Samstag, 29. Dezember 2012

Alice und die Mondknochen - Jonathan Caroll 'Laute Träume'

Die Analogie zwischen Lewis Carolls 'Alice im Wunderland' und dem Roman seines Namensvetters Jonathan Carroll 'Laute Träume' liegt nahe. Zwar fällt die Heldin der 'Lauten Träume' nicht wie Alice in einen Kaninchenbau, aber in ihren Träumen erlebt sie nicht minder fantastische Geschichten.

Die Geschichte beginnt mit einem Doppelmord. In einem New Yorker Mietshaus erschlug der unscheinbare Nachbar Mutter und Schwester.
"Der Axtmörder wohnte eine Treppe tiefer. Wir kannten uns, weil er ständig seinen kleinen hässlichen Hund ausführte, den ich immer streichelte, wenn ich den beiden zufällig im Hausflur begegnete." (erster Satz)
Cullen, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, sitzt währenddessen mit ihrem Mann und Baby Mae am Frühstückstisch. Im nebensächlichen Plauderton schweift die Geschichte ab und Cullen erzählt uns, wie sie ihren Mann kennenlernte, über den Umweg einer vorangegangenen unglücklichen Beziehung verbunden mit einem Schwangerschaftsabbruch. Doch was zunächst als eine Nebensächlichkeit abgetan wird, wirft deutliche Schatten in Gestalt von Cullens immer wiederkehrenden, lebhaften Träumen, in denen sich eine Art Fortsetzungsgeschichte in einer fantastischen Welt namens Rondua entspinnt. In ihren Träumen hat Cullen eine Aufgabe gemeinsam mit einer Menge Fabelwesen und ihrem ungeborenen Sohn Pepsi zu erfüllen, während sie in der realen Welt in New York das Leben einer jungen Mutter zu bestehen hat. Mit der Zeit wird ihr klar, sie war nicht zum ersten Mal in Rondua, doch diesmal ist es an ihrem Sohn Pepsi, die große Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, das Land mit Hilfe der fünf Mondknochen zu retten. Mehr und mehr gerät Cullen in den Sog ihrer lebhaften Traumwelt und die Grenzen zwischen Traum und Realität beginnen zu verwischen. Als ihr der Regisseur Weber Gregston bei einem Interviewtermin zu nahe kommt, schlägt sie ihn mit einem magischen Blitz nieder. Der vom Blitz Getroffene ist nicht nur plötzlich in sie verliebt, vielmehr beginnt er ebenfalls vom Traumland Rondua zu träumen. Doch was steckt tatsächlich hinter Cullens Träumen, in denen sich der Konflikt zwischen Gut und Böse immer mehr zuspitzt und der sich mehr und mehr in die Realität hinein erstreckt?

Klingt doch eigentlich gar nicht schlecht, oder? Nur irgendwie hat es der Roman trotz des fulminanten ersten Satzes nicht geschafft, mich wirklich in seinen Bann zu ziehen. Irgendwie wirkt die anfänglich im Plauderton erzählte Geschichte etwas halbbacken, trotz des im starken Kontrast dazu gipfelnden Endes. Die fantastische Welt ist in meinen Augen viel zu blass geraten und wird meist nur punktuell angedeutet, während die New Yorker Realität Cullens durchgehend interessant und unterhaltsam, wenn auch mit einigen Längen geschildert wird. Immerhin schien Jonathan Carroll das Thema der Traumwelt Rondua für interessant genug gehalten zu haben, fünf weitere Romane darin spielen zu lassen, auf deren Bekanntschaft ich jetzt allerdings verzichten werde.

Fazit: Starker Anfang, gute Idee, aber leider mit gezogener Handbremse ausgeführt.

Jonathan Carroll
Laute Träume (engl. Bones of the Moon)

Phantastische Bibliothek Nr. 197
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.,
1997
200 Seiten

Sonntag, 16. Dezember 2012

Psychologisches und Konstruiertes - Philip Sington "Das Einstein Mädchen"

Was für ein bescheuerter Titel für einen Roman. Aber wie heißt es doch: 'Don't judge a book by the cover' und daher also auch nicht notwendigerweise nach dessen Titel. Natürlich hat das Buch etwas mit Albert Einstein zu tun. Zudem spielt es laut Klappentext auch in meiner Nachbarschaft, eine Kombination von der ich mir einiges versprach. Aber wir werden sehen....

Die Handlung des Romans von Philip Sington spielt vorwiegend in Berlin sowie Potsdam und Caputh, letzteres der Standort von Albert Einsteins berühmten Sommerhaus, zur Zeit kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Eine wunderschöne junge Frau wird halbnackt und bewusstlos im Wald nahe Caputh aufgefunden und in die Berliner Charité eingeliefert.  Der einzige Hinweis auf Ihre Identität bleibt zunächst ein Handzettel, der bei ihr gefunden wurde, auf dem eine öffentliche Vorlesung Albert Einsteins zum 'aktuellen Stand der Quantentheorie' angekündigt wird. Als die Frau wieder zu sich kommt, kann sie sich an nichts erinnern, weder daran, wer sie ist, noch wie sie in diese Lage gekommen ist. Der Psychiater Martin Kirsch, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird,  nimmt sich des interessanten Falls der von der Presse als 'Einstein-Mädchen' bekannt gemachten Frau an. Als er versucht, mehr über seine Patientin herauszufinden geschieht das Unerhörte und der Arzt entwickelt eine starke Zuneigung zu seiner Patientin. Da Kirsch in einem wissenschaftlichen Aufsatz auf die Schwächen der Psychologie als exakte Wissenschaft hingewiesen hatte, erweckt er die Aufmerksamkeit eines führenden nationalsozialistischen Wissenschaftlers, der ihn für seine Zwecke im Gesundheitswesen einspannen will. Doch alles gerät in Bewegung. Kirschs Verlobung mit einer reichen Industriellentochter gerät zur Farce, seine Kollegen hintertreiben seine Bemühungen und im Zuge seiner "Ermittlungsarbeiten" führt die Spur über den entlegensten Winkel Serbiens nach Zürich zu Mileva Einstein, Albert Einsteins Exfrau und dessen Sohn Eduard, der auf dem Weg war, ein brillianter Psychiater zu werden, aber an Schizophrenie erkrankt und in der bekannten Züricher Burghölzli Klinik vor der Öffentlichkeit weggeschlossen lebt. Die anfangs spannende Geschichte endet in einem reichlich konstruierten, tragischen Ende, in das auch Albert Einstein selbst mitverwickelt wird.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen und war am Anfang vom Sog der geheimnisvollen Geschichte und ihren Referenzen an die tatsächlichen Ereignisse der Zeit mitgerissen. Doch leider geriet die Erzählung mit Fortschreiten der Handlung in meinen Augen leicht aus dem Ruder. Vom langwierigen Psychologisieren über das unvermeidliche Sichverlieben des Arztes in die mysteriöse Schönheit hin zu einem Ende, das mit Gewalt an den Haaren herbeigezogen scheint. Leider hat es Philip Sington nicht geschafft, mich mitzunehmen in die turbulenten 1930er Jahre Berlins, das im Roman eher wie eine abgestandene Theaterrequisite mehr oder weniger blass daherkommt. Hier hatte ich mehr erwartet. Auch konnte ich mich nicht mit dem Protagonisten und seinem Innenleben anfreunden. Der in anderen Rezensionen gelobte "echte, ernsthafte und politische Tiefgang" reißt es dann auch nicht heraus, zumindest habe ich diesen nicht in gleichem Maße empfunden. Ebenso entspreche ich nicht der Einschätzung vom 'Einstein-Mädchen' als "Unterhaltungsroman auf hohem Niveau". Hätte er dies, erschiene das Ende weniger konstruiert und mehr plausibel.

Fazit: Unterhaltungsroman mit historischem Hintergrund und ein wenig Berliner Lokalkolorit, von dem ich mir mehr erwartet hatte.

 Philip Sington
 Das Einstein-Mädchen

 Deutscher Taschenbuch Verlag
 (2012)
 464 Seiten
 9,95 Euro

Montag, 10. Dezember 2012

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich...

Um auch gleich bei den untreuen Ehefrauen zu bleiben (vgl. Effie Briest aus dem letzten Beitrag), darf in dieser Rubrik natürlich auch nicht Tolstois 'Anna Karenina' fehlen. Insbesondere da gerade auch eine Neuverfilmung in den Kinos anläuft, sollte man wieder einmal die Werbetrommel für das zugegebenermaßen umfangreiche literarische Werk rühren, dessen gut 1200 Seiten ihren bedeutungsschwangeren Tribut zollen. Also nichts für zwischendurch aber perfekt für die Zeit zwischen den Jahren, auch wenn diese Zeit für die ausschweifenden Tolstoischen Erzählarabesquen recht knapp bemessen scheint. Aber schon der erste Satz dieses Werkes ist ein ganz besonderer. Wusstest Ihr übrigens, dass er in Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' zitiert wurde?


Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.
...und damit ist schon viel über die Geschichte gesagt. Wir wissen ja, dass untreuen Ehefrauen in der mitunter moralintriefenden Literatur des 19. Jahrhunderts ein ganz bestimmtes Schicksal beschieden war. Das ist ähnlich wie mit dem Untergang der Titanik. Wir alle wissen wie es endet. Trotzdem fasziniert uns die Geschichte immer wieder aufs Neue.

Leo Tolstoi: Anna Karenina, Erstausgabe 1878.

Eine komplette Rezension zu Leo Tolstois 'Anna Karenina' gibt es hier bei den Damen von leselink.de.