Wir schreiben die Zeit der Aufklärung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wetteifern die Mechaniker und Wissenschaftler um den Bau möglichst der Natur nach gestalteter Maschinen, wie z.B. Vaucansons mechanischer Ente, die in der Lage war, Körner aufzupicken und künstlich zu verdauen, oder dem Schreibroboter in menschlicher Gestalt von Pierre Jaquet-Droz, der mit Feder und Tinte kleine, vorgegebene Schriftstücke aufsetzen konnte. All diesen Maschinen war gemeinsam, dass sie alle nur einem von ihrem Erbauer vorgegebenen, einfachen Schema (Algorithmus) folgen konnten, das zugegebenermaßen meist genial mit den mechanischen Mitteln der damaligen Zeit umgesetzt und ausgeführt wurde. Die so hervorgerufene naturnahe Nachahmung setzte die weniger gebildeten Zeitgenossen in Erstaunen und legte die Vorstellung nahe, dass es nur ein wenig mehr der Forschung bedürfe, um tatsächlich die menschliche Intelligenz in Form einer Maschine nachzuahmen.
1769 verspricht Hofrat Wolfgang von Kempelen der Kaiserin Maria Theresia, einen intelligenten, schachspielenden Automaten zu bauen. Der erfahrene Hofmechanikus Friedrich Knaus aber, der bekannte Konstrukteur eines Schreibautomaten, weiß es aus Erfahrung besser und kann darüber nur lachen. Aber schon im Jahr Jahr darauf präsentiert von Kempelen vor der Kaiserin seinen Schachautomaten und es ist ausgerechnet auch der Hofmechaniker Knaus, gegen den der Automat im Spiel antreten muss und fulminant gewinnt. Kempelen scheint ein gemachter Mann und sein Siegeszug ist unaufhaltsam. Doch der gedemütigte Knaus wittert den Betrug und wird zu Kempelens erbittertsten Gegner.
Das Geheimnis hinter Kempelens intelligentem Automaten liegt im kleinwüchsigen Tibor, ein hochbegabter Schachspieler, den von Kempelen aus Venedigs Bleikammern freigekauft hat und um den herum der ganze Automat von Kempelen und von seinem Assistenten Jakob maßgeschneidert wurde. Der Automat selbst besitzt die Gestalt eines Türken, der an einem Schachtisch sitzt und die Figuren über eine komplexe Mechanik von Tibor gesteuert über die Felder des Schachbretts bewegt. Doch niemand darf von der Existenz Tibors wissen, und so lebt er im Hause Kempelen quasi als Gefangener im goldenen Käfig. Aber auch von Kempelens Gegner schmieden Pläne um ihm auf die Spur zu kommen und Friedrich Knaus schleust die Mätresse Elise als Dienerin im Hause Kempelens als Spionin ein. Während einer der zahlreichen Vorführungen des Schachautomatens geschieht jedoch ein Unglück, als die Maschine alleine mit einer früheren Geliebten von Kempelens im Raum verbleibt und diese anschließend tot aufgefunden wird. Zwar gelingt es von Kempelen den mysteriösen Tod als Unfall darzustellen, doch Gerüchte und Aberglaube nehmen ihren verhängnisvollen Lauf. Tibors Schicksal liegt jetzt in von Kempelens Händen und scheint von nun an endgültig an den unglückseligen Automaten geknüpft.
"Ist auf den Zwerg Verlaß?", fragte Nepomuk."Wieso fragst du?""Weil ich ihn nicht leiden mag. Weil ich das Gefühl nicht loswerde, daß er eine verschlagene kleine Höllenbrut ist, die eines Tages ihre Deckung fallen lässt und dir gefährlich wird. Wer ein Leben als Zwerg geführt hat und so viel Böses von der Welt ertragen mußte, muß doch eines Tages zwangsläufig selbst böse werden..."(Seite 207)Robert Löhrs Roman ist bei aller historischer Genauigkeit vor allem eines, nämlich überaus spannend und unterhaltsam erzählt. Darin zieht er mit den beiden später erschienenen Goethe-Romanen Löhrs 'Das Erlkönig-Manöver' (vgl. 'Geheim-Rat als Geheim-Agent...' Biblionomicon, 09.02.2009) und 'Das Hamlet-Komplott' (vgl. 'Indiana Jones und die deutsche Romantik...', Biblionomicon, 23.01.2011) zumindest gleich. Tatsächlich empfinde ich den Schachautomaten darüber hinaus noch erzähltechnisch dichter und historisch glaubwürdiger erzählt. Dies kann jedoch auch daran liegen, dass einem die Hauptpersonen der Handlung nicht ganz so vertraut sind, wie Goethe, Schiller, Kleist, von Humboldt und die anderen berühmten Protagonisten der beiden Goethe-Romane. Robert Löhr nimmt sich Zeit für seine Charaktäre, die nicht nur als Abziehbilder von bekannten Stereotypen daherkommen und gewährt sowohl aufschlussreiche Einblicke in ihr Inneres als auch detaillierte Schilderungen der historischen Umstände und des täglichen Lebens. Bei dieser Gelegenheit möchte ich alle, deren Interesse jetzt vielleicht geweckt worden ist, noch auf die großartige Schauergeschichte 'Moxons Herr und Meister' von Ambrose Bierce hinweisen (leider aktuell nur im Antiquariat erhältlich bzw. hier im englischen Original), in dem sich der große amerikanische Autor Erzähler auch dem Thema des Schachautomatens von einer ganz anderen Seite her widmete.
Fazit: Aus vielerlei Gründen ein spannender und lesenswerter historischer Roman. Lesen!
Robert Löhr:
Der Schachautomat -Roman um den brilliantesten Betrug des 18. Jahrhunderts,
Piper Taschenbuch
9,95 Euro
Links:
- Geheimrat als Geheimagent - Robert Löhr 'Das Erlkönig-Manöver', Biblionomicon, 09.02.2009
- Indiana Jones und die Deutsche Romantik - Robert Löhr 'Das Hamlet Komplott', Biblionomicon, 23.01.2011
- Robert Löhrs Webseite