20. Januar 1777. An diesem Wintermorgen geht der bekannteste Arzt der Stadt, verfolgt von seinem Hund, die Treppe vom Schlaftrakt zu seinen Praxisräumen hinab. Die honigbraunen Stufen erlauben bequeme Schritte und den Hundepfoten einen mühelos rhythmischen Trab. In diesem Haus gibt es keine schmalen Stiegen. Wie früher im Haus seiner Eltern. (Seite 9)
So beginnt Alissa Walsers Roman 'Am Anfang war die Nacht Musik' um den innovativen österreichischen Arzt Franz Anton Mesmer, Begründer der Lehre des animalischen Magnetismus, dessen Lehren und Methoden oft als Scharlatanerie abgetan wurden, dessen Einsichten aber auch die Theorie des Unbewussten in der Psychoanalyse vorwegnahmen und beeinflussten. Es hätte Franz Anton Mesmers großer Durchbruch werden können, der Fall der berühmten blinden Pianistin Maria Theresia Paradis, und er hätte seine neuen Methoden auch bei der Kaiserin Maria Theresia bekannt machen sollen, aber es kam ganz anders. Sein Scheitern im Fall der "Jungfer Paradis" wird im Mai 1778 für Mesmers Gegner aus dem akademischen Establishment trotz der anfänglichen Erfolge zum letztgültigen Beweis der Scharlatanerie seiner Methoden. Letztendlich liegt es aber auch an Mesmer selbst und seinem Unvermögen, seine Theorien und Heilmethoden in der akademischen Sprache der Vernunft zur allgemeinen Diskussion zu stellen.
1734 am Bodensee als Sohn eines Försters geboren, glaubte Franz Anton Mesmer an den Einfluss der Planeten auf Krankheiten und hielt mit seiner Theorie vom animalischen Magnetismus die breite Öffentlichkeit von Wien bis Paris in Atem. Im Zentrum seiner Lehre steht das von ihm als solches bezeichnete Fluidum, das alle lebendigen Körper durchströmt und am besten mit dem Qi des Taoismus verglichen werden kann. Krankheiten beruhten laut Mesmer auf der ungleichen Verteilung dieses Stoffes, angelehnt an die Säftelehre Hippokrates' und Galens. Ziel einer Mesmerschen Therapie war es demnach, die körperliche Harmonie wiederherzustellen. Dies erfolgte dergestalt, dass der Arzt mit den Patienten in eine Art Verbindung trat und durch „Magnetisierung“ versuchte, heilsame Krisen hervorzurufen. Aber zunächst einmal zurück zum Roman.
Am 20. Januar 1777 lernt Franz Anton Mesmer seine neue Patientin, die achtzehnjährige Tochter des K.u.K. Hofsekretärs von Paradis, kennen. Das blinde Mädchen ist eine bekannte Pianistin, die mit ihrem Können Kaiserin Maria Theresia höchstpersönlich beeindruckte und von ihr eine großzgige Apanage erhält. Die Jungfer Paradis war aber nicht immer schon blind. Vielmehr, so findet Mesmer heraus, erblindete das damals dreijährige Kind plötzlich über Nacht in Folge eines schockierenden Ereignisses. Alle Versuche der Ärzte waren bislang vergeblich und die Familie hofft auf den Wunderazt Mesmer, der seinerseits ebenfalls überzeugt ist, die Kranke mit Hilfe seines Magnetismus zu heilen und nimmt diese gegen den Widerstand ihrer Eltern in sein Haus-Spital auf. Tatsächlich zeigt Mesmers behutsames Vorgehen erste Erfolge und die junge Patientin scheint ihr Sehvermögen wiederzugewinnen - allerdings um den Preis, dass ihr Klavierspiel darunter leidet. Die Nachricht von der Blinden, die wieder sehen kann, verbreitet sich in Windeseile durch ganz Europa und Mesmer kann sich vor neuen Patienten kaum retten. Doch seine Gegner sind schnell dabei, von Betrug zu sprechen und gleichzeitig mehren sich die Gerüchte, der Arzt stehe mit seiner Patientin in einem unziemlichen Verhältnis. Als seine Tochter einen Rückfall erleidet verlangt Hofsekretär von Paradis deren Herausgabe und fordert Mesmer auf, mit seinen Betrügereien Schluss zu machen. Seiner Tochter redet er ein, die Wiedererlangung ihrer Sehkraft sei nichts als bloße Einbildung gewesen. In Misskredit gebracht beschließt Mesmer, Wien den Rücken zu kehren und gelangt über einen Abstecher in seine alte Heimat am Bodensee schließlich nach Paris, wo er auf die (nun wieder) blinde Pianistin treffen wird, deren Ruhm bis zum französischen König vorgedrungen ist.
In ihrem kurzen Roman schildert Alissa Walser die Ereignisse rund um den Fall der jungen Maria Theresia von Paradis, allerdings ohne auf Mesmers Theorien näher einzugehen. Die Erzählperspektive wechselt öfters und der Abstand zwischen Leser und Geschehen wird durch die großzügige Verwendung der indirekten Rede verstärkt. In diesem Punkt erinnerte mich der sprachliche Ausdruck an Daniel Kehlmanns 'Vermessung der Welt' ohne allerdings dessen allgegenwärtiges Augenzwinkern [1]. Dadurch nimmt sich in meinen Augen der Roman ein klein wenig zu ernst. Walser möchte die Modernität von Mesmers Methoden und dessen Fokussierung auf die Psyche des Patienten als grundlegenden Mitverursacher vieler Krankheiten in den Mittelpunkt der Geschichte stellen. Zwar spricht die FAZ in ihrer Rezension von einer "Virtuosität der Sprache und ihre Überschreitung, etwa durch genialische Neologismen", doch kann ich diese Begeisterung nur schwer teilen [2]. Im Gegenteil wirkt die Sprache oft zu sehr gekünstelt und man fragt sich, ob das jetzt wirklich nötig war. Insgesamt ist die Geschichte interessant und spannend erzählt, was aber auch ihren kurzen 200 Seiten geschuldet ist. Über längere Strecken jedoch könnte ich Alissa Walsers Erzählkraft auf diese Weise nicht ertragen und so ist man mehr oder minder froh, wenn man nach gelungener Lektüre wieder ohne weiter geschraubte Ausdrücke frei durchatmen kann.
Fazit: Historisch interessante und widersprüchliche Gestalt des Wunderarztes Mesmer und seines bekanntesten Falls in einer sprachlich opulenten Umsetzung, die leider nicht jedermanns Geschmack treffen wird.
Alissa Walser
Am Anfang war die Nacht Musik
Piper
256 Seiten
19,90 Euro
Referenzen:
[1] Sandra Kegel: Der Doktor und das blinde Kind, FAZ, 11.01.2010
[2] Ein Roadtrip der besonderen Art: Daniel Kehlmann 'Die Vermessung der Welt', 3.08.2011