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Mittwoch, 3. August 2011

Ein Roadtrip der besonderen Art - Daniel Kehlmann 'Die Vermessung der Welt'

OK, ich habe das Buch vor über 4 Jahren gelesen, als es das Biblionomicon noch gar nicht gab. Aus gegebenem Anlass - Humboldt kam genau heute vor 207 Jahren von seiner großen Amerikareise zurück - habe ich daher diesen alten Blogpost aus meinem Wissenschaftsblog 'more semantic...!' hierher an die richtige Stelle übernommen und erweitert...


Daniel Kehlmanns vielgepriesenes Buch 'Die Vermessung der Welt' war für mich wirklich eine der großen Überraschungen in den Neuerscheinungen der letzten Jahre. Der Gattungsbegriff 'Biografie' trifft es nicht ganz, aber dann irgendwie natürlich doch. Eigentlich handelt es aber eher eine Art gigantischen 'Roadtrip', einerseits um die (äußere) halbe Welt - repräsentiert durch den Naturforscher Alexander von Humboldt - und andererseits durch die (innere Welt der) Mathematik - vertreten durch das mathematische Universalgenie Carl Friedrich Gauss.

Wir stürzen mitten in die Geschichte, als der bereits betagte Mathematiker Gauss nach Berlin aufbrechen muss, um auf Einladung von Humboldts an einem Kongress teilzunehmen. Eigentlich will er ja gar nicht, vor allem nicht aus dem Bett heraus, aus seinem Haus, aus Göttingen...und überhaupt. Köstlich...vor allem auch der Dialog (eigentlich eher ein Monolog) mit Eugen, seinem seiner Ansicht nach 'missratenem' Sohn.
"Eine Weile sah er mit gerunzeltem Gesicht aus dem Fenster, dann fragte er, wann seine Tochter endlich heiraten werde. Warum wolle die denn keiner, wo sei das Problem?
Eugen strich sich die langen Haare zurück, knetete mit beiden Händen seine rote Mütze und wollte nicht antworten.
Raus mit der Sprache, sagte Gauß.
Um ehrlich zu sein, sagte Eugen, die Schwester sei eben nicht hübsch.
Gauß nickte, die Antwort kam ihm plausibel vor. Er verlangte ein Buch..." (Seite 8)
Dazu hat er keine Papiere - die man zur damaligen Zeit für die Reise von Göttingen nach Berlin durchaus benötigte - erzählt dem Polizeibeamten, dass Napoleon seinerzeit sogar auf eine Kanonade Göttingens nur seinetwegen verzichtet hätte...Hier muss sich der Leser die damaligen Verhältnisse in "Deutschland" (was auch immer in dieser Zeit darunter zu verstehen war) vor Augen führen. Die herrschenden Fürsten hatten eine Heidenangst vor revolutionären, also "demokratischen" Umtrieben...und auf Napoleon war man in Deutschland nach dem Wiener Kongress in kaum einem der dazu zählenden 100+x Kleinstaaten allzu gut zu sprechen. Naja...der Polizist muss einen verdächtigen "Turner" (Jawoll....gedenke man doch auch dem "Turnvater" Jahn) verfolgen und beide Gauss gelangen schließlich wohlbehalten nach Berlin, wo sie schon von einem umtriebig wuseligen Alexander von Humboldt in Empfang genommen werden. Sehr schön auch die Schilderung, wie man mit Hilfe der noch nicht so recht ausgereiften Erfindung des Herren Daguerre versucht "die Zeit festzuhalten"....

Nun...in diesem Stil wird uns schließlich das Leben der beiden ungleichen Geistesgrößen und Sonderlinge geschildert. Während Gauss sich an die Entdeckung der Mathematik (und schließlich auch der Physik) macht und eine 'innere Welt' bis an ihre Grenzen erforscht, begibt sich Humboldt zusammen mit seinem Kollegen Aimé Bonpland (von dem heute, wie Bonpland schon die ganze Geschichte über ahnte, kein Mensch mehr spricht) auf Entdeckungsreise nach Süd- und Mittelamerika, die 'äußere Welt' bis zu ihren Grenzen zu erforschen.
Am Ende bemerken die beiden mittlerweile schon ergrauten Herren, dass sie doch gar nicht so verschieden sind - auch wenn ihr Leben kaum unterschiedlicher hätte sein können.

Ich hab das Buch sehr genossen. Vor allem natürlich, da ich mich durch die geschilderten Eigenarten der beiden Protagonisten an den ein oder anderen hochbegabten (aber doch recht schrulligen) Zeitgenossen erinnert gefühlt habe, der meinen Weg bislang gekreuzt hat...natürlich entdeckt man auch die ein oder andere eigene 'Seltsamkeit' wieder. Ein weiteres Highlight ist für mich Kehlmanns Sprachgewalt. Nein, das Werk ist nichts für den "Wald-und-Wiesen-Gelegenheits-JerryCotton-Leser". Ganz im Gegenteil. Natürlich wirkt die Sprache (ich sage nur "lang lebe der Konjunktiv"!) etwas antiquiert, aber wir befinden uns ja schließlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nicht bei RTL.

Fazit: Ich hab schon lange nicht mehr ein so kurzweiliges und interessantes Buch gelesen. Lesebefehl!

Links:







Daniel Kehlmann:
Die Vermessung der Welt
Rowohlt (2005)
304 Seiten