Sonntag, 5. Juni 2011

Eine Hommage an die Zeitmaschine - Felix J. Palma 'Die Landkarte der Zeit'


Außerplanmäßig, da sich bereits der Stapel schon gelesener aber noch unrezensierter Bücher auf der Kommode türmt, doch mit umso frischerem Eindruck möchte ich heute über das Buch berichten, das ich in der vergangenen Woche auf Kreta quasi als 'Reiselektüre' zuerst recht skeptisch, aber dann doch mit wachsender Spannung gelesen habe. 'Die Landkarte der Zeit' vom spanischen Autor Félix J. Palma, auf dessen Cover das Zifferblatt einer Uhr ohne Zeiger prangt und dessen Umschlag mit markigen Werbezitaten angesehener Zeitungen geschmückt wird in dem Stil "Ein Bestseller, den jeder Literaturprofessor in der U-Bahn lesen kann, ohne sich zu schämen". Zugegeben, diese Zeilen gaben mir zunächst sehr zu denken. Ein Buch, zu dessen Lektüre mich der Hinweis bewegen soll, dass ich mich nicht öffentlich dafür zu schämen hätte. Aber warten wir ab....

Die Schnittmenge zwischen Zeitreisegeschichten und Bestsellern war bis vor kurzem annähernd leer, sieht man einmal von H.G. Wells Klassiker 'Die Zeitmaschine' ab. Doch mit Audrey Niffeneggers 'Die Frau des Zeitreisenden' (siehe Biblionomicon: 'Lost in Time...', vom 11.10.2007) gelang es, die nicht ganz unkomplizierte Thematik auch einem größeren Publikum nahezubringen und schmackhaft zu machen. Und das in einer interessanten und mir bis dato neuen Variante, in der der Protagonist auf ihm selbst nicht begreifliche Weise dazu verdammt ist, kreuz und quer durch seine eigene Lebenszeit zu springen. Was also hat Félix J. Palmas Roman dem Genre noch hinzuzufügen?

Zentrale Figur im folgenreichen Verwirrspiel um das Thema Zeitreisen ist der britische Autor Herbert George Wells, einem der Väter des modernen Science Fiction Romans, auf dessen 1895 erschienenen Romanklassiker 'Die Zeitmaschine' das ganze Thema überhaupt erst seinen Ursprung findet. Es ist recht verzwickt, den Handlungsfaden erzählen zu wollen, ohne dabei die Spannung und Pointen des unterhaltsamen Romans schon vorwegzunehmen. Ich versuche mein Bestes.... Wir schreiben das Jahr 1888. Der aus gutem Hause stammende, junge Andrew verliebt sich zum Entsetzen seines Vaters in eine Prostituierte. Jedoch gelingt es ihm nicht, sich gegen seinen übermächtigen Vater durchzusetzen und eine selbstverantwortete Entscheidung zu treffen, die es den beiden ermöglichen würde, ein gemeinsames Leben zu führen. Zumindest nicht rechtzeitig, denn das Londoner East End wird zu dieser Zeit von Jack the Ripper heimgesucht, der seine Opfer -- allesamt Prostituierte -- auf bestialische Weise abschlachtet. Andrews große Liebe Marie wird Jack the Rippers letztes Opfer. Von Sehnsucht und Schuldgefühlen geplagt beschließt er 8 Jahre später sich am Jahrestag des Verbrechens das Leben zu nehmen. Doch seinem Cousin gelingt es noch in letzter Sekunde rettend einzugreifen, indem er Andrew von einer sagenhaften neuen Möglichkeit berichtet, wie Marie doch noch zu retten wäre....
"Es überraschte Andrew, dass die abgelegten Karten des Lebens nicht hinweggefegt wurden, wie die Sägespäne vom Besen eines Schreiners, sondern jede einzelne eine neue Existenz schuf, die mit der wahren um die Wette eiferte, welche von ihnen die authentische sei." (Seite 258)
Kurz nach dem Erscheinen von H.G. Wells Roman 'Die Zeitmaschine' scheint ganz England beflügelt vom Fortschrittsglauben und der Idee des Zeitreisens. So bleibt es nicht aus, dass bereits im Folgejahre die 'Agentur für Zeitreisen Murray' gegründet wird, die ihren Kunden eine sagenhafte Reise in das Jahr 2000 verspricht, dem Entscheidungsjahr der Menschheitsgeschichte, in der sich das Schicksal des Menschen im Kampf gegen die Maschinenmenschen entscheiden wird. Dies ist erst das erste der vielen Zitate und Rückgriffe in die Geschichte dieses Genres, denn wem jetzt in diesem Zusammenhang 'Der Terminator' einfällt, der liegt gar nicht so weit von einer Spur entfernt. Allerdings haben die Zeitreisen der Agentur einen kleinen Haken: es existiert quasi nur ein einziger Zeittunnel, der das viktorianische London ausschließlich mit dem 20. Mai 2000 verbindet. Reisen zurück in die Zeit oder zu einem anderen Datum hin scheinen unmöglich.
"Also gut", sagte Charles und sah auf seine Taschenuhr, "zuerst einmal gehen wir essen. Es ist nicht ratsam, mit nüchternem Magen zu reisen." (Seite 115)
Wohlhabenden Londoner Bürgern ermöglicht die Agentur für Zeitreisen Murray so eine 'Pauschalreise' zur Entscheidungsschlacht der Menschheit und dabei passiert, was passieren muss: eine intelligente, junge und romantisch veranlagte Dame, die sich so gar nicht mit den Gepflogenheiten ihrer Zeit und den potenziell dort vorhandenen Verehrern arrangieren will (...viele Grüße übrigens an Jane Austen), verliebt sich in den tapferen Hauptmann Derek Shackleton, den Anführer der letzten Menschen in ihrem verzweifelten Kampf gegen die Maschinenmenschen, was nicht ohne Folgen bleiben soll...

Alles entwickelt sich anders als erwartet, und das macht einen Großteil des Charmes dieser Geschichte aus, die sich auf alle Fälle stets mit einem kleinen Augenzwinkern verstanden wissen möchte. Weiter wird sich aus dem großen literarischen Fundus der Zeitreisegeschichten bedient: So besteht zu befürchten, dass der tapfere Hauptmann Shackleton in der Zeit zurückreist, um einen Pianola- und Spielzeugfabrikanten zu töten, den man für den Urvater der Maschinenmenschen hält. Andererseits kommt ein Scottland Yard Inspektor auf die Idee, ein Verbrechen zu verhindern, das noch gar nicht geschehen ist (Minority Report lässt grüßen), verbunden mit all den widersprüchlichen Schlussfolgerungen, dass ein verhindertes Verbrechen ja gar nicht begangen wurde, der Täter somit nicht zur Verantwortung zu ziehen ist und damit auch gar keine Veranlassung besteht, das nicht stattgefundene Verbrechen überhaupt erst zu verhindern.
"Die Geräusche, die wir nachts manchmal hören, dieses Knarren, das wir alten Möbeln zuschreiben, sie sind vielleicht nichts anderes als die Schritte eines unserer zukünftigen Ichs, das unseren Schlaf bewacht und ihn nicht zu unterbrechen wagt." (Seite 254)
Wem es bei derartigen Gedankengängen jetzt ein klein wenig schwindelig geworden ist, der hat erst einen klitzekleinen Eindruck davon gewonnen, wie kompliziert diese Zeitreisethematik eigentlich werden kann. Felix J. Palma versteht es aber ganz gut, den Leser mit auf seine Reise zu nehmen, wobei sich manch zu phantastisch anmutende Idee dann letztenendes doch als recht irdisch herausstellen wird. Natürlich wird auch 'Die Frau des Zeitreisenden' zitiert, genauso wie George Pals 1960 erschienener Filmklassiker 'Die Zeitmaschine'. Überhaupt werden sich am Genre interessierte Leser über eine Menge Aha-Erlebnisse mit Wiedererkennungswert erfreuen können. Übrigens, hatte ich schon erwähnt, dass auch John Merrick, der 'Elefantenmensch', eine Nebenrolle spielt?

Fazit: Eine Hommage an ein Genre und einen Autor, die spannende und unterhaltsame Lektüre verspricht, nicht nur für Liebhaber.

Links:

Félix J. Palma: Die Landkarte der Zeit
aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen,
Rowohlt Verlag GmbH, 2010.
716 Seiten, 24,95 €