Montag, 8. April 2013

Die Mutter aller Klischees - Charles Dickens 'Oliver Twist'

Es gibt Geschichten, die kennt eigentlich jeder. Selbst wenn man nie einen Blick in das Werk Charles Dickens geworfen hat, hat man sicher schon von Oliver Twist gehört. Die Geschichte um den armen Waisenjungen ist dank Hollywood und Co. (die IMDB zählt mehr als 20 Verfilmungen des stoffes) schon zu einem modernen Mythos herangewachsen oder aber vielmehr zu einem Klischee geraten. Insbesondere um die Weihnachtszeit ist es neben Dicken's Weihnachtsgeschichte der wohl beliebteste Stoff, der dann über die Kanäle flimmert. Aber jetzt einmal Hand aufs Herz, wer von Euch hat das Buch denn tatsächlich gelesen?

Das dachte ich mir auch, als ich die erst vor Kurzem ergatterte schöne Dünndruckausgabe in der Weihnachtszeit aus dem Regal nahm und einfach anfing, mich darin zu vertiefen. Denn eines muss man Dickens lassen: er versteht sich prächtig und ausschweifend auf die detaillierte Schilderung seiner Zeitgenossen und deren Lebensumstände. Dabei legt er gesteigerten Wert auf Skurrilität bis hin zum Verlust jeglicher Glaubwürdigkeit. Aber dem Publikum gefällt's, damals wie heute. Kommen wir aber zunächst einmal zurück auf die Geschichte selbst, auch wenn sie den meisten ja schon vom Grundkonzept her bekannt sein sollte.

Oliver Twist ist ein Findelkind und Waisenjunge ohne jegliches Wissen über seine Herkunft, bis auf dass seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben ist. Er wächst in einem Armenhaus in einer englischen Kleinstadt auf, in dem es Oliver und den anderen Waisenkindern nicht gerade wohl ergeht. Die Kost ist karg und knapp bemessen und wenn einer es wagen sollte, nach mehr zu fragen, so wie Oliver es getan hat, wird er für eine Woche lang in den Kohlenkeller weggesperrt. Auf eine Ausschreibung des Waisenhauses hin wird Oliver dem ansässigen Sarg-Tischler namens Mr. Sowerberry in die Lehre gegeben, der einer ehrlichen Arbeit nachgeht und den Jungen allmählich auf seine Art liebgewinnt. Aus Eifersucht beleidigt der Mitlehrling Noah Claypole Olivers Mutter, was in einer wüsten Prügelei endet und Oliver wird erneut bestraft. Daraufhin flieht er zu Fuß nach London, das er nach sieben Tagen erreicht.

Kaum in London angekommen gerät er in die Fänge des jüdischen Hehlers Fagin, der ihn vor dem sicheren Tod auf der Straße bewahrt, indem er ihn verköstigt. Allerdings hat diese Hilfe auch ihren Preis und Oliver wird zur Mitgliedschaft in Fagins Diebesbande aus Straßenjungen gezwungen. Auf einer ersten Diebestour bemerkt das auserkorene Opfer der Diebesbande, Mr. Brownlow, dass er bestohlen wurde und bezichtigt Oliver fälschlicherweise für den Dieb. Auf der Polizeiwache wird Oliver in einem 'fiebrigen Anfall' ohnmächtig aber letztendlich kann er durch einen Zeugen entlastet werden. Der von Schuldgefühlen geplagte Mr. Brownlow nimmt den Jungen kurzerhand unter seine Fittiche, um ihn gesundpflegen zu lassen. Aber Olivers Glück ist nur von kurzer Dauer. Wieder genesen erledigt er einen Gang in die Stadt für seinen Wohltäter und wird dabei vom brutalen Sikes und dessen Freundin Nancy, zwei Mitgliedern von Fagins Bande, aufgegriffen und zu Fagin zurückgebracht, wo er erst einmal sein Dasein als gefangener Dieb in Ausbildung fristen muss. Als Sikes einen Einbruch in der Vorstadt plant, soll Oliver den Dieben zum ersten Mal zur Hand gehen. Doch der geplante Raubzug endet in einem Desaster und Oliver, von der Diebesbande als Werkzeug missbraucht, wird angeschossen und gefährlich verletzt.


An dieser Stelle ist die Geschichte natürlich noch lange nicht vorbei, doch möchte ich denjenigen, die die Geschichte noch nicht in Gänze kennen, die Spannung und das damit verbundene Vergnügen nicht vorwegnehmen. Schon bei seinen Zeitgenossen kam Dickens Roman enorm gut an und entwickelte sich rasch zu einem großen Erfolg. Im Gegensatz zu seinem heiter-ironischen Erstwerk 'Die Pickwickier' zeigt sich Dickens hier von einer ernsteren Seite, insbesondere, wenn er in drastischer Weise Kinderarbeit, Verbrechen und das Elend der unteren Klassen zur Zeit der frühen Industrialisierung beschreibt. Allerdings bedient sich Dickens aller nur denkbaren Klischees, um seine handelnden Personen überspitzt darzustellen. So ist der kleine Oliver bis zum Erbrechen edelherzig, dankbar, wohlerzogen und gut - obwohl dies für einen Waisenhauszögling eher unwahrscheinlich ist, bei der ihm angediehenen Erziehung, bei der es dazu jeglicher Voraussetzung fehlt. Sikes, der brutale Bösewicht, Fagin, der hintertriebene, ränkeschmiedende Jude, der die Kinder von der Straße fängt, um aus Ihnen Diebe und Verbrecher zu machen. Es ist einfach ein extremes Schwarz-Weiß Gefälle, die Zwischentöne kommen viel zu kurz. Einzig Nancy, die Lebensgefährtin von Sikes ist anfangs nicht so einfach zu durchschauen. Aber die vielen Stereotypen gingen mir beim Lesen zunehmend auf den Geist. Trotz aller Klischees bleibt Oliver Twist dennoch ein großer Roman, der einen kleinen Einblick in die Lebenswelt des 19. Jahrhunderts gewährt, auch wenn Vieles darin übertrieben erscheint. Dickens Gespür für die ironisch-humorvolle Schilderung absonderlicher Gestalten sollte man nicht verpasst haben, denn sie machen einen Großteil des Lesevergnügens aus, der sich bei der Lektüre dieses Romans allemal einstellt.

Fazit: Ein Klassiker der Jugendliteratur, ein Fenster in eine vergangene Epoche mit vielleicht etwas übertriebener Schwarz-Weiß Zeichnung, prall gefüllt mit skurrilen Zeitgenossen und zudem spannend geschrieben. Lesen!

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