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Samstag, 21. Januar 2012

Verwegene Frauen - Liv Winterberg 'Vom anderen Ende der Welt'

Ich freue mich ganz besonders, heute meinen Lesern -- und das ist eine Premiere -- den ersten von hoffentlich noch vielen weiteren Gastbeiträgen präsentieren zu dürfen. Das Biblionomicon war ja nun lange genug meine 'Privatveranstaltung' und nach mehr als 5 Jahren und fast 150 Beiträgen ist es an der Zeit, auch einmal andere Stimmen Gleichgesinnter und Seelenverwandter zu Wort kommen zu lassen. Den Anfang macht heute Claudia, die ich im letzten Beitrag ja schon einmal erwähnt hatte, mit Liv Winterbergs historischen Roman 'Vom anderen Ende der Welt'. Als frisch promovierte Historikerin ('Religion und religiöse Memoria in den Statuten reichsstädtischer Zünfte vom Spätmittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Eine Exemplarische Untersuchung der Städte Dortmund, Essen, Lübeck, Oppenheim und Augsburg') ist Claudia natürlich prädestiniert, hier in der Abteilung historische Romane für neuen Wind zu sorgen und da sie auch lange Zeit im Buchhandel gearbeitet hat, saß sie ja gewissermaßen immer schon 'an der Quelle'. Also denn...

Als junge Frau hatte Mary Linley im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts nur eine Bestimmung: heiraten und Kinder gebären. Als ihr Vater stirbt scheint dieses Dogma in erschreckende Nähe zu rücken, doch Mary hat andere Pläne. Sie muss den geltenden gesellschaftlichen Konventionen entfliehen, um als Wissenschaftlerin zu arbeiten -- schließlich war sie von ihrem Vater als Botanikerin ausgebildet worden. Um der unausweichlichen Heirat zu entgehen, gibt sie sich als Mann aus und heuert als Zeichner auf einem Expeditionsschiff an. Auf der langen Reise nach Tahiti lernt sie schnell, wie unerbittlich und hart sich das tägliche Leben an Bord erweist und wie schwer es ist, den Schein ihrer männlichen Identität zu wahren. Auch der Leser erfährt dabei überaus Wissenswertes über das Leben auf hoher See und die Botanik der damaligen Zeit. Natürlich darf auch die Liebe in dieser Geschichte nicht fehlen, die sich zwischen Mary und Sir Carl Belham, dem Leiter der Expedition, entspinnt.

Und auch wenn sich zwischenzeitlich das Gefühl einstellt, etwas weniger Klischee hätte dem Roman gut getan, so ist er doch lesenswert, vernünftig recherchiert und unterhaltsam -- gut geeignet für einen verregneten Sonntagnachmittag auf dem Sofa. Versöhnlich hat mich schließlich doch auch gestimmt, dass die Geschichte tatsächlich auf einer historischen Vorlage basiert: 1766 brach der französische Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville zu seiner drei Jahre dauernden Reise auf und gelangte dabei 1768 nach Tahiti. Mit an Bord befand sich der Botaniker Philibert Commerçon, begleitet von seinem Assistenten Jean Baré, alias Jeanne Baret -- einer Frau. Nur in Männerkleidung war es der ausgebildeten Botanikerin überhaupt möglich wissenschaftlich zu arbeiten und an einer Forschungsreise teilzunehmen.

Commerçon und Baret forschten fünf Jahre gemeinsam auf Mauritius und Madagaskar. Nach dem Tod Commerçons überführte Baret seinem Testament entsprechend, die gesamte Sammlung nach Frankreich, ordnete über 6000 Pflanzen in die bestehende Sammlung ein und leistete auf diese Weise einen der wichtigsten Beiträge zur Botanik des 18. Jahrhunderts. Noch heute ist die Sammlung im Muséum national d’histoire naturelle in Paris zu sehen. Während zahlreiche Pflanzen den Namen Commerçons tragen, wurde Baret diese späte Ehrung erst 2012 zuteil, indem ein neu entdecktes Nachtschattengewächs nun den Namen Solanum baretiae trägt.

Ich stelle mir, nachdem es zwischen Roman und Realität so viele Parallelen gibt, die Frage, warum Liv Winterberg sich nicht einfach vollständig an der historischen Person orientierte hat. Eine Biographie in Romanform mit ein wenig mehr Fakten zur historischen Jeanne Baret hätte ich sicher noch lieber gelesen.

Liv Winterberg
Vom anderen Ende der Welt
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv Premium)
448 Seiten
14,80 Euro








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