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Samstag, 2. Februar 2013

Steampunk! - William Gibson, Bruce Sterling 'Die Differenz Maschine'


Dem Phänomen 'Steampunk' in Verbindung mit alternativen Realitäten hatte ich mich bislang literarisch noch nie gewidmet. Allerdings wurde ich im vergangenen Jahr auf ein Buch aufmerksam, in dem die Geschichte der digitalen Revolution um ein ganzes Jahrhundert nach vorne verschoben wurde. Computer im 19. Jahrhundert, also im Zeitalter von Dampfmaschinen und Biedermeier? Naja, dachte ich mir... es gab da ja tatsächlich Charles Babagges berühmte Difference Engine, den mechanischen Vorläufer unserer heutigen Computer. Und dann noch ein Buch geschrieben von den beiden Vätern des sogenannten Cyberpunks William Gibson und Bruce Sterling? Das könnte interessant werden...

Wir schreiben das Jahr 1855 und die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, als wir denken. Dank der perfektionierten mechanischen Computer - der Differenz Maschinen - des berühmten Mathematikers und Erfinders Charles Babbage befindet sich das britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftsmacht. Allerdings verlangt dieser technische Fortschritt auch seinen Tribut.  London leidet unter einer geradezu apokalyptischen Hitzewelle, das ungebremste industrielle Wachstum hat zu immenser Luftverschmutzung und zu einem ätzenden Smog geführt, durch den sich die Londoner ihren Weg bahnen müssen. Das Computerzeitalter ist ein Jahrhundert vor seiner Zeit angebrochen und es sind die Wissenschaftler und Industriellen, die auch die politische Macht übernommen haben und jetzt den Ton angeben. An der Spitze der Regierung steht der skrupellose Lord Byron, der für die radikalen Technokraten das Zepter schwingt. England und Frankreich haben das alte Europa und den Rest der Welt untereinander aufgeteilt in ihren kolonialen Imperien. Es herrscht ein ungebremster Kapitalismus, getrieben von strenger Berechenbarkeit, unerbittlicher Pragmatik und schnellen Profit. Dampfgetriebene Automobile eilen auf ihren Autobahnen durch das am Qualm erstickende London, die Underground durchzieht mit ihren dampfbetriebenen Zügen die rauchgeschwängerten Katakomben der Großstadt. Die Technokraten sind an der Macht und die Operateure und Programmierer der dampfgetriebenen Computerungetüme prägen als neue Elite das Bild der Stadt.

Zu den Protagonisten der Handlung zählen sowohl fiktive als auch tatsächlich historische Charaktere: Sybil Gerard, Tochter eines berüchtigten Maschinenstürmers, eine „gefallene Frau“ und Prostituierte. Der Wissenschaftler Edward Mallory, seines Zeichens Paläontologe und Spezialist für prähistorische Dinosaurier. Die "Programmiererin" Lady Ada Byron, Tochter des Premierministers und Assistentin des großen Charles Babbage, zugleich mathematisches Genie und notorische Glücksspielerin. Und zuletzt der Diplomat Laurence Oliphant, Leiter des Außen-Geheimdienstes und einer der Drahtzieher hinter der ganzen Geschichte.

Die Prostituierte Sybil Gerard wird von ihrem Freier Mick Radley, einem begabten Programmierer in der Entourage des in seiner Heimat ungeliebten texanischen Freiheitskämpfers und Ex-Präsidenten Sam Houston unter die Fittiche genommen. Mit ihm zusammen soll sie in geheimer Mission nach Paris aufbrechen, doch Radley wird ermordet und Sybil muss Hals über Kopf mit einem Koffer voller geheimnisvoller Lochkarten aus Sam Houstons Besitz fliehen. Der Paläonthologe Edward Mallory ist gerade von einer seiner Forschungsreisen nach England zurückgekehrt. In seinem Gepäck befindet sich der sagenhafte "Land-Leviathan", eine Art Brontosaurus, dem er seinen ganzen Ruhm verdankt. Durch Insiderinformationen und Wettglück gelangt er zu einem stattlichen Vermögen, doch noch auf der Rennbahn macht er unfreiwillig Bekanntschaft mit einem zwielichtigen Pärchen, dem er eine anscheinend entführte Dame entreißen kann. Diese entpuppt sich als niemand anderes die Tochter des Premierministers, die berühmte Lady Ada Byron, die "Königin der Maschinen". Bevor sie wieder verschwindet, drückt sie Mallory einen geheimnisvollen Kasten mit Lochkarten in die Hand. Doch diese Lochkarten sind anscheinend hoch begehrt und so gerät der Wissenschaftler in arge Bedrängnis, während er einer weltumspannenden Verschwörung auf die Spur kommt.

Meine Erfahrungen mit alternativen Realitäten in der Literatur sind leider begrenzt, doch glaube ich, dass man schon eine gehörige Menge an historischem Wissen mitbringen muss, um diese Geschichte in ihrer ganzen Breite wirklich schätzen zu können. Oft sind es die nur am Rande aufblitzenden Seitenhiebe, die man in den richtigen geschichtlichen Kontext setzen muss, um deren Originalität genießen zu können. Tatsächlich wurde der historische Sommer 1858 von den Londoner Zeitgenossen als "The Great Stink" bezeichnet und ging als solcher in die Geschichte ein. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und London wuchs sehr viel schneller als seine dringend benötigte Kanalisation. Die Themse und viele ihrer Zuflüsse im Stadtgebiet waren extrem stark verschmutzt. Die hohen Temperaturen förderten die Vermehrung von Bakterien und der daraus resultierende Gestank war derart unerträglich, dass sogar Regierung und Gerichte einen Umzug aus der Stadt ernsthaft erwogen. Auch die Differenz-Maschine gab es wirklich, aber erst ihr Nachfolger, die nur auf dem Reißbrett konzipierte "Analytical Engine" war ein nach heutigen Maßstäben frei programmierbarer Computer, der aber aufgrund der damals nicht realisierbaren feinmechanischen Exaktheit niemals in die Tat umgesetzt werden konnte. William Gibsons und Bruce Sterlings negative Utopie einer auf Dampfbetrieb aufbauenden digitalen Revolution scheint weit hergeholt, aber es ist die darin enthaltene Kritik an der Natur des Menschen und des ungebremsten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der durch diese Überhöhung umso deutlicher in den Vordergrund gerät. Dabei erlauben sich die beiden Autoren auch das ein oder andere Augenzwinkern, etwa wenn sie Karl Marx in die USA auswandern lassen, wo er ausgerechnet in Manhattan eine sich der freien Liebe hingebende Kommune gründet. Mir persönlich hat dieses Spiel mit der Historie recht gut gefallen, doch befürchte ich, dass es einen Leser leicht überfordern könnte, falls dieser nicht über genügend Hintergrundwissen über Informationstechnik und die Geschichte des 19. Jahrhunderts verfügt. Allerdings halte ich die lobhudelnde Kritik der New York Times als vollkommen übertrieben, die behauptet, dass "wer die digitale Revolution verstehen will", dieses Buch gelesen haben müsste.

Fazit: Ungewöhnliche und originelle alternative Realität, spannend erzählt für Liebhaber des 19. Jahrhunderts, die mit einem Computer gut umzugehen wissen und für alles offen sind ;-) Lesen!



William Gibson
Bruce Sterling

Die Differenz-Maschine
Heyne Verlag, München, 2012.
624 Seiten
9,99 Euro