Sonntag, 16. September 2012

Rachel Joyce 'Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry'

Heute nimmt sich Claudia einem der aktuellen 'Bestseller' in Ihrer Gastrezension an. Wir wissen ja eigentlich alle, dass das Prädikat 'Bestseller' lediglich Auskunft darüber gibt, was sich gut verkauft und nicht unbedingt auch für literarische Qualität steht. Aber wir wollen erst einmal nichts übers Knie brechen, sondern Claudia zu Wort kommen lassen....

Es gibt Bücher, die man auf keinen Fall lesen möchte. Das hat nicht immer einen bestimmten Grund. Manchmal schon, z.B. weil sie auf der Bestsellerliste folgendermaßen angepriesen werden: „So wie der Hundertjährige“ oder „Wenn Sie den Hundertjährigen mochten, dann mögen Sie auch Harold Fry“. Grund genug, die Finger davon zu lassen. Der 'Hundertjährige' flatterte mir als Leseexemplar auf den Nachttisch, als noch niemand an den Erfolg dieser Geschichte glauben konnte - der sich, wie ich finde, dann schnell und zurecht einstellte. Prinzipiell mag ich solche Geschichten - aber warum muss einem guten, originellen Buch immer gleich eine „Fälschung“ folgen. Naja, weil es, wenn es einmal funktioniert hat, auch ein zweites Mal funktionieren wird. Ich ärgerte mich beim Erscheinen der zweiten Pilgerreise nur darüber, dass sie erschienen war und ignorierte sie. Bis mich meine ehemalige, liebe Kollegin Anka bat, es zu lesen und ihr meine Meinung zu dieser Geschichte zu sagen. Sie selbst war sehr angetan von der „Fälschung“. Ich habe mich also breitschlagen lassen - zumindest empfand ich das so und setzte mich mit eben diesem Gefühl und Harold Fry in den Garten...

Wie immer ganz kurz zur Geschichte: Harold Fry lebt mit seiner Frau Maureen ein bescheidenen, langweiliges, ödes, Leben. Der Sohn David ist längst aus dem Haus, der Kontakt sporadisch. Der Alltagstrott ist lähmend. Zwischen die ordentlichen Gardinen, die blitzenden Fenster und den porentiefreinen Teppich flattert eines Tages der Brief einer alten Bekannten, Queenie Hennessy, ins Haus. Sie schreibt Harold, um sich zu verabschieden. Sie sei an Krebs erkrankt. Harold trifft diese Nachricht tief, obwohl er Queene beinahe vergessen hatte. Er versucht eine Antwort zu formulieren, was ihm sehr schwer fällt:
„Liebe Queenie, danke für Ihren Brief. Es tut mir leid. Alles Gute – Harold (Fry).“ (Seite 13). 
Er nimmt den Brief und will ihn zum Briefkasten bringen. Dort angekommen stellt er fest, dass der Tag recht schön ist und er sowieso nichts vorhabe. Er machte sich also zum nächsten Briefkasten auf und zum dann wieder zum nächsten und zum nächsten...Auf seinem Weg denkt er nach. Über sich, Maureen und David, seine Eltern. Neben allen Gedanken, die ihm nur so durch den Kopf zu schießen scheinen kristallisiert sich eine Frage heraus, die ihn plötzlich ergreift:
„Wer bin dann eigentlich ich?“ (S. 19). 
Er kommt auf eine völlig absurde Idee: er will zu Queenie laufen, bis nach Berwick, durch das ganze Land. Hinter dieser Idee steht noch ein viele verrücktere Idee, nämlich die, dass Queenie so lange leben würde, wie er sich auf dem Weg zu ihr befände. Er informiert das Hospiz, indem Queenie lebt:
„Sagen Sie ihr, Harold Fry ist auf dem Weg. Sie braucht nur durchzuhalten. Denn ich werde sie retten, wissen Sie. Ich werde laufen und sie muss weiterleben.“ (S. 28). 
Zugegeben eine völlig absurde Vorstellung - aber diese Vorstellung treibt Harold an zu laufen. Seine Reise ist nicht nur das Zurücklegen von Kilometern - eine Reise, insbesondere eine Pilgerreise, ist immer auch eine Reise zu sich selbst. So ergeht es in den einsamen Stunden auf seinem Weg auch Harold. Die Gedanken kreisen - um fast alles, was in seinem Leben eine Rolle gespielt hat. Auf diese Weise lernt der Leser Harold kennen - durch dessen Erinnerungen und Gedanken. Im Laufe des Buches wird Harold ein alter Bekannter; man erfährt vieles über seinen Beruf, die restliche Familie, die Beziehung zu seinem Sohn, die Beziehung zu seinem eigenen Vater, der verstört aus dem Krieg zurück kam. Immer wieder setzt er sich auch mit seiner Ehe zu Maureen auseinander. Anfangs nicht nur positiv, kommt er doch schließlich zu der wichtigen Erkenntnis:
„Er konnte sich selbst nicht mit einer anderen Frau als Maureen vorstellen. Sie hatten so viel miteinander geteilt. Ohne sie zu leben wäre, als würden ihm alle lebenswichtigen Organe genommen und von ihm bleibe nichts als eine leere, zerbrechliche Hülle.“ (S. 154). 
Parallel zu Harold durchlebt Maureen die gleichen Gedankengänge, grübelt und erinnert sich. Ihre Empfindungen schwanken ebenso wie Harolds. Anfangs wütend über sein Verschwinden, wird sie im Laufe der Zeit weicher und erinnert sich an den Mann, den sie einmal geliebt hatte.
„Maureen fragte sich, wo Harold wohl schlief, und wünschte, sie könne ihm gute Nacht sagen. Sie reckte den Hals zum Himmel und suchte in der Dämmerung nach dem ersten Sternfunkeln.“ (S. 185). 
Neben der Erkenntnis über sich und sein Leben ist Harolds Reise auch von totaler Erschöpfung geprägt - sie bringt Harold an die Grenzen seiner körperlichen und emotionalen Leistungsfähigkeit.

Wer jetzt eine philosophische Abhandlung über den Sinn des Lebens erwartet, den muss ich enttäuschen. Die Geschichte von Harold, oder besser, die Geschichte von Harold, Maureen und Queenie ist weit weniger als das. Hochtrabende Formulierungen oder sinnschwangere Gedanken der Protagonisten fehlen. Was der Leser bekommt ist ein zielsicherer Blick auf ein ganz normales Leben, das manchmal einen Anreiz braucht um sich aus seiner Tristesse zu befreien. Das Ganze ist gewürzt mit ein bisschen schüchterner Romantik, mit Dramatik, Trauer, aber auch Freude über die Menschen, denen man einfach so am Straßenrand begegnet.

Ich bin versöhnt mit der „Fälschung“, die doch ihre ganz eigene Qualität hat. Harold Fry lädt Sie ein mit auf seine Reise zu sich selbst zu gehen und mein Rat ist: gehen Sie ruhig mit!

Rachel Joyce
Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Krüger Verlag (2012)
384 Seiten
18,99 Euro