Ein erstes der Bilder, mit denen das Buch nicht geizt (meist kleine Abbildungen am Rande einer Seite), zeigt ein Regal mit Gläsern, die mit unterschiedlichsten Körperteilen von Ungetümen und Monstern gefüllt sind (erinnert hat mich das an die anatomische Sammlung der Charité – die finde ich großartig...die Formulierung klingt lässiger, als ich sie meine, also besser: beeindruckend). Passend dazu ist gleich am Anfang die Definition der Monstrumologie zu lesen, damit der unwissende Leser auch gleich weiß, womit er es zu tun hat:
„Das Studium von Kreaturen, die sich dem Menschen gegenüber grundsätzlich böswillig verhalten und deren Existenz von der Wissenschaft nicht anerkannt ist. Meist handelt es sich um Wesen, die man dem Reich der Mythen und Legenden zuordnet.“ (Klappentext)Aber nun erst einmal ein paar Worte zur Handlung: Wir haben es mit einem altbekannten Motiv der Literatur zu tun. In einer (frei erfundenen) Stadt in Neuengland lebt im Jahr 1888 der Waisenjunge Will Henry beim kauzigen Wissenschaftler Dr. Warthrop. Schon Wills Eltern, die auf tragische Weise bei einem Brand – dessen Umstände im späteren Verlauf der Geschichte noch eine große Rolle spielen werden – ums Leben kamen, arbeiteten für Dr. Warthrop. Der Doktor widmet sich mit vollem Einsatz der Monstumologie, jener oben definierten, geheimen Wissenschaft. Will muss ihn bei seinem zumeist nächtlichen Sitzungen assistieren. Der arme Junge schläft dabei fast immer ein und wird dafür von seinem uneinsichtigen Doktor immer wieder zu Unrecht gemaßregelt. Das Mitleid des Lesers ist Will in jedem Fall gewiss – so wie vor ihm auch Harry Potter oder David Copperfield.
Der schrullige Doktor bekommt eines Abends ein besonders monströses Exemplar auf seinen Seziertisch: einen Anthropophagen. Dieses unbekannte Wesen zeichnet sich besonders durch eine Merkwürdigkeit aus, es ist kopflos. Seine Augen befinden sich auf der Brust und sein scharfzahniges Maul in seinem Bauch. Dr. Warthrope konsultiert seine einschlägige Monsterliteratur und ist sich bald sicher, dass er es mit einer großen Bedrohung zu tun hat – wie könnte es auch anders sein (diesen Schluss hätten wir vermutlich auch ohne Fachliteratur geschlossen, oder?)?
Über die weiteren Entwicklungen der Geschichte möchte ich gar nichts mehr verraten. Nur so viel: die erhoffte Spannung blieb leider aus. Die Geschichte an sich hat mir gut gefallen – wäre sie doch nur 200 Seiten kürzer gewesen. Ein paar gute Dialoge hätten dem Roman gut getan, die vorhandenen erscheinen mir alle sehr konstruiert und sprachlich nicht zu den Protagonisten passend. Das mag daher rühren, dass die Geschichte rückblickend erzählt wird. Will schreibt sie als betagter Mann auf und die an sich spannenden Stellen werden durch diese Form des Erzählens ziemlich steif und langweilig; ein Junge spricht mit den Worten eines Greises – das ist einfach nicht stimmig. Scheinbar war sich Yancey auch nicht sicher, ob er ein Buch für Erwachsene oder doch lieber ein Jungendbuch schreiben soll. Erschienen ist es zwar als Buch für Erwachsene, aber immer wieder findet man sich beim Lesen in der Jugendbuchwelt wieder – eigentlich ist es dafür aber zu blutrünstig.
Ich bin hin und her gerissen. An sich eine gute Geschichte, aber deutlich zu lang. Theoretisch durchaus spannend, aber zu langatmig geschrieben. Eigentlich ein Jugendbuch, dafür aber zu blutig. Erwachsenenliteratur, aber sprachlich eher Jugendbuch...Schade!
Der zweite Teil der bisher drei „Monstrumologenromane“ liegt bereits in den Buchhandlungen aus: „Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo“. Der dritte Teil ist bisher nur im englischen Original „The isle of blood“ erschienen. Ich für meinen Teil habe genug vom Monstrumologen und werde mir sowohl den zweiten als auch den dritten Teil verkneifen.
Wundervölker aus der Schedelschen Weltchronik |
Die Idee des kopflosen Monsters ist nicht ganz neu und man hat den Eindruck, dass der „yanceyische Anthropophage“ direkt der Schedelschen Weltchronik entsprungen ist. Die 1493 bei Anton Koberger in Nürnberg erschienene Chronik des Hartmann Schedel (Arzt, Humanist und Historiker) gilt als Meisterwerk der Buchdruckkunst und liefert mit unglaublichen 1809 Holzschnitten aus der Wolgemut-Werkstatt (dort, wo Albrecht Dürer bis 1490 in die Lehre ging und im Zuge dessen vermutlich auch den ein oder anderen Holzschnitt für spätere Ausgaben beisteuerte) einen umfassenden Blick auf die Welt und wie man sie sich im 15. Jahrhundert vorstellte. Sie unterteilt die Geschichte der Welt in sieben Weltalter von der Erschaffung der Welt bis zum jüngsten Gericht.
Ein Abschnitt der Chronik berichtet über die „Wundervölker“, die in fremden Ländern wohnen und erstaunliche Besonderheiten aufweisen. Die in der Chronik detailliert beschriebenen Vorstellungen dieser Bewohner entstanden bereits in der Antike und wurden recht kritiklos in das Mittelalter transportiert. Wie stellte sich der Mensch des Mittelalters die Bewohner fremder Länder vor? Z.B. so:
„Item in dem land libia werden ettlich on hawbt geporn vnd haben mund vnd augen. Ettlich sind bederlay geslechts, die recht prust ist in manlich vnd die lingk weiblisch vnd vermischen sich vndereinand vn gepern.“ (Schedelsche Weltchronik, Blatt XII)
The Travells of Sir John Mandeville (ursprünglich 14. Jhd.) |
„Hände und Arme waren es ohne Zweifel, die das Wesen da hatte, das ihnen nun entgegenkam. Ansonsten aber hatte es nur ein einziges Bein. Nicht daß es verstümmelt gewesen wäre, denn dieses Bein verlängerte seinen Leib auf ganz natürliche Weise, als wäre nie Platz für ein zweites gewesen, und mit dem einzigen Fuß dieses einzigen Beins lief das Wesen ganz zwanglos [...]. Dann machte er das, was man allen guten Traditionen zufolge von einem Skiapoden erwartet: Er legte sich lang auf den Rücken, hob das Bein so, daß der große Fuß seinem Kopf Schatten spendete, verschränkte die Arme unter dem Kopf und lächelte glücklich, als läge er unter einem Sonnenschirm.“ (Baudolino, S. 416f)Mit dem Zeitalter der Entdeckungen verschwanden auch die Wundervölker, denn nun bereiste man die zuvor unbekannten Länder und konnte die beschriebenen Völker (logischerweise) nicht finden. In der Schedel’schen Weltchronik bleiben sie jedoch lebendig und dienen Autoren immer wieder als beliebte Vorlage für Monster oder andersartige Wesen.
Eure
Claudia Kleimann-Balke
Rick Yancey
Der Monstrumologe
Bastei Lübbe (2010)
426 Seiten
14,99 Euro