Donnerstag, 9. Mai 2013

Mit Borat auf Pilgerfahrt - Jonathan Safran Foer 'Alles ist erleuchtet'

Also dieses Buch war wirklich eine Überraschung für mich, da ich mir etwas vollkommen anderes darunter vorgestellt hatte. Geballt treffen hier ein historischer Roman, interkulturelle Verwicklungen auf dem ukrainischen Balkan mit skurilem Humor im Rahmen eines Roadmovies zusammen. Ins Auge gefallen war mir das Buch in den Buchhandlungen zunächst durch das in meinen Augen großartig gelungene Cover und den seltsamen Titel. Ok, der Klappentext hätte mich zunächst alles andere als begeistert, und auch die holprig unsichere Sprache des hormonstaugeprägten Ukrainers lassen den Leser zunächst zweifeln, ob das Buch tatsächlich eine gute Wahl gewesen war. Aber, wer ein Stückchen durchhält, der wird für seine Mühe noch belohnt werden...

Jonathan, gleichsam das Alter Ego des Autors, ist ein junger amerikanischer Schriftsteller, der in die Ukraine reist, weil er ein Buch über das jüdische Schtetl Trachimbrod schreiben möchte, in dem seine Vorfahren gelebt haben. Im 2. Weltkrieg gelang seinem Großvater die Flucht vor den Nazis und schließlich die Ausreise in die USA. Dabei half ihm eine junge Frau namens Augustine, von der nur noch ein altes Foto existiert, und deren Spuren Jonathan nachspürt. Unterstützt wird er dabei durch den von ihm angeheuerten Fremdenführer Alex, einem jungen, amerikabegeisterten und großmäuligen Ukrainer, sowie dessen "blinden" und meist nicht zu großen Worten aufgelegten Großvater, der als Fahrer der beiden herhalten muss. Komplettiert wird das Trio noch durch Großvaters Hund "Samy Davis Jr. Jr.", einem neurotischen Straßenköter (weiblich) mit einer besonderen Vorliebe für Jonathan, der große Angst vor Hunden hat.
"Lieber Jonathan, ich sehne, dass dieser Brief gut wird. Wie du weißt, bin ich nicht erstklassig mit Englisch. In Russisch sind meine Ideen abnorm gut formuliert, aber meine zweite Sprache ist nicht so unerreicht." (Seite 41)
Ausgehend von dieser Rahmenerzählung spannt sich der Roman in drei verschiedenen Zeitebenen, die immer wieder ineinandergreifen und interagieren. Eigentlich ein geniales Konzept. Der Leser wird dabei rückblickend über einen Briefwechsel zwischen Alex und Jonathan in die Romanhandlung eingeführt, wobei wir zum Zeugen der schleichenden Verbesserung von Alex Sprachkenntnissen werden. Dieses Zusammentreffen zweier unterschiedlicher Sprachen und Kulturen ist auch immer wieder ein Grund für zum Teil unglaublich komische Missverständnisse beider Seiten, mit denen diese aber zur Freude des Lesers sehr souverän umzugehen wissen. Die Pilgerfahrt auf der Suche nach dem verschwundenen Tachimbrod und der geheimnisvollen Augustine - also die erste Zeitebene - wird auf diese Weise rückblickend in den Briefen der beiden - in der zweiten Zeitebene - erzählt.
". . . und ich habe das Wörterbuch, das du mir geschickt hast, erschöpft, wie du es mir auch geraten hast, wenn meine Wörter zu klein oder zu unanständig waren" (aus einem Brief von Alex)
Die dritte Handlungsebene spielt im 18. Jahrhundert im jüdischen Schtetl Tachimbrod und erzählt die zum Teil phantastisch überhöhte Geschichte von Jonathans Vorfahren, ausgehend von seiner Ahnfrau namens Brod - benannt nach dem Fluß, in dem der Wagen eines fahrenden Hausierers gerade abgesoffen ist und das Kind gemeinsam in einem Wirbel von Garnspulen, Spitzen, Schirmspeichen, und Spiegelchen gleichsam in einer "Schaumgeburt" an die Oberfläche getrieben wird. Diese Handlungsebene stellt nichts anderes dar als das Buch, das der Jonathan der Erzählung gerade schreibt - bzw. geschrieben hat, und in dem er quasi seine Vergangenheit versucht wiedererfinden. Die Zeiten geraten hier immer irgendwie in Schieflage. Interessant ist dabei, dass Alex die einzelnen Kapitel aus Jonathans Buch dann wiederum in seinen Briefen kommentiert und so die Zeitebenen miteinander interagieren. Etwas verwirrend, wie es scheint, aber wenn man sich erst einmal an die verschiedenen Erzählstile gewöhnt hat, entpuppt sich das Werk als wunderbares Kleinod. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen wird in Roadmovie gekleidet, das an eine Pilgerfahrt auf der Suche nach dem Sinn des Lebens gemahnt. Ein mythisch verklärter, romantisch-historischer Roman wird mit einer Situationskomik von staubtrockenem Humor gepaart. Und die hat es in sich, wie ein Beispiel der oft irrwitzigen Dialoge zwischen Jonathan, Alex und dem Großvater zeigt:
"Nur eins", sagte der Held. "Was?" "Sie müssen wissen ..." "Ja?" "Ich bin ...Wie soll ich sagen ...?" "Was?" "Ich bin ..." "Sie sind sehr hungrig, nicht?" "Ich bin Vegetarier." "Ich verstehe nicht." "Ich esse kein Fleisch." "Warum nicht?" "Ich esse es eben nicht." "Wieso essen Sie kein Fleisch?" "Ich esse es eben nicht." "Er isst kein Fleisch", informierte ich Großvater. "Natürlich isst er Fleisch", sagte Großvater. "Natürlich essen Sie Fleisch", informierte ich den Helden. "Nein. Tu ich nicht." "Warum nicht?", erkundigte ich mich noch einmal. "Ich esse es eben nicht. Kein Fleisch." "Schweinefleisch?" "Nein." "Fleisch?" "Kein Fleisch." "Steak?" "Nein." "Huhn?" "Nein." "Essen Sie Kalb?" "Um Gottes Willen, nein. Absolut kein Kalbfleisch." "Was ist mit Wurst?" "Auch keine Wurst." Ich sagte es zu Großvater, und er schenkte mir einen sehr genervten Blick. "Was ist los mit ihm?", fragte er. "Was ist los mit Ihnen?", fragte ich den Helden. "So bin ich eben.", sagte er. "Hamburger?" "Nein." "Zunge?" "Was hat er gesagt, das mit ihm los ist?", fragte Großvater. "So ist er eben." "Isst er Wurst?" "Nein." "Keine Wurst!" "Nein. Er sagt, er isst keine Wurst." "Wirklich?" "Das sagt er." "Aber Wurst ist ..." "Ich weiß. Sie essen wirklich keine Wurst?" "Keine Wurst." "Keine Wurst", sagte ich zu Großvater. Er schloss die Augen...
Auch wenn die Pilgerfahrt der drei ungleichen Weggefährten nach Tachimbrod zunächst vergeblich scheint, endet die Reise am einsam in der ukrainischen Landschaft stehenden Haus der etwas verrückten Lista. Als einziges Haus war es damals 1942 dem Untergang des gesamten Ortes entgangen. Und diese sehr traurig stimmende Geschichte gibt Jonathan Safran Foer seinen mittlerweile nachdenklich gewordenen Lesern jetzt auch noch mit auf den Weg.

Tatsächlich setzt sich die Rahmenhandlung des Romans aus autobiografischen Elementen aus dem Leben Jonathan Safran Fors zusammen [1]. Jahrgang 1977 und in Washington geboren, war er mit neunzehn Jahren in die Ukraine gereist, um dort den Spuren seiner jüdischen Vorfahren nachzugehen, und hat diese Geschichte in seinem Debutroman verarbeitet. Ein nur 24 Jahre alter Autor (das Buch erschien 2001), der über die Liebe, den Sinn des Lebens und den Holocaust in einer Art zu schreiben versteht, die weder verkitscht noch anklagend erscheint. Das Leben lässt sich manchmal nur mit einem lachenden und einem weinenden Auge ertragen, um die richtige Perspektive nicht zu verlieren.

Fazit: Herrlich komisch und zugleich tiefgründig nachdenklich traurig. Wer sich auf das Buch einlässt, wird es nicht bereuen. Lesen!

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