"Ein Wörterbuch ist nicht einfach nur ein Buch, Germain. Es ist viel mehr als das. Es ist ein Labyrinth...Ein großartiges Labyrinth, in dem man sich voller Glück verirrt."(Seite 137).Marie-Sabine Roger stellt uns in "Das Labyrinth der Wörter" den mehr oder weniger einfältigen und "einfach gestrickten" Germain Chaze vor, der zwar nach außen hin seiner massigen Erscheinung wegen den "harten Kerl" mimt, aber in seinem Innersten doch eine Seele von einem Menschen ist. Er ist von zu Hause ausgezogen, lebt aber nur wenige Schritte vom Haus seiner Mutter entfernt in einem Wohnwagen, der im Garten steht. Für Gartenarbeit hat Germain auch ein Händchen und so duldet er auch seine ewig nörgelnde, leicht psychopathische Mutter, die ihn Zeit seines Lebens immer klein gehalten hat, wenn sie Germains mühevoll kultivierte Garten plündert. Germain hält sich mit kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser und fristet ein eher tristes Leben, dessen seltene Höhepunkte den in Trinkgelagen mit seinen Freunden bestehen.
Eines Tages lernt Germain, während er im Park dem Taubenzählen nachgeht, die hochgebildete alte Dame Margueritte Escoffier kennen, die in einem nahen Altersheim lebt. Im Gespräch mit Margueritte kommt sich Germain zum ersten mal in seinem Leben richtig ernst genommen und als Mensch anerkannt vor. Und so entspannen sich zwischen diesem ungleichen Paar zarte Bande der Freundschaft, in deren Verlauf Margueritte dem von allen als tumben Toren betrachteten Germain beginnt vorzulesen und ihn so Stück für Stück durch das Labyrinth der Wörter führt.
"Als ich Margueritte begegnet bin, fand ich es erst kompliziert, mir Wissen anzueignen. Dann interessant. Und dann unheimlich, denn mit dem Nachdenken anzufangen ist etwa so, wie wenn man einem Kurzsichtigen eine Brille gibt. Alles ringsherum kam einem immer ganz okay vor - einfach weil es unscharf war. Und dann plötzlich sieht man die Risse, den Rost, die Mängel, alles, was bröckelt. Man sieht den Tod, die Tatsache, dass man alles eines Tages verlassen muss, und das nicht unbedingt auf die lustigste Art und Weise." (Seite 49)Zuerst dachte ich, naja...wieder so eine (harmlose) Geschichte um einen liebenswerten tumben Trampel, der sich langsam zum Besseren entwickelt. Weit gefehlt. Das Buch bringt mehr Tiefgang mit als es auf den ersten Schein erkennen lässt. Dies liegt vor allem in der einfühlsamen Charakterzeichnung des Protagonisten Germains, der die Geschichte aus seinem eigenen Blickwinkel heraus mit seinen ureigenen Worten erzählt. Der Witz und die Ironie, die sich daraus oftmals ergibt, und die tiefen Einsichten in das manchmal allzu schwere menschliche Miteinander machen dieses Buch so liebens- wie lesenswert.
"Wörter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken einsortiert, um sie den anderen besser präsentieren und verkaufen zu können. Zum Beispiel gibt es Tage, wo man am liebsten auf alles und jeden einschlagen würde und dann doch nur einen Flunsch zieht. Dadurch könnten die anderen aber glauben, dass man krank oder unglücklich ist. Wenn man stattdessen mit Worten sagt: 'Geht mir bloß nicht auf den Sack, heute ist nicht mein Tag!'. dann vermeidet man solche Missverständnisse."(Seite 21)Fazit: Allen, die nicht mit Scheuklappen durchs Leben gehen wollen, die Freude am Lesen haben und offen für ungewohnte aber durchaus wahre Blickwinkel sind, sei dieses kleine Büchlein wärmstens zum Lesen anempfohlen!! Lesen!
Marie-Sabine Roger
Das Labyrinth der Wörter
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), 2. Aufl. 2011
221 Seiten
9,20 Euro
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