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Freitag, 12. August 2011

Vom Mythos zur Propaganda - Jean-Pierre Luminet 'Alexandria 642'

Natürlich ist da an aller erster Stelle der Mythos vom Hort und Schmelzpunkt des antiken Weltwissens, die Bibliothek von Alexandria, angegliedert an das alexandrinische Museion, Forschungsinstitut und 'Think Tank' der griechisch-hellenistisch geprägten Antike. Und im gleichen Atemzug hebt der moderne Bildungsbürger an zu einem Seufzer, um all dem verlorenen Wissen nachzutrauern, das mit dem Niedergang dieser antiken Bildungsstätte zugleich verschwand. Und genau hier setzt auch die Propaganda an, gleich aus welcher kulturell-ideologischen Ecke sie stammte, wenn es darum ging, wem denn nun die Verantwortung an diesem unwiederbringlichen Verlust zugeschanzt werden soll....

Wir schreiben das Jahr des Herren 642, oder sollten wir besser sagen, wir befinden uns im 20. Jahr, nachdem der Prophet die Stadt Mekka verlassen hatte und die islamische Zeitrechnung begann. Der islamische Feldherr Amr Ibn Al-As steht vor den Toren der Stadt Alexandria, die über kurz oder lang zum Ruhme des Allmächtigen eingenommen werden wird. Die allgemeine Panik erfasst auch Johannes Philoponos, den letzten 'Bibliothekar', der um den Fortbestand seiner Bibliothek bangt. Zusammen mit seiner Großnichte Hypathia und dem Arzt Rhazes versuchen die drei den Feldherren von seinem ursprünglichen Plan abzubringen, die Bibliothek und all' ihre in den 1000 Jahren ihres Bestehens gesammelten Schriften den Flammen zu überantworten.

Dabei holen sie weit aus und zeichnen das Bild der antiken Gelehrsamkeit beginnend mit der Gründung Alexandrias im 4. vorchristlichen Jahrhundert durch Alexander den Großen, über die Gründung des Museions und der Bibliothek durch Ptolemaios I. Soter und die großen Gelehrten der Antike, die alle zumindest die Bibliothek einmal besuchten, bis hin zu ihrem fortdauernden Verfall, angefangen beim Brand der Hafenanlagen während des römischen Bürgerkrieges zwischen Cäsar und Pompeius, bis hin zu den frühchristlichen Eiferern und ihrer Wut gegen die heidnischen Schriften. So hören wir von Aristoteles, dem Lehrer Alexanders und von Euklid, dem Vater der Mathematik und der Geometrie. Aristarch von Samos berechnet die Entfernung von der Erde zur Sonne und schlägt als erster ein heliozentrisches Weltbild vor, das die Erde nicht mehr als Zentrum des Universums sieht, sondern diese auf eine Kreisbahn um die Sonne schickt. Archimedes und seine zahlreichen Erfindungen, nicht zuletzt seine gefürchteten innovativen Kriegsgeräte, und Eratosthenes, dem es mit erstaunlicher Genauigkeit gelang, den Erdumfang mit Hilfe einfacher Dreiecksberechnungen zu bestimmen. Zahlreiche weitere Wissenschaftler kommen zu Wort, so z.B. der Astronom Hipparch, der Geograph Strabon, der Philosoph Philon von Alexandria, der versuchte biblisches Gedankengut und hellenistisch-philosophische Ideen miteinander zu verbinden, und der großen Einfluss auf die Kirchenväter ausübte. Seneca, Epiktet, Klaudios Ptolemaios, der Arzt Galenos, der Mathematiker Diophantos, oder auch die Mathematikerin, Astronomin und Philosophin Hypathia von Alexandria als erste Märtyrerin der Wissenschaft gegenüber religiöser Intoleranz.

Luminet schwelgt in diesem Kanon des antiken Wissens und spinnt darum eine einfache Geschichte, der es genauso ergeht, wie einem Film über die Titanic: Man weiß, die Bibliothek wird am Ende untergehen. Trotzdem werden die ungeheuer vielen Fakten auf unterhaltsame Weise zusammen mit Anekdoten und Geschichten dargestellt, so dass sie niemals langweilig wirken. Ein ausführliches Personenverzeichnis mit Zeittafeln und wissenschaftlichen Fußnoten runden das Buch ab und geben vertiefende Auskunft über die zahlreichen dargestellten Fakten.

Und der Leser wird gefesselt durch die vergebliche Aussicht, dass es den Protagonisten doch gelingen könnte Amr vom Auftrag seines Kalifen Omars abzubringen. Doch leider steht am Ende das Urteils Omars über die heidnische Wissenschaft schon lange fest. Denn steht in den heidnischen Schriften nichts, was dem Koran widerspricht, so sind sie überflüssig und können verbrannt werden. Anderenfalls widersprechen sie dem Wort Gottes und müssen aus eben diesem Grund verbrannt werden. Aber auch diese Geschichte wurde wie so viele andere auch wahrscheinlich nur erfunden zum Zweck politischer und religiöser Propaganda gegenüber einem Gegner, den man ob der stattgefundenen Barbarei mit einem Brandmal versehen wollte.

Fazit: Mehr Sachbuch als Roman, aber für alle, die an der Welt der Antike interessiert sind, ein absolutes MUST READ!

Jean-Pierre Luminet:
Deutscher Taschenbuchverlag (2005)
287 Seiten
8,90 Euro