Samstag, 7. Juli 2012

Eiskalt - Christoph Ransmayr 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis'

Nein, es war vielleicht nicht die beste Idee, dieses Buch im Monat Juni zu beginnen, bei sommerlich schwülwarmen Temperaturen. Immerhin, zur Zeit um den Johannistag bleibt es in unseren Breiten fast bis gegen 11 Uhr abends hell - naja, natürlich 'hell' im Sinne von 'noch nicht ganz schwarzdunkle Nacht'. Gibt dies doch zumindest einen kleinen gedanklichen Hinweis darauf, dass es noch weiter droben im Norden eine Gegend gibt, in der zu dieser Jahreszeit die Sonne überhaupt nicht mehr unter geht. Stellt man sich dann aber im Gegensatz dazu vor, dass dem polaren Tag auch eine mehrmonatige Nacht folgt, ein immerwährendes Dunkel und ein verzweifeltes Harren in der Eiseskälte in der Hoffnung, eines Morgens doch zumindest ein kleines Stückchen der Sonnenscheibe wieder am Horizont zu erspähen, dann beschleicht einen ein schauriges Gefühl. Man fragt sich, warum Menschen sich das freiwillig antun. Insbesondere, wenn man gezwungen ist, in einer kleinen Nussschale von Schiff, eingeschlossen von polarem Packeis, ständig dem knarrenden Drängen des Eises ausgeliefert, in Dunkelheit und Kälte auszuharren.

Genau dies ist das Thema von Christoph Ransmayrs authentischem, kollagenartig zusammengestellten Bericht 'Die Schrecken des Eises und der Finsternis', in der er die Geschichte der k.u.k österreichisch-ungarischen Nordpolarexpedition von 1872 unter Linienschiffsleutnant Carl Weyprecht und Oberlieutenant Julius Payer auf der Suche nach neuem Land unterhalb des Pols und der Nordostpassage geschildert wird. Dabei bedient sich Ransmayr originaler Dokumente und Briefe, die wie in einer Art Kollage zusammengewürfelt in der Rahmengeschichte auftauchen über den orientierungslosen Josef Mazzani, der auf den Spuren der Weyprechtschen Expedition auf eigene Faust nach Spitzbergen reist und dort verloren gehen wird. Daneben stellt Ransmayer Fotografien, alte Stiche oder Personallisten der Expedition und verfolgt auf eigenen Exkursen die Geschichte des Wettlaufs um den nördlichen Pol und die trügerischen Versprechungen einer Nordost- bzw. Nordwestpassage, die einen kürzeren Seeweg nach Indien und Asien, und damit höheren Profit verheißen. Doch im Mittelpunkt des Berichts steht die Expedition von 1872, in der sich ein kleiner Haufen verwegener Männer von der adriatischen Küste stammend nach Bremerhafen einschiffen und sich auf den Weg ins Ungewisse auf der Suche nach Ruhm und Ehre fürs österreichische Vaterland machen.
"Wer die Natur bewundern will, der beobachtet sie in ihren Extremen. In den Tropen, in ihrer vollsten Pracht und Üppigkeit, im strotzenden Sonntagskleide, über dessen Betrachtung man nur allzu leicht geneigt wird, den Kern zu übersehen - an den Polen in ihrer Nacktheit, die aber umso klarer und deutlicher den großartigen inneren Bau hervortreten lässt." (Carl Weyprecht)
Doch der Norden ist unerbittlich. Nur allzuschnell ist der arktische Sommer vorüber und ihr Schiff, die Admiral Tegethoff, wird vom Eis eingeschlossen. Nachts schabt und kracht das Eis, das gegen die dünnen Schiffswände drängt. Und es wird dunkel. Der polare Winter hat ungeahnt deprimierende Wirkung auf die Besatzung. Monatelang eingeschlossen, einzig die vorhandenen Konserven und das Fleisch einiger Polarbären, die sich auf ihren Wanderungen im Packeis zum Schiff verirrten, halten die Männer mehr oder weniger am Leben. Kaum einer weist noch keine Erfrierungen auf. Krankheit und Skorbut greifen um sich. Als die Sonne im nachfolgenden Jahr endlich wieder über dem Horizont erscheint, hoffen und harren die Männer der Admiral Tegethoff darauf, dass das Eis endlich aufbricht, aber vergebens. Zwar entdecken sie tatsächlich ein neues, bislang unbekanntes Land, das sie nach ihrem Monarchen Franz-Josef-Land taufen. Doch verheißt der kahle eisige Felsen nichts als eine weitere trostlose Eishölle. Nach dem zweiten Winter im ewigen Eis ist ihnen klar, sie müssen sich zu Fuß in Richtung Süden aufmachen, wenn sie überleben wollen.
"Einsam und in Gedanken durchmess ich die ödesten Gefilde mit zögernden, langsamen Schritten und die Augen führ ich, auf Flucht bedacht, umher, aufmerkend, wo Menschenspur im Sande sich einpräge..." (Seite 108)
Obwohl sich für mein Empfinden das Buch etwas holprig las, hat es mich doch beeindruckt. Es zieht sich eine tiefe Melancholie des Scheiterns gleich einem roten Faden durch die vielen Geschichten rund um die Eroberung der Arktis. Wofür eigentlich die ganzen Strapazen, nur um am wortwörtlichen Ende der Welt eine Fahnenstange in das Eis zu treiben, die sich nach ein paar Monaten aufgrund der Eisdrift schon gar nicht mehr am Pol befindet? Warum, so frage ich mich, flogen Menschen zum Mond (den Kalten Krieg bei Seite gelassen)? Warum wird seit Jahren unentwegt sogar an einer bemannten Reise zum Mars geplant? Ich erinnere mich an den Satz aus dem Intro einer populären Fernsehserie aus meinen Kindertagen, der mir immer noch in den Ohren klingt: "To boldly go, where no man has gone before...". Es geht doch immer nur darum, das Ultima Thule zu erreichen, das noch unentdeckte Ziel, das noch kein Mensch je betreten hat. Und wenn man dann dort ist, sucht man sich das nächste. Erinnert mich irgendwie auch an den Mythos vom armen Sisiphus.

Fazit: Ein eiskalter und streckenweise deprimierender Reisebericht mit allerlei Wissenswerten über den arktischen Norden und den vergeblichen Versuch, diesen zu bezwingen. Winterlektüre!


Christoph Ransmayr
Die Schrecken des Eises und der Finsternis
Fischer Tb., 2. Aufl. (2006)
368 Seiten
9,00 Euro