Alan Bennet zeigt uns diese Entwicklung exemplarisch am Beispiel der englischen Königin in seinem kurzen und überaus lesenswerten Roman "Die souveräne Leserin". Stellen wir uns einfach vor, die Queen würde, während sie ihre herumtollenden Hunde bis in einen Hinterhof des Palastes nachsetzt, mit einem öffentlichen Bücherei-Bus konfrontiert. Kurzerhand tritt sie hinein und leiht sich tatsächlich beim erstaunten Busfahrer und Büchereiangestellten ein Buch aus. Bislang hat sie sich noch nie groß für Literatur interessiert und so tut sich für sie eine völlig neue Welt auf. Mit im Bus sitzt Norman Seaking, ein einfacher Küchenangestellter des Palastes, den die Queen kurzerhand zu ihrem "Bücher-Pagen" befördert und der ihr erster Führer in die Welt der Literatur werden soll.
Die Queen liest - und der Hofstaat ist mehr und mehr irritiert. Ist Lesen doch eine Beschäftigung, die andere ausschließt und somit nicht ganz der 'political correctness' des Hauses Windsor entspricht. Aber nicht nur das. Immer mehr vernachlässigt die Queen ihre Verpflichtungen zugunsten eines interessanten Romans. Sie irritiert das Personal, den Premierminister, Staatsgäste, ihren Privatsekretär und auch ihre Untertanen. Während sie früher beim 'Shake-Hands' mit den einfachen Menschen Fragen stellte, wie "Hatten Sie eine lange Anreise?" oder anderen Smalltalk, fragt sie jetzt "Was lesen Sie gerade?" und löst damit jede Menge Verwirrung aus.
"Man legt sein Leben nicht in Bücher. Man findet es in ihnen."
Langsam geht mit ihr eine Veränderung vor, die durch das Lesen in Gang gesetzt wurde. Sie versteht es jetzt, die Welt auch durch andere Augen wahrzunehmen, andere Standpunkte und Gefühle einzuschätzen. Und mit dem einfachen Lesen hört diese Entwicklung nicht auf. Das Gelesene wird diskutiert, es wird anderen vorgelesen und am Ende wird die eigene Sicht der Welt reflektiert und zu Papier gebracht. Der Leser erlangt seine Souveränität und wird selbst zum Autor.
"Und wieder wurde ihr klar, dass sie nicht einfach nur Leserin sein wollte. Lesen war nicht viel mehr als Zuschauen, Schreiben jedoch war Tun, und Tun war ihre Pflicht."
Alan Bennett schildert diese Entwicklung auf äußerst liebenswerte Weise und mit grandios inszenierten, subtilen Humor. Die Queen erhält menschliche und überaus liebenswerte Züge, die sie vor allen Dingen auch ihrer neuen Beschäftigung, dem Lesen verdankt. Das Lesen wird aber von Hofstaat und Politik als 'gefährlich' eingestuft, was darin gipfelt, dass ein vergessenes Buch in der Kutsche der Königin angeblich und fälschlicherweise von einem Bombenräumkommando 'gesprengt' werden muss. Sehr schön auch die Anspielungen und Kommentare zu lebenden und klassischen Autoren aus dem Munde der Queen, wie hier z.B. zu Marcel Proust:
"Hatte ein schreckliches Leben, der arme Mann. Litt offenbar furchtbar unter Asthma und war im Grunde so jemand, zu dem man gerne mal sagen möchte: "Nun reißen sie sich mal am Riemen, guter Mann." ... Das merkwürdige bei ihm war, wenn er seinen Kuchen in den Tee tunkte (abscheuliche Angewohnheit), dann stand ihm plötzlich sein ganzes bisheriges Leben vor Augen."
Fazit: Wirklich ein ganz hervorragendes, intelligentes und unterhaltsames kleines Buch, das ich jedem uneingeschränkt empfehlen kann. LESEN!
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