Über Robert Löhrs Vorliebe, das Personal seiner Romane aus Deutschlands Dichter- und Denkerzirkeln zu rekrutieren und diese in phantastische Räuberpistolen und Abenteuergeschichten hineinzuversetzen, hatte ich ja bereits schon mit dem 'Erlkönigmaneuver' hier im Biblionomicon besprochen. Dennoch hat mich meine damalige Kritik nicht daran hindern können, auch Robert Löhrs neusten Band 'Das Hamlet-Komplott' zu lesen, der das abenteuerliche Szenario fortzusetzen verspricht.
Der kurzweilige Roman startet mit einem aus meinem Blickwinkel sehr gelungenen Kapitel über den Einfall napoleonischer Truppen nach der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt in Weimar.
"Den Morgen des 14. Oktobers 1806 verbrachte Goethe im Garten über seiner Farbenlehre, derweil Napoleon vier Wegstunden ostwärts die preußische Armee zermalmte..."(Seite 7)
Obwohl sich nicht gerade übermäßige Panik im Hause Goethes breitmacht, bereitet man sich auf die zu erwartenden Plünderungen und die Besetzung des Hauses am Weimarer Frauenplan vor. Als in der Nacht einer der einquartierten französischen Soldaten Goethes Münzkabinett plündert, wird er vom Geheimrat auf frischer Tat ertappt. Kurzentschlossen und kaltblütig rettet Christiane, die langjährige Lebensgefährtin Goethes und Mutter seiner Kinder, das Leben des Geheimrats, indem sie den Soldaten mit einem Stein aus Goethes Mineraliensammlung erschlägt. Glückliche Konsequenz dieser Bluttat: fünf Tage später heiraten Goethe und die Vulpius im kleinsten Kreise in der Weimarer Jakobskirche...
Aber diese kleine Episode bildet nur den Auftakt für eine verwegene Abenteuergeschichte, bei der Johann Wolfgang von Goethe zusammen mit Heinrich Kleist, Madame de Staël, Ludwig Tieck und August Wilhelm Schlegel die Kaiserkrone des heiligen römischen Reiches vor dem Zugriff französischer Agenten bewahren und diese als fahrende Schauspieler verkleidet quer durch das napoleonische Süddeutschland nach Preußen schaffen wollen. Und dabei kommt es der illustren Reisegruppe zu Gute, dass ausgerechnet August Wilhelm Schlegel mit von der Partie ist. Der berühmte Übersetzer der Dramen Shakespeares in die deutsche Sprache verdingte sich damals als Hauslehrer (Hausfreund?) bei Madame de Stael, Tochter des Finanzministers Necker und erklärte Feindin Napoleons. Eigentlich sollte der Wagen der fahrenden Schaubühne ja nur als Verkleidung dienen. Als sich die Truppe aber gezwungen sieht, ihre Deckidentität unter Beweis zustellen, greifen sie auf Schlegels profunde Kenntnisse zurück, um Shakespeares berühmtestes Stück 'Hamlet' mit großer Improvisationskunst auf die Bühne zu bringen.
"Helfen Sie mir auf die Sprünge: Wo genau in Hamlet donnert es?""Meteorologisch nirgendwo", antwortete Kleist und kurbelte an der Windmaschine. "Aber metaphorisch."
Ist das nun künstlerische Freiheit oder eher blasphemischer Unfug? Berechtigte Frage. War ich beim vorangegangenen Roman noch von der Umsetzung der an sich interessanten Idee weniger begeistert, gefällt mir der vorliegende Band um so mehr. Löhr nimmt sich mehr Zeit dafür, die Tiefen seiner allgemein bekannten Figuren auszuloten. Auch, wenn er es dabei nicht immer allzu genau mit den historischen Tatsachen nimmt. Goethes Verhältnis zu Madame de Stael war doch eher von unterkühlter Natur, wie man seinen Briefen an Schiller entnehmen kann, als diese sich zu Besuch in Weimar befand.
"Madame überraschte Weimar mit solch raffinierter Natürlichkeit, aber vorallem mit ihrer außerordentlichen Beredtheit. Man muss sich ganz in ein Gehörorgan verwandelt um ihr folgen zu können, berichtet Schiller, dem zuerst die Aufgabe zugefallen war, ihr gegenüber das geistige Weimar zu repräsentieren, da Goethe noch zögerte, von Jena herüberzukommen." (Rüdiger Safranski 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft', Seite 287)
Allerdings macht es natürlich Spaß mit dem historischen 'Was wäre wenn' zu spielen und so den bekannten Figuren neue Seiten abzugewinnen. Sollte darüber hinaus noch der ein oder andere Leser gewonnen werden, die von den Protagonisten selbst geschriebene 'große' Literatur im Original zu lesen, dann erfüllt die Löhrsche Räuberpistole sogar noch einen Bildungsauftrag. Auf alle Fälle sollte man den Roman mit einem kleinen Augenzwinkern lesen und nicht immer alles auf die Goldwaage legen. Um dies dem Leser zu erleichtern, stellt Löhr dem Roman ein Schillerzitat voran, in dessen Licht besehen jetzt auch der stereotype und meist humorresistente 'Bildungsbürger' die von ihm ersponnene Geschichte in vollem Maße genießen kann:
"Überhaupt glaube ich, dass man wohl tun würde, immer nur die allgemeine Situation, die Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen und alles übrige poetisch frei zu erfinden, wodurch eine mittlere Gattung von Stoffen entstünde, welche die Vorteile des historischen Dramas mit dem erdichteten vereinigte." (Friedrich Schiller, Briefe an Goethe, 20.8.1799)
Fazit: Kurzweilig und spannend zu lesender Roman, der mit seiner gewagten Mischung aus deutscher Kulturhistorie und 'Jäger des verlorenen Schatzes' eine abwechselnd frische Sichtweise auf die Weimarer Klassik und die deutsche Romantik bietet, indem er dem Leser deren Hauptakteure auf unprätentiöse Weise nahebringt. Lesen!
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