem Regime in Opposition standen, konnte sich Kasack während der Zeit des Nationalsozialismus nicht zur Emigration aus Deutschland entschließen.

Am Ende des Buches schließt sich der Kreis, den der Erzähler beschreitet, und er kehrt erneut wieder in die Stadt hinter dem Strom zurück. Diesmal sitzt er als 'rechtmäßiger' Passagier im Zug, denn als Toter überquert er nun die Brücke über den Strom....

Fazit: Bedeutende deutsche Nachkriegsliteratur und ein in der Tradition der Phantastik stehender Roman, der unbedingt wieder verlegt werden sollte. LESEN! 


Referenzen:




Hermann Kascak
Die Stadt hinter dem Strom
Suhrkamp Verlag, Berlin, 1948
600 Seiten
(aktuell nur antiquarisch erhältlich)

Freitag, 8. Juni 2012

Von der Hebammenkunst - Arthur C. Clarke 'Die letzte Generation'

Die heute als "klassisch" bezeichneten Romane des Science Fiction Genres wurden meist schon vor etlichen Jahrzehnten oder gar vor noch längerer Zeit geschrieben. Damit diese aus unserer heutigen Perspektive betrachtet immer noch die vom Autor intendierte Wirkung ausüben, dürfen sie bei der Schilderung der "Zukunft" nicht zu sehr in ihrer eigenen Zeit verhaftet sein, sondern verlangen vom Autor mehr als nur die einfache "was-wäre-wenn"-Projektion zeitgenössischer Technologien. Hätte man einen einfachen Menschen des 19. Jahrhunderts nach den zukünftigen Fortschritten im Individualverkehr befragt, hätte man sicher oft Antworten wie z.B. "ausdauerndere und gesündere Pferde" bzw. "schnellere Kutschen" erhalten. Ein Auto angetrieben auf der Basis eines Verbrennungsmotors mit der Kraft von über hundert Pferden, das sich zudem noch jeder leisten könnte, wäre sicher kaum jemanden eingefallen. So geraten zahlreiche der "klassischen" Science Fiction Romane heute schnell zu einem Panoptikum der gescheiterten Technikträume und wirken von unserer heutigen Technologie bereits überholt. 

Langlebiger und interessanter sind da schon die Gesellschaftsutopien, die sich mit den Folgen aktueller oder zukünftiger Technologien und darauf aufbauend mit den Möglichkeiten der Entwicklung unserer Zivilisation befassen. Dann ist es egal, ob wir mit dem Telegrafen oder über das Internet kommunizieren. In beiden Fällen beschleunigt die nahezu verzugslose Kommunikation unsere Gesellschaft und sorgt dadurch für nachhaltige und möglicherweise dramatische Veränderungen.

Mit 'Die letzte Generation' (Titel im Original: Childhoods End) ist Arthur C. Clarke vor nun gut 60 Jahren ein immer noch beeindruckender Roman des Genres gelungen. Wir alle kennen das Bild, das Clarke an den Anfang des Romans stellt. Ein Bild, das mittlerweile - dank Hollywood - zu einer Ikone geraten ist. Die riesigen Raumschiffe der Außerirdischen schweben gleich einer Drohung über allen großen Städten der Menschen. Wie aus dem Nichts, sind die Schiffe der Overlords plötzlich erschienen und sie zwingen den Menschen ihren Willen auf. Nein, die Menschheit soll nicht unterjocht werden. Doch werden zunächst Kriege und Konflikte ebenso wie später weitere "Verfehlungen" der Menschheit mit sanftem Druck unterbunden. So werden aus den früher miteinander streitenden Nationen Befürworter, Mitläufer oder aber militante Gegner der Außerirdischen, die sich in einer Art Widerstandsbewegung organisieren.

Ein großes Rätsel bleibt vor allen Dingen die Gestalt der Außerirdischen, die sich vor den Menschen verborgen halten.  Es gibt auch einen Grund, warum sich die Overlords verbergen. Und der hat tatsächlich mit ihrer Gestalt zu tun, die der Menschheit bekannt vorkommen könnte und eventuell an eine frühere, heute in Mythen verschwundene Epoche gemahnt.tt
"Wissenschaft kann Religion zerstören, indem sie sie unbeachtet lässt, aber auch indem sie ihre Lehren widerlegt." (Seite 34) 
"Doch sie wussten, wenn die Wissenschaft etwas für möglich erklärt hatte, ging kein Weg mehr daran vorbei, dass es eines Tages Wirklichkeit wurde." (Seite 196)
Doch auch die Overlords sind nur Mittelsmänner für eine weitere Macht, die ebenfalls im Dunkeln bleibt, und in deren Auftrag sie handeln. Es geht um die Weiterentwicklung der Menschheit und den Overlords kommt die Aufgabe einer Art Hebamme zu, um die Menschen auf einen Weg zu lenken, der den Overlords selbst verwehrt bleiben wird. Der dünne, kaum 300 Seiten umfassende Roman ist aus einzelnen Episoden aufgebaut, zwischen denen oft mehrere Jahrzehnte vergehen, und die die Geschichte anhand von Einzelschicksalen schlaglichtartig beleuchten. Clark zeichnet seine Figuren knapp und prägnant, ohne dabei in Stereotype zu verfallen. Die geschilderte Technologie ist in diesem Roman eher zweitrangig. Interessant ist dabei das Interesse der Overlords an den Mythen und Aberglauben der Menschen, an menschlicher Esoterik und Parapsychologie, die dem gängigen Technik-Klischee widersprechen. 

Mein ganz privater Einstieg in die Literatur begann als Kind über Science Fiction. Ich glaube, ich habe als Heranwachsender alle nur verfügbaren Zukunftsromane unserer kleinen Gemeindebibliothek gelesen. Begann es zunächst aus banaler Neugier an den geschilderten Technologien und den fantastischen Welten, traten nach und nach doch auch die Beweggründe der darin agierenden Menschen, ihre Interessen, Ängste und Zweifel in den Vordergrund. So verbarg sich hinter der Gattung Science Fiction auch für mich nichts anderes als eine Art Hebamme, die mich anfänglich begleitete, und zu der mich auch heute noch gelegentliche Abstecher zurückführen.

Fazit: Ein Science Fiction Klassiker und eine für das Genre eher untypisch positive Utopie, die mit einigen spannenden Überraschungen aufwarten kann. Lesen! 


Arthur C. Clarke
Die letzte Generation
Heyne Verlag (2003)
288 Seiten
8,95 Euro