Montag, 29. April 2013

Zum Dinner mit Stalin und Konsorten - Jonas Jonasson 'Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand'

Ich kann wohl guten Gewissens behaupten, dass es dieser Tage niemanden mehr gibt, der von diesem Buch noch nie etwas gesehen, gehört oder gelesen hätte. Man kann ja keine Buchhandlung mehr verlassen, ohne an einem Stapel dieser Bücher mit dem Elefanten-Kupferstich und dem Kofferanhänger vorbeizukommen. Zugegeben, das Cover war der erste Eye-Catcher, der ungewöhnliche Titel sicherlich der nächste, als mir das Buch irgendwann gegen Ende 2011 zum ersten Mal im Buchhandel aufgefallen ist...und da war es bereits in den Top Ten. Knapp 11 Monate hatte es nur gedauert, bis sich das 2009 bereits  in Schweden erschienene Buch auch eine Million mal in Deutschland verkauft hatte. Es ist das meistgelesene Buch in Schweden und wurde in über 30 Länder exportiert. Soviel zu seiner noch immer anhaltenden Erfolgsgeschichte und nun zur Frage, warum es soweit gekommen ist...
"Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, man weiß nie, was man bekommt." (aus Forrest Gump, 1994)
Nun, der Titel fasst den Anfang des Buches bereits bestens zusammen. An seinem hundertsten Geburtstag steigt Allan Karlsson kurzerhand aus dem Fenster seines Altenheimes und verschwindet trotz schmerzender Knie und dem Umstand, dass er nur seine Pantoffeln trägt, da er Schuhe und Mantel im Zimmer vergessen hat. Dieses mit einer Unmenge unerhörter Ereignisse verknüpfte Verschwinden beginnt zunächst am Busbahnhof in Malmköping. Karlsson soll auf den Koffer eines Reisenden aufpassen, während dieser seine Notdurft verrichten möchte. Allerdings drängt die Abfahrt seines gebuchten Überlandbusses und Karlsson steigt wiederum kurzerhand samt dem nun gestohlenen Koffer in den Bus. Sein Fahrziel wird dabei nur von seiner mitgeführten Barschaft bestimmt und dem Wunsch, die damit zu erzielende größtmögliche Entfernung zwischen sich und dem Altenheim herzustellen. Die abenteuerliche "Flucht" des Alten und all der neuen Bekanntschaften, die er dabei schließt, bilden die Rahmenhandlung dieses 'Roadmovies', der uns durch weite Teile Schwedens führen wird.
"Und welches Reiseziel hatten Sie dabei im Sinn?"Allan setzte neu an und erinnerte das Männchen daran, dass er das Reiseziel und somit auch die Streckenführung als untergeordnet betrachtete und größeren Wert auf a) Abfahrtszeit und b) Kostenpunkt legte.
Dabei erfährt der Leser auch immer mehr über die ungewöhnliche Lebensgeschichte dieses Mannes, die ihn mit zahlreichen großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ganz im Stile eines Forrest Gumps eher zufällig zusammengeführt hat. Ehrlich gesagt kam es mir zeitweilig so vor, als wäre es das ausgesprochene Ziel des Autors Jonas Jonasson gewesen, Forrest Gump noch zu übertrumpfen, indem er den zeitlichen und geographischen Rahmen noch weiter spannt und die Geschichte gänzlich in den Bereich der zugegebenermaßen unterhaltsamen Phantasie abdriften lässt.

Ach ja, da war doch noch der Koffer, den Allan hat mitgehen lassen. Dieser enthält nicht etwa die erhoffte Kleidung zum Wechseln - Alan ist immer noch in Pantoffeln unterwegs - sondern, so stellt es sich schließlich heraus, befinden sich darin ganze 50 Millionen schwedische Kronen in Bar, die - als hätte man es nicht schon geahnt - zudem noch mit einem Drogengeschäft verknüpft sind. Klar, dass die eigentlichen Besitzer dieses Geld zurück haben wollen. Die Polizei glaubt zunächst nur auf den Fersen eines etwas verwirrten alten Mannes zu sein, der aus dem Altenheim entlaufen ist, aber der 'Fall' erweist sich zusehends als folgenreich und immer 'komplizierter'.

Doch zurück zur Lebensgeschichte des 1905 geborenen Allan Karlsson, der als Neunjähriger von der Schule abging, um in einer Nitroglyzerinfabrik zu arbeiten und sich darüber zu einem gefragten Sprengstoffspezialisten entwickelt. Allerdings verläuft seine Karriere nicht so geradlinig wie gewünscht und ein Sprengunfall mit tödlichen Folgen führt zu Allans Einweisung in die Irrenanstalt in Upsala und schließlich zu einer von einem Rassenbiologen - auch so etwas gab es anscheinend in Schweden - angeordneten Zwangssterilisation. Am Ende landet Karlson 1936 im Spanischen Bürgerkrieg, wo er als Pyrotechniker zu einem begehrten Spezialisten avanciert, dem leibhaftigen General Franco begegnet und ihm sogar das Leben rettet. Dies ist der Ausgangspunkt seiner von nun an anhaltenden Verstrickungen mit der Weltgeschichte. Von Lissabon aus schifft sich Allan in Richtung USA ein, wobei ein Regierungsangestellter auf die glorreiche Idee kommt, dass ein Sprengstoffexperte wie Karlssohn sicherlich hilfreich in einer neuen geheimen Forschungseinrichtung in Los Alamos sein könnte. Zwar kocht Karlsson zwischen den Atomforschern des Manhattan Projekts eigentlich nur den Kaffee, aber dann ist es am Ende doch seine einfache Idee, die den Durchbruch in der Entwicklung der Kernwaffentechnik bringen soll, und ihm die Duzfreundschaft des damaligen Vizepräsidenten Harry S. Trumans beschert, der just an diesem Nachmittag als beide zusammen in einem mexikanischen Diner 'versacken', zum neuen amerikanischen Präsidenten gekürt werden sollte.

Karlssons weiterer Weg führt ihn in einer 'Geheimmission' nach Taiwan und China, wo es ihm - wie immer rein zufällig - gelingt, die in Gefangenschaft geratenen Gefährtin und spätere Ehefrau Mao Zedongs zu befreien. Er überquert zu Fuß den Himalaya, spielt dem iranischen Geheimdienst übel mit, rettet (indirekt) Winston Churchill das Leben, diniert mit Josef Stalin im Kreml, der sich an Allans Atomforschungskenntnissen höchst interessiert zeigt, gerät daraufhin - das Diner verlief nicht wie gewünscht - in ein sowjetisches Gulag, flieht, und trifft auf seiner Flucht Mao Zedong und Nordkoreas Staatsgründer Kim Il-Sung. Und das war noch lange noch nicht alles...
“Man denke nur an Britisch-Indien: Hindus und Moslems konnten einfach nicht miteinander auskommen, und mittendrin hockte dieser verfluchte Mahatma Gandhi im Schneidersitz und hörte jedes Mal auf zu essen, wenn ihm irgendetwas missfiel.” (Seite 195)
Zugegeben, die Geschichte ist alles andere als 'glaubhaft', aber das spielt dabei eigentlich gar keine große Rolle. Allerdings kommt es insgesamt doch schon ein wenig dick aufgetragen daher, was der Leser hier so alles schlucken muss. Die sich überstürzende Handlung lässt für tiefergehende Einblicke in das Innere der agierenden Helden einfach keine Zeit und so kommen sie meist als flache Abziehbilder und Sammlungen von Stereotypen daher, denen es an echter Persönlichkeit mangelt, obwohl ihre skurilen Äußerlichkeiten und Manien dafür sorgen, dass sie dem Leser dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Zu guter Letzt bietet Jonasson dem Leser ein nach meinem Geschmack doch zu sehr 'konstruiertes' Happy End an. Aber unterhaltsam und überaus lustig war die Lektüre auf alle Fälle, auch wenn ich hier jetzt nicht die Historikerbrille aufziehen möchte und Jonassohns Schilderungen der Zeitgeschichte auf die Goldwaage legen werde. Die deutsche Übersetzung stammt übrigens von Wibke Kuhn, die auch Stieg Larssons 'Millenium Trilogie' (hier alle drei Rezensionen dazu) übersetzt hat.

Warum nun dieser große Erfolg, mag man sich fragen? Da ist zum einen die Handlungsdichte, die auf gekonnte Weise einen respektlosen Parforceritt durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit einer Gaunerkomödie im Stil der Coen-Brüder verknüpft, und von einem Cliffhanger zum nächsten jagt. Ganz so unbedarft wie sein Vorbild Forrest Gump ist Allan Karlsson nicht. Vielmehr steckt ein echter Sprengstoffexperte in ihm. Dass die Großmächte seine Beteiligung am Bau der Atombombe und damit seine Expertise dabei maßlos überschätzen, dient als Begründung der zahlreichen Begegnungen mit den Akteuren der Weltgeschichte und bereitet dem Leser größtes Vergnügen, da hier die Mächtigen wieder einmal mehr von einem 'tumben Toren' an der Nase herumgeführt werden.

Fazit: Unterhaltsames Schelmenstück irgendwo zwischen Forrest Gump und Simplicius Simplizissimus, verquickt mit Guido Knopp'scher Geschichtsklitterung und wendungsreicher Gaunerkomödie, zusammengerührt in einem schwedischen Roadmovie. Na wenn das nicht lesenswert ist... :) 

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Montag, 8. April 2013

Die Mutter aller Klischees - Charles Dickens 'Oliver Twist'

Es gibt Geschichten, die kennt eigentlich jeder. Selbst wenn man nie einen Blick in das Werk Charles Dickens geworfen hat, hat man sicher schon von Oliver Twist gehört. Die Geschichte um den armen Waisenjungen ist dank Hollywood und Co. (die IMDB zählt mehr als 20 Verfilmungen des stoffes) schon zu einem modernen Mythos herangewachsen oder aber vielmehr zu einem Klischee geraten. Insbesondere um die Weihnachtszeit ist es neben Dicken's Weihnachtsgeschichte der wohl beliebteste Stoff, der dann über die Kanäle flimmert. Aber jetzt einmal Hand aufs Herz, wer von Euch hat das Buch denn tatsächlich gelesen?

Das dachte ich mir auch, als ich die erst vor Kurzem ergatterte schöne Dünndruckausgabe in der Weihnachtszeit aus dem Regal nahm und einfach anfing, mich darin zu vertiefen. Denn eines muss man Dickens lassen: er versteht sich prächtig und ausschweifend auf die detaillierte Schilderung seiner Zeitgenossen und deren Lebensumstände. Dabei legt er gesteigerten Wert auf Skurrilität bis hin zum Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit. Aber dem Publikum gefällt's, damals wie heute. Kommen wir aber zunächst einmal zurück auf die Geschichte selbst, auch wenn sie den meisten ja schon vom Grundkonzept her bekannt sein sollte.

Oliver Twist ist ein Findelkind und Waisenjunge ohne jegliches Wissen über seine Herkunft, bis auf dass seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben ist. Er wächst in einem Armenhaus in einer englischen Kleinstadt auf, in dem es Oliver und den anderen Waisenkindern nicht gerade wohl ergeht. Die Kost ist karg und knapp bemessen und wenn einer es wagen sollte, nach mehr zu fragen, so wie Oliver es getan hat, wird er für eine Woche lang in den Kohlenkeller weggesperrt. Auf eine Ausschreibung des Waisenhauses hin wird Oliver dem ansässigen Sarg-Tischler namens Mr. Sowerberry in die Lehre gegeben, der einer ehrlichen Arbeit nachgeht und den Jungen allmählich auf seine Art liebgewinnt. Aus Eifersucht beleidigt der Mitlehrling Noah Claypole Olivers Mutter, was in einer wüsten Prügelei endet und Oliver wird erneut bestraft. Daraufhin flieht er zu Fuß nach London, das er nach sieben Tagen erreicht.

Kaum in London angekommen gerät er in die Fänge des jüdischen Hehlers Fagin, der ihn vor dem sicheren Tod auf der Straße bewahrt, indem er ihn verköstigt. Allerdings hat diese Hilfe auch ihren Preis und Oliver wird zur Mitgliedschaft in Fagins Diebesbande aus Straßenjungen gezwungen. Auf einer ersten Diebestour bemerkt das auserkorene Opfer der Diebesbande, Mr. Brownlow, dass er bestohlen wurde und bezichtigt Oliver fälschlicherweise für den Dieb. Auf der Polizeiwache wird Oliver in einem 'fiebrigen Anfall' ohnmächtig aber letztendlich kann er durch einen Zeugen entlastet werden. Der von Schuldgefühlen geplagte Mr. Brownlow nimmt den Jungen kurzerhand unter seine Fittiche, um ihn gesundpflegen zu lassen. Aber Olivers Glück ist nur von kurzer Dauer. Wieder genesen erledigt er einen Gang in die Stadt für seinen Wohltäter und wird dabei vom brutalen Sikes und dessen Freundin Nancy, zwei Mitgliedern von Fagins Bande, aufgegriffen und zu Fagin zurückgebracht, wo er erst einmal sein Dasein als gefangener Dieb in Ausbildung fristen muss. Als Sikes einen Einbruch in der Vorstadt plant, soll Oliver den Dieben zum ersten Mal zur Hand gehen. Doch der geplante Raubzug endet in einem Desaster und Oliver, von der Diebesbande als Werkzeug missbraucht, wird angeschossen und gefährlich verletzt.


An dieser Stelle ist die Geschichte natürlich noch lange nicht vorbei, doch möchte ich denjenigen, die die Geschichte noch nicht in Gänze kennen, die Spannung und das damit verbundene Vergnügen nicht vorwegnehmen. Schon bei seinen Zeitgenossen kam Dickens Roman enorm gut an und entwickelte sich rasch zu einem großen Erfolg. Im Gegensatz zu seinem heiter-ironischen Erstwerk 'Die Pickwickier' zeigt sich Dickens hier von einer ernsteren Seite, insbesondere, wenn er in drastischer Weise Kinderarbeit, Verbrechen und das Elend der unteren Klassen zur Zeit der frühen Industrialisierung beschreibt. Allerdings bedient sich Dickens aller nur denkbaren Klischees, um seine handelnden Personen überspitzt darzustellen. So ist der kleine Oliver bis zum Erbrechen edelherzig, dankbar, wohlerzogen und gut - obwohl dies für einen Waisenhauszögling eher unwahrscheinlich ist, bei der ihm angediehenen Erziehung, bei der es dazu jeglicher Voraussetzung fehlt. Sikes, der brutale Bösewicht, Fagin, der hintertriebene, ränkeschmiedende Jude, der die Kinder von der Straße fängt, um aus Ihnen Diebe und Verbrecher zu machen. Es ist einfach ein extremes Schwarz-Weiß Gefälle, die Zwischentöne kommen viel zu kurz. Einzig Nancy, die Lebensgefährtin von Sikes ist anfangs nicht so einfach zu durchschauen. Aber die vielen Stereotypen gingen mir beim Lesen zunehmend auf den Geist. Trotz aller Klischees bleibt Oliver Twist dennoch ein großer Roman, der einen kleinen Einblick in die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts gewährt, auch wenn Vieles darin übertrieben erscheint. Dickens Gespür für die ironisch-humorvolle Schilderung absonderlicher Gestalten sollte man nicht verpasst haben, denn sie machen einen Großteil des Lesevergnügens aus, der sich bei der Lektüre dieses Romans allemal einstellt.

Fazit: Ein Klassiker der Jugendliteratur, ein Fenster in eine vergangene Epoche mit vielleicht etwas übertriebener Schwarz-Weiß Zeichnung, prall gefüllt mit skurrilen Zeitgenossen und zudem spannend geschrieben. Lesen!

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