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Sonntag, 13. Mai 2012

Der letzte Romantiker - Leo Perutz 'Nachts unter der steinernen Brücke'

Eigentlich weiß ich gar nicht mehr so genau, wie ich auf Leo Perutz gestoßen bin. Ich glaube, es war im Zusammenhang mit einer Rezension, die ich gelesen hatte, in der Antal Szerb (Die Pendragon Legende, Das Halsband der Königin) mit Leo Perutz verglichen wurde, weshalb ich neugierig geworden bin und nun 'Nachts unter der steinernen Brücke', das als sein wichtigstes Werk gilt, endlich gelesen habe.

Eigentlich wird es ja als historischer Roman gehandelt, aber Leo Perutz liefert uns eine Sammlung von 15 novellengleichen und in sich abgeschlossenen Geschichten, die alle im Prag des 16./17. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Judenstadt und Hradschin spielen. Der Leser bemerkt erst recht spät, dass sich durch alle Geschichten hindurch ein dünner roter Faden entspinnt, der am Ende alles zusammenführen wird. Doch folgen die Geschichten keiner streng chronologischen Reihenfolge und der bereits zitierte rote Faden bleibt dem Leser vorerst noch lange verborgen, was leicht zu Frustration führen kann. Nichtsdestotrotz zieht einen gleich die erste Geschichte 'Die Pest in der Judenstadt' in ihren unheimlichen Bann. Zwei arme Musiker und Spaßmacher, der Koppel-Bär und der Jäckele Narr, treffen nachts auf einem Prager Friedhof auf die Geister der kürzlich an der Pest verstorbenen Kinder. In ihrer Not fliehen sie zum gelehrten Rabbi Löw, der die Zeichen zu deuten weiß und einem Frevel um einen Ehebruch in seiner Gemeinde auf die Spur kommt. Doch ist es am Ende er selbst, der sich des Frevels schuldig gemacht hat und der die Schuld am Kindersterben in Prag trägen soll. In den folgenden Geschichten erfahren wir auch vom Kaiser Rudolph und seiner unerfüllten, da unmöglichen Liebe zur schönen Jüdin Esther, in die auch der Rabbi Löw verwickelt wird. Wir treffen auf historisch verbürgte Persönlichkeiten wie Wallenstein und erleben die Anfangszeit des Dreissigjährigen Krieges, doch gleichzeitig meinen wir inmitten eines fantastischen Traumes zu stehen.

Erzählt werden die kurzen, aber sprachlich auf hohem Niveau sehr schön ausgeschmückten Novellen, in einem über und über melancholischen Ton. Daher sollte sich der geneigte Leser nicht unbedingt einen grauen Novemberabend für seine Lektüre aussuchen...
"Ihr Menschenkinder", sprach der Engel weiter, "gar arm und voll von Kümmernissen ist Euer Leben. Warum beschwert Ihr es mit der Liebe, die Euch den Sinn verstört und Eure Herzen elend macht?" ... "Sind nicht", sprach [Rabbi Löw] zu ihm, "die Kinder Gottes [gemeint sind die Engel], als die Zeiten begannen, mit den Töchtern der Menschen in Liebe gewesen? Haben sie sie nicht an den Brunnen und Quellen erwartet und sie im Schatten der Ölbäume und Eichen mit dem Kuß ihres Mundes geküsst?" ...Und wie er [der Engel Asrael] der Geliebten seiner fernen Jugend gedachte, fielen zwei Tränen aus den Augen des Engels, die waren den Menschentränen gleich".
Während die erste der Erzählungen bereits in den 1920er Jahren in einer Literaturzeitschrift erschien, arbeitete Perutz über 20 Jahre lang an den folgenden Geschichten, die erst 1953 vereint in Romanform veröffentlicht werden sollten. Perutz, dessen Schriften unter den Nazis verboten wurden und der nach Palestina emigriert war, versuchte in der Nachkriegszeit wieder im deutschsprachigen literarischen Leben Fuß zu fassen. Leider wurde der kunstvoll gestaltete Roman mit seiner Hommage an Perutz` Heimatstadt Prag nur sehr verhalten vom deutschen Publikum aufgenommen, das kurz nach dem Krieg nur sehr wenig mit Literatur über jüdisches Leben anzufangen wusste.

Fazit: Die traumgleichen und durchgehend melancholisch fesselnden Geschichten ziehen den Leser nach und nach in ihren Bann. Kunstvoll konstruierter und fantastisch romantisch-historischer Roman. LESEN!

Leo Perutz
Nachts unter der steinernen Brücke

Deutscher Taschenbuch Verlag (2002)
272 Seiten
9,90 Euro