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Freitag, 10. August 2007

Harry Potter trifft Jane Austen und J.R.R. Tolkien - Susanna Clarke 'Jonathan Strange & Mr. Norrell'

Man stelle sich eine Welt vor, in der Zauberei nicht ungewöhnlicher wäre als der Anblick einer Dampflokomotive zur Zeit der industriellen Revolution. England gilt als die Wiege der Zauberei, die Ihren Höhepunkt im späten Mittelalter mit der Ankunft des 'Raven Kings' und seiner beinahe 300-jährigen Regentschafft erlebte. Dann -- so heisst es in den Chroniken -- kehrte dieser England den Rücken, und von da an ging es mit der Zauberei bergab. 


Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Zeit also, in die uns Susanna Clarke entführt, gibt es noch Zauberer in England ... aber dabei handelt es sich nur mehr um 'theoretische' Zauberer, d.h. man studiert die 'Geschichte der englischen Zauberei' genauso wie etwa Geschichtswissenschaften. Echte 'praktische' Zauberer, die existieren lediglich als windige Jahrmarktsattraktionen, die vornehmlich den Leuten das Geld mit Betrügereien und falschen Prophezeiungen aus der Tasche ziehen. 


In diese Zeit, in der 'wahre' Zauberei lediglich noch in Legenden und Mythen existiert, versucht der Sonderling Gilbert Norrell -- wie er ständig betont -- die Grundlagen einer 'modernen' englischen Zauberei zu etablieren. Norell ist ein seltsamer Kauz. Echte Zauberei lernt er vornehmlich aus Büchern, die er Dank eines ererbten Vermögens im ganzen Land nahezu restlos aufkauft. Nur sich selbst sieht er als berufen an, die schwierige Aufgabe als 'einziger' Zauberer Englands zu bewältigen -- und dass es dabei bleibt, dafür wird er mit Nachdruck sorgen. Aber Norell kann nicht verhindern, dass noch andere Zeitgenossen auftauchen, die eine gewisse 'Begabung' für Zauberei ihr Eigen nennen. Jonathan Strange, gut 20 Jahre jünger und das absolute Gegenteil Norrells entscheidet sich -- aus Ermangelung anderer Alternativen, inspiriert durch eine krude Prophezeiung...und um vor seiner Zukünftigen eine gute Figur zu machen -- ebenfalls dafür, sein Leben der altehrwürdigen Kunst der Zauberei zu widmen, und so kommt das ungleiche Paar -- Jonathan Strange und Mr. Norrell -- schließlich als Lehrer und Schüler zusammen.

Wirklich, man hat das Gefühl, einen der großen Romane Jane Austens zu lesen. So sehr gelingt es Susanna Clark, die Atmosphäre der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, die Zeit der napoleonischen Kriege und die Gesellschaft der englischen Aristokratie wiederaufleben zu lassen. Zugleich entführt sie uns in eine magische Parallelwelt, in der der 'Raven King' seine drei Königreiche -- in der diesseitigen Welt, dem Feenreich und am 'anderen Ende der Hölle' -- regiert. Aber die Moderne wirft bereits ihre Schatten voraus. Lange schon sind die Brücken in die anderen Welten abgebrochen, bis schließlich Mr. Norrell und Jonathan Strange die Türen eher notgedrungen und widerwillig wieder aufstoßen. Zauberei -- wenn sie denn tatsächlich zur Ausführung gelangt -- hat hier stets einen bitteren Beigeschmack. Ähnlich wie die Moderne und die Industrialisierung ihre Schattenseiten offenbaren, ebenso sind die Kollateralschäden und Abfallprodukte der Zauberei in der Welt und zollen ihren Tribut.

Als besonders gelungen empfinde ich die charakterliche Differenziertheit und Vielfältigkeit der von Susanna Clark beschriebenen Figuren. Alles ist vielschichtig, alles kann von zwei Seiten gesehen werden, nichts ist einseitig nur gut oder nur böse. Den Leser erwartet eine wunderbare Welt, die fest im Gefüge des 19. Jahrhunderts verankert steht. Historische Persönlichkeiten (Wellington und Napoleon) und Begebenheiten (napoleonischen Kriege, Kontinentalsperre, Waterloo) tragen wesentlich zum Verlauf der Handlung bei und werden originell und sorgfältig in das Geschehen eingebettet.
Am Ende, auch wenn die 'große Schlacht' erfolgreich geschlagen scheint, bleibt doch stets ein etwas bitterer Nachgeschmack auf der Zunge und Susanna Clarke entlässt ihre Helden in eine ungewisse Zukunft.

Ich kann das Buch (in der englischen Originalversion) nur wärmstens empfehlen! Leider kenne ich die deutsche Übersetzung nicht -- aber ich gehe einmal davon aus (bzw. hoffe sehr), dass der (oder die) Übersetzer(in) das Sprachgefühl Susanna Clarks übernommen und entsprechend ins Deutsche übertragen haben (Kommentare sind an dieser Stelle ausdrücklich erwünscht!).

Fazit: Wer die Romane der Brontës oder Jane Austens liebt und sich auf diese vielschichtig gezeichnete Parallelwelt der Zauberei einlässt, für den wird der Roman zu einem wahren 'Lesefest'!

Links:
  1. Jonathan Strange's Website (deutsche Version)
  2. The Daily Raven, newspaper from March 9th, 1809, (THE OFFICIAL PAPER OF RECORD TO JONATHAN STRANGE AND MR NORRELL)
  3. Susanna Clarke at Bloomsbury Website
  4. The friends of English Magic (Forum)