Sonntag, 18. Dezember 2011

Traurige Hymne an das Lesen - Sam Savage 'Firmin - Ein Rattenleben'

Dies ist eine traurige Geschichte. Wer also hinter der Ratte 'Firmin', dem Protagonisten des gleichnamigen Romans des promovierten Philosophen, Tischler, Fischer, Drucker und Fahrradmechaniker Sam Savage eine ähnlich niedliche Geschichte vergleichbar mit dem Pixar-Film 'Ratatouille' erwartet, der geht leer aus, denn hier gibt es kein Happy End...

Also es geht um einen Roman, der eine Ratte ins Zentrum der Geschichte stellt und diese aus ihrer ureigenen Perspektive erzählt. Ja, richtig gehört, die Ratte erzählt uns die Geschichte und es ist kein Märchen für Kinder, sondern vielmehr ein Stück amerikanischer Lokalgeschichte, beginnend in den 1960er Jahren in der Stadt Boston. Firmin wird dort als 13. Junges einer übergewichtigen und alkoholabhängigen Rattenmutter im Keller einer Bostoner Buchhandlung zur Welt gebracht. Aber Firmin ist anders als seine Rattenbrüder und Rattenschwestern. Als letzter im Wurf kommt er stets zu kurz, wenn es darum geht, sich einen Platz an der Mutterbrust in Konkurrenz um die knappe Nahrung zu erkämpfen. Schließlich aber findet er Geschmack an den Seiten der Bücher im Keller der Buchhandlung und mit der Zeit muss er feststellen, dass Buchseiten nicht nur dazu dienen können, seinen Hunger zu stillen, sondern dass er dazu auch noch lesen kann. Sicher, das ist ungewöhnlich für eine Ratte, aber wenn man sich erst einmal damit abgefunden hat, dass es Firmin intellektuell in Sachen Literatur mit jedem Menschen aufnehmen kann und den meisten darin am Ende sogar überlegen ist (Firmin ist nicht nur mit einer Art photografischen Gedächtnis gesegnet, sondern beherrscht auch noch die Kunst, anspruchsvolle Literatur mit atemberaubender Geschwindigkeit zu lesen), dann kann die Geschichte auch funktionieren.

Kein Wunder also, wenn sich Firmin eher als Mensch, denn als Ratte fühlt. Allerdings ist ihm bewusst, dass er eine Ratte ist und dass Ratten bei den Menschen nicht gerade ein hohes Ansehen genießen. Dennoch gelingt es ihm mit der Zeit, sogar eine Art Freund unter den Menschen zu finden: den erfolglosen Schriftsteller und Außenseiter Jerry, bei dem er schließlich auch wohnt, nachdem er seinen Geburtsort, die Buchhandlung verlassen hat. Aber Jerry ist genauso wie Firmin ein ewiger Verlierer. Zwar liebt er seinen kleinen Freund, doch vermag er nicht dessen Genialität zu erkennen und hält ihn eben einfach "nur" für eine Ratte. So muss auch diese ungleiche Freundschaft letztlich tragisch enden. Die Melancholie von Firmins Geschichte wird begleitet von der Schilderung des allmählichen Verfalls des Bostoner Stadtviertels, in dem Firmins alte Buchhandlung liegt. Ebensowenig, wie dessen Untergang verhindert werden kann, sind auch Firmins Träume und sein Streben nach Höherem kläglich zum Scheitern verurteilt.

So traurig die Geschichte am Ende auch ist, so besitzt Firmin doch einen intelligenten, an Woody Allen erinnernden Sinn für Humor, der vom Autor durch beständige Literaturzitate unterfüttert wird. So gerät die tragische Geschichte schließlich zu einer Hymne an die Literatur und an das Lesen an sich, und man bekommt Lust, das ein oder andere der erwähnten Werke einmal wieder aus dem Bücherschrank zu nehmen und darin zu lesen. Persönlich hatte ich mir mehr von dem so viel gelobten Werk erwartet. Die Ratte als Identifikationsfigur eines intellektuellen Außenseiters wird sicher nicht bei jedem funktionieren. Dennoch spricht das Buch bestimmt auch die "Leseratten" unter uns an, so dass man trotz alledem auch ein wenig Vergnügen aus der melancholischen Lektüre ziehen kann.

Fazit: Ein ungewöhnlicher Roman mit zahlreichen literarischen Querverweisen um einen intellektuellen Außenseiter in Gestalt einer Ratte. Bestimmt nichts für jedermann... 

Sam Savage
Firmin - Ein Rattenleben
List Taschenbuch (2009)
280 Seiten
8,95 Euro