Sonntag, 17. Februar 2013

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Wie jedesmal freue ich mich sehr, an dieser Stelle einmal wieder eine Rezension von Claudia einzuleiten. Eine Rezension zu einem Buch, das ich selbst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelesen hätte. Gerade aus diesem Grund freue ich mich, weil damit das Biblionomicon auch etwas farbiger und vielschichtiger wird. Aber keine Vorschusslorbeeren, sondern lest lieber selbst:

Ich kann mich wirklich nicht beschweren – schließlich bin ich durchaus gewarnt worden. Aber als meine Nachbarin mich fragte, ob sie mir mal ein paar Leseexemplare aus ihrer Buchhandlung mitbringen solle, sagte ich natürlich: ja gerne! Sie vermutete, es solle sicher etwas „Anspruchsvolles“ sein. Naja, offenbar hatte ich einen Ruf zu verlieren und daraufhin habe ich mir etwas Anspruchsvolles gewünscht. Bekommen habe ich ein Buch von Sibylle Berg – ich gebe zu, dass ich bis dahin noch nichts von ihr gelesen hatte – inzwischen weiß ich auch warum! Völlig unbefangen bin ich gemeinsam mit Frau Berg auf mein Sofa gegangen und begann „Vielen Dank für das Leben“ zu lesen.

Die Geschichte sprach mich sofort an, fühlte ich mich doch gleich an Jeffrey Eugenides Roman „Middlesex“ erinnert, dessen Thematik mich sehr interessiert hat. Reingefallen, könnte sich Frau Berg denken, denn mit dem Roman hat ihr Werk so ziemlich gar nichts gemein. Aber beginnen wir am Anfang: Im Jahr 1966 kommt in der DDR ein Kind zur Welt:
Es ist ein ... fuhr sie fort, verstummte plötzlich, und schwere Stille wurde im Kreißsaal. Die Frau hörte nach Sekunden leisen Raunens ein Räuspern, dann wurde das Kind in ein Tuch gewickelt und ihr gereicht. Es ist gesund. Glaube ich. Sagte die Hebamme. Genaueres wird ihnen der Arzt sagen.“ (S. 13)
Kein Junge. Kein Mädchen, sondern ein Kind, dessen Geschlecht schlichtweg nicht definierbar scheint (zumindest nicht phänotypisch) verunsichert die sehr junge Mutter. Auf sich allein gestellt nimmt sie ihr Kind, das sie schließlich Toto nennen wird, mit nach Hause. Es ist ihr fremd, sie fühlt sich von dem Säugling geradezu beobachtet. Ihre Situation bessert sich nicht, als sie Toto beim Amt anmelden muss. Eine schroffe Beamtin (bisher waren eigentlich alle auftretenden Personen schroff zu ihr, sodass man schon Mitleid bekommt) kann es nicht fassen: „Das haben wir ja noch nie gehabt, dass ein Geschlecht unbestimmt ist, das kann ich so nicht dulden, wo kämen wir da hin, wenn jeder bei der Bestimmung seines Geschlechts nach Lust und Laune agiert.“ (S. 17). Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, bekommt Toto von seiner Mutter kurzerhand ein Geschlecht zugewiesen und wird ein Junge. Im Prinzip ist das der Ausgangspunk für eine Tragödie, die ihren Lauf nimmt, ja nehmen muss.

Toto wird in ein Kinderheim abgeschoben. In Anbetracht der ständigen Vernachlässigung durch die eigene Mutter, die sich im Vollrausch mit irgendwelchen Typen herumtreibt, sicher eine gute Entscheidung: „Fast rannte die Frau zurück in die Wohnung, eine Angst war da, Kind hätte sich etwas angetan, doch als sie die Tür öffnete und das Kind sah, wie es noch immer in unveränderter Position lag und abzuwarten schien, ahnte sie, dass sich mit ihm nie würde anfreunden können.“ (21).
Das Kinderheim ist so, wie man sich ein Kinderheim in der Literatur vorstellt: grauenerregend! Versunken in sich und seinem eingeschränkten Geist lebt oder besser existiert Toto, stets „ohne boshafte Gedanken oder Absichten“ (S. 53), denn die sind ihm/ihr fremd. Toto ist von Grund auf gut. Zarte Bindung erlebt er zu Kasimir, den man wohl als seinen einzigen positiven Eindruck in seinem bisherigen Leben bezeichnen kann. Dieser positive Eindruck hilft Toto die verachtenden und brutalen Übergriffe der Erzieherin zu überstehen. Frau Hagen terrorisiert ihre Schützlinge auf das Übelste. Toto entwickelt die Fähigkeit, sich aus den beängstigenden Situationen ‚hinauszufühlen‘:
„Frau Hagens Stimme überschlug sich, doch Toto hörte sie nicht. Er hatte einen Ort gefunden, wo er nichts mehr hörte, wenn er nicht wollte. Er lag hinter dem Brustbein, dort war es warm, dort hatte Kasimirs Hand gelegen.“ (S. 59)
...versöhnlich stimmt mich nach Totos Leid im Kinderheim, dass Frau Hagens ihr ‚gerechte‘ Strafe bekommt...Nach dem Heim kommt die Pflegefamilie. Auch hier ist er Repressalien ausgesetzt; lebt in einem Verschlag. Später bekommt Toto eine Wohnung hat eine Beziehung; setzt sich mit Homosexualität auseinander, was Sibylle Berg in epische Breite ausdiskutiert. Bis dahin hat mir die Geschichte gut gefallen. Toto ist mir ans Herz gewachsen. Der Leser fühlt mit. Hat Mitleid. Dann passiert das, was wohl in jedem ihrer Romane irgendwann passiert: er nimmt eine merkwürdige Wendung und, erlaubt mir die flapsige Wortwahl, dreht ab. Das, kam mir sofort in den Sinn, muss es sein, was viele potenzielle Leser schon beim Lesen des Namens ‚Sibylle Berg‘ auf dem Buchrücken abschrecken lässt.

Fazit: Wer Sibylle Berg mag, wird auch dieses Werk mögen. Für alle anderen gilt, lieber nicht!


Sibylle Berg
Vielen Dank für das Leben

Hanser Verlag, 2012
400 Seiten
21,90 Euro





Samstag, 2. Februar 2013

Steampunk! - William Gibson, Bruce Sterling 'Die Differenz Maschine'


Dem Phänomen 'Steampunk' in Verbindung mit alternativen Realitäten hatte ich mich bislang literarisch noch nie gewidmet. Allerdings wurde ich im vergangenen Jahr auf ein Buch aufmerksam, in dem die Geschichte der digitalen Revolution um ein ganzes Jahrhundert nach vorne verschoben wurde. Computer im 19. Jahrhundert, also im Zeitalter von Dampfmaschinen und Biedermeier? Naja, dachte ich mir... es gab da ja tatsächlich Charles Babagges berühmte Difference Engine, den mechanischen Vorläufer unserer heutigen Computer. Und dann noch ein Buch geschrieben von den beiden Vätern des sogenannten Cyberpunks William Gibson und Bruce Sterling? Das könnte interessant werden...

Wir schreiben das Jahr 1855 und die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, als wir denken. Dank der perfektionierten mechanischen Computer - der Differenz Maschinen - des berühmten Mathematikers und Erfinders Charles Babbage befindet sich das britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftsmacht. Allerdings verlangt dieser technische Fortschritt auch seinen Tribut.  London leidet unter einer geradezu apokalyptischen Hitzewelle, das ungebremste industrielle Wachstum hat zu immenser Luftverschmutzung und zu einem ätzenden Smog geführt, durch den sich die Londoner ihren Weg bahnen müssen. Das Computerzeitalter ist ein Jahrhundert vor seiner Zeit angebrochen und es sind die Wissenschaftler und Industriellen, die auch die politische Macht übernommen haben und jetzt den Ton angeben. An der Spitze der Regierung steht der skrupellose Lord Byron, der für die radikalen Technokraten das Zepter schwingt. England und Frankreich haben das alte Europa und den Rest der Welt untereinander aufgeteilt in ihren kolonialen Imperien. Es herrscht ein ungebremster Kapitalismus, getrieben von strenger Berechenbarkeit, unerbittlicher Pragmatik und schnellen Profit. Dampfgetriebene Automobile eilen auf ihren Autobahnen durch das am Qualm erstickende London, die Underground durchzieht mit ihren dampfbetriebenen Zügen die rauchgeschwängerten Katakomben der Großstadt. Die Technokraten sind an der Macht und die Operateure und Programmierer der dampfgetriebenen Computerungetüme prägen als neue Elite das Bild der Stadt.

Zu den Protagonisten der Handlung zählen sowohl fiktive als auch tatsächlich historische Charaktere: Sybil Gerard, Tochter eines berüchtigten Maschinenstürmers, eine „gefallene Frau“ und Prostituierte. Der Wissenschaftler Edward Mallory, seines Zeichens Paläontologe und Spezialist für prähistorische Dinosaurier. Die "Programmiererin" Lady Ada Byron, Tochter des Premierministers und Assistentin des großen Charles Babbage, zugleich mathematisches Genie und notorische Glücksspielerin. Und zuletzt der Diplomat Laurence Oliphant, Leiter des Außen-Geheimdienstes und einer der Drahtzieher hinter der ganzen Geschichte.

Die Prostituierte Sybil Gerard wird von ihrem Freier Mick Radley, einem begabten Programmierer in der Entourage des in seiner Heimat ungeliebten texanischen Freiheitskämpfers und Ex-Präsidenten Sam Houston unter die Fittiche genommen. Mit ihm zusammen soll sie in geheimer Mission nach Paris aufbrechen, doch Radley wird ermordet und Sybil muss Hals über Kopf mit einem Koffer voller geheimnisvoller Lochkarten aus Sam Houstons Besitz fliehen. Der Paläonthologe Edward Mallory ist gerade von einer seiner Forschungsreisen nach England zurückgekehrt. In seinem Gepäck befindet sich der sagenhafte "Land-Leviathan", eine Art Brontosaurus, dem er seinen ganzen Ruhm verdankt. Durch Insiderinformationen und Wettglück gelangt er zu einem stattlichen Vermögen, doch noch auf der Rennbahn macht er unfreiwillig Bekanntschaft mit einem zwielichtigen Pärchen, dem er eine anscheinend entführte Dame entreißen kann. Diese entpuppt sich als niemand anderes die Tochter des Premierministers, die berühmte Lady Ada Byron, die "Königin der Maschinen". Bevor sie wieder verschwindet, drückt sie Mallory einen geheimnisvollen Kasten mit Lochkarten in die Hand. Doch diese Lochkarten sind anscheinend hoch begehrt und so gerät der Wissenschaftler in arge Bedrängnis, während er einer weltumspannenden Verschwörung auf die Spur kommt.

Meine Erfahrungen mit alternativen Realitäten in der Literatur sind leider begrenzt, doch glaube ich, dass man schon eine gehörige Menge an historischem Wissen mitbringen muss, um diese Geschichte in ihrer ganzen Breite wirklich schätzen zu können. Oft sind es die nur am Rande aufblitzenden Seitenhiebe, die man in den richtigen geschichtlichen Kontext setzen muss, um deren Originalität genießen zu können. Tatsächlich wurde der historische Sommer 1858 von den Londoner Zeitgenossen als "The Great Stink" bezeichnet und ging als solcher in die Geschichte ein. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und London wuchs sehr viel schneller als seine dringend benötigte Kanalisation. Die Themse und viele ihrer Zuflüsse im Stadtgebiet waren extrem stark verschmutzt. Die hohen Temperaturen förderten die Vermehrung von Bakterien und der daraus resultierende Gestank war derart unerträglich, dass sogar Regierung und Gerichte einen Umzug aus der Stadt ernsthaft erwogen. Auch die Differenz-Maschine gab es wirklich, aber erst ihr Nachfolger, die nur auf dem Reißbrett konzipierte "Analytical Engine" war ein nach heutigen Maßstäben frei programmierbarer Computer, der aber aufgrund der damals nicht realisierbaren feinmechanischen Exaktheit niemals in die Tat umgesetzt werden konnte. William Gibsons und Bruce Sterlings negative Utopie einer auf Dampfbetrieb aufbauenden digitalen Revolution scheint weit hergeholt, aber es ist die darin enthaltene Kritik an der Natur des Menschen und des ungebremsten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der durch diese Überhöhung umso deutlicher in den Vordergrund gerät. Dabei erlauben sich die beiden Autoren auch das ein oder andere Augenzwinkern, etwa wenn sie Karl Marx in die USA auswandern lassen, wo er ausgerechnet in Manhattan eine sich der freien Liebe hingebende Kommune gründet. Mir persönlich hat dieses Spiel mit der Historie recht gut gefallen, doch befürchte ich, dass es einen Leser leicht überfordern könnte, falls dieser nicht über genügend Hintergrundwissen über Informationstechnik und die Geschichte des 19. Jahrhunderts verfügt. Allerdings halte ich die lobhudelnde Kritik der New York Times als vollkommen übertrieben, die behauptet, dass "wer die digitale Revolution verstehen will", dieses Buch gelesen haben müsste.

Fazit: Ungewöhnliche und originelle alternative Realität, spannend erzählt für Liebhaber des 19. Jahrhunderts, die mit einem Computer gut umzugehen wissen und für alles offen sind ;-) Lesen!



William Gibson
Bruce Sterling

Die Differenz-Maschine
Heyne Verlag, München, 2012.
624 Seiten
9,99 Euro

Montag, 14. Januar 2013

Peter Heather "Invasion der Barbaren"

Wer unter diesem Titel einen actionlastigen historischen Roman erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Vielmehr handelt es sich um eine voluminöse Abhandlung der geschichtlichen Entwicklungen innerhalb des 1. nachchristlichen Jahrtausends in dessen Zuge der Untergang des römischen Reiches und der Aufstieg des fränkischen Reiches, der Wikinger und der Slawen hin zur Entstehung Europas ausführlich behandelt wird.

Der Historiker Peter Heather ist auf diesem Gebiet kein Neuling. Bereits in seinem 'Untergang des römischen Reiches' tat er sich mit der These hervor, dass die Ursache desselben weniger in den innenpolitischen Entwicklungen des Reiches als vielmehr in der durch den Einfall der Hunnen ausgelösten Völkerwanderungsbewegung der germanischen Volksstämme begründet liege. Ich bin kein Historiker und möchte auch in keiner Weise in die Argumentation der hier aufeinanderprallenden Lager eingreifen, sondern lediglich Peter Heathers Buch "Invasion der Barbaren" aus der Sicht eines interessierten Laiens beurteilen. Zunächst einmal gliedert Heather den umfangreichen Stoff chronologisch was ich gegenüber einer geographisch angelegten Ordnung begrüße. Der erste Teil des Buches widmet sich dabei dem Untergang des (west-)römischen Reiches, während der zweite Teil dem Aufstieg der Slawen, Franken und Wikinger in der Nachbarschaft des Fränkischen Reiches und des Oströmischen Reiches sowie der islamischen Welt gewidmet ist.
"Form und Verlauf der Migration der Barbaren im 1. Jahrtausend wurden maßgeblich durch die soziookonomischen und politischen Transformationen der Gesellschaften des barbarischen Europa und ihrer Interaktion mit den imperialen Mächten ihrer Zeit bestimmt." (Seite 12)
So lautet Heathers Kernthese, die er argumentativ ausführlich darlegt. Die ersten 300 Seiten des Buches widmen sich im Wesentlichen der beständigen Bedrängung des römischen Reiches durch zahlreiche „Barbarenstämme“, die allerdings ebenfalls untereinander jeweils in vielfältige Konflikte verstrickt lagen. Eine beabsichtigte Zerschlagung oder Zermürbung des Imperiums lag diesen Völkern daher meist fern. Viel wichtiger war zunächst das eigene Überleben, auch wenn die Völkerwanderungen der ersten Jahrhunderte einen gewichtigen Teil zur Auflösung der alten Ordnung beitrugen. Im Jahr 476 war das Ende des weströmischen Reiches durch Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus unweigerlich besiegelt, eine Neuordnung Europas kündigte sich an und Merowinger, Franken, Slawen, Sachsen, Wikinger und zahlreiche weitere Völkerschaften standen in den Startlöchern um die Macht zu übernehmen.

Dass sich das alles natürlich alles andere als geordnet vollzog liegt auf der Hand. Und so verwickelt sich auch Peter Heathers flüssig und unterhaltsam geschriebenes Buch immer wieder in das undurchdringliche Dickicht und Durcheinander der vielfältigen Bewegungen und Ströme der unterschiedlichen Volksgruppen und Stämme. So fällt es dem Leser manchmal schwer, den Überblick zu behalten, da Heather nicht nur versucht die Fakten darzustellen, sondern ebenfalls die Argumentationen und logischen Gedankengänge bereithält, die zu ihrer Rechtfertigung bei der oft dünnen Quellenlage dienen sollen. Leider bleibt der Eindruck, dass es nicht immer gelang, alle Widersprüche vollständig aufzulösen. Glücklicherweise - und das macht dieses Buch auf alle Fälle lesenswert - beschränkt er sich nicht auf der bloßen Darstellung der gesamtgeschichtlichen Ereignisse, sondern bietet auch immer wieder anekdotische Details und Begebenheiten, die das monumentale Werk auflockern. Alles in allem habe ich nach der Lektüre den Eindruck, die Tür in dieses turbulente erste Jahrtausend wenigstens einen kleinen Spalt breit geöffnet zu haben. Dennoch bleiben weite Strecken weiterhin im Dunkeln. So bleibt es aber spannend, was die Geschichtsforschung wohl in Zukunft noch über diese "dunklen" Zeiten bereithält.

Fazit: Umfangreiches historisches Werk, das versucht etwas Licht zu bringen in eine gesamteuropäische Geschichte des ersten Jahrtausends. Nur etwas für wirklich daran Interessierte.


Peter Heather
Invasion der Barbaren - Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus
Klett-Cotta, Stuttgart (2011)
667 Seiten
39,95 Euro

Mittwoch, 2. Januar 2013

2012 - Ein garantiert statistikfreier Rückblick

Wenn ich etwas unerträglich finde, dann sind dies (quantitative) Lesestatistiken, wie man sie der Tage zu Dutzenden in diversen "Buchblogs" findet. Wenn der Blogautor sein Seelenheil darin findet, der Welt zu verkünden, was für ein toller Hecht man wäre, da man die Seiten zu Tausenden gefressen habe, an diversen "Lese-Competitions" teilgenommen habe und die Zielvorgaben gleich einem kommunistischen Fünfjahresplan zielstrebig übertroffen habe, dann kann ich nur verständnislos den Kopf schütteln. Für mich ist Lesen Genuss! Und wie bei jedem Genuss kommt es mir nicht darauf an, möglichst viel in Masse zu genießen, sondern möglichst viel Genuss aus dem zu Genießenden zu ziehen. Und das kann bisweilen auch schon einmal etwas länger dauern, insbesondere, wenn man ins Nachdenken über das Gelesene kommt. Daher mein Rat an all die frustrierten Leser, die fassungslos diese wahnwitzigen Statistiken der "Vielleser" bestaunen: Um Gottes Willen nehmt euch daran bloß kein Beispiel! Lest so viel ihr wollt, so langsam ihr wollt, so oft ihr wollt. Fangt nicht an zu zählen! Bemesst die Qualität des Gelesenen und vor allen Dingen die Qualität des Lesers nicht an der Menge der konsumierten Seiten! Natürlich gibt es viel mehr zu lesen als ich oder irgendjemand sonst auf der Welt tatsächlich lesen könnte. Aus diesem Grund sind die vielen Rezensionen, die man in Blogs oder in der Presse findet auch so hilfreich. Sie helfen uns bei der Auswahl unserer Lektüre und verhindern, dass wir unsere knapp bemessene Lesezeit an "taube Nüsse" verschwenden. Daher auch in diesem Jahr ohne große Worte von meiner Seite aus eine kurze Zusammenstellung meiner "Lieblingslektüre" 2012:


Platz 1:
Stephen King
Der Anschlag
Heyne, 2011
1056 Seiten

Ich hätte nie gedacht, dass ich dass einmal zugeben müsste, aber für mich war es 2012 einfach das beste Buch, das ich gelesen habe. Großes Kino, spannend geschriebene, wohlrecherchierte und gut durchdachte Geschichte. Allen nur wärmstens zu empfehlen!
Zur Rezension im Biblionomicon.



Platz 2:
Umberto Eco
Der Friedhof in Prag
Hanser Verlag (2011)
528 Seiten


Es ist ihm noch einmal gelungen, dem Großmeister aller Verschwörungstheoretiker, ein spannendes und vor historischen Fakten nur so wimmelndes Werk zu schaffen. Allen eingeweihten und hartgesottenen Fans wärmstens ans Herz gelegt wird Eco dadurch wahrscheinlich aber nur schwerlich neue Anhänger unter der Generation iPad gewinnen können.
Zur Rezension im Biblionomicon.


Platz 3:
Günter Grass
Die Blechtrommel
dtv (1993)
784 Seiten

Große Literatur, große Sprachgewalt. Ein Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte von einem großartigen Erzähler!
Zur Rezension im Biblionomicon.





Platz 4:
Fredrik Sjöberg
Der Rosinenkönig - oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen
Verlag Galiani Berlin (2011)
236 Seiten

In liebenswerter Detailfülle erzähltes kleines Büchlein über einen heute vergessenen bemerkenswerten Sonderling, der uns mit seiner Liebe zum Detail und seinen "Stehaufmännchenqualitäten" auch heute noch durchaus zum Vorbild gereicht.
Zur Rezension im Biblionomicon.



Platz 5:
C.H.Beck (2011)
428 Seiten

Auszüge aus einem für die Nachwelt bestimmten Tagebuch des 18. Jahrhunderts aus privilegierter Perspektive, das einem nach einigen Anfangsschwierigkeiten durchaus fesselnd in seinen Bann ziehen kann. 




Weitere Jahresrückblicke:

Samstag, 29. Dezember 2012

Alice und die Mondknochen - Jonathan Caroll 'Laute Träume'

Die Analogie zwischen Lewis Carolls 'Alice im Wunderland' und dem Roman seines Namensvetters Jonathan Carroll 'Laute Träume' liegt nahe. Zwar fällt die Heldin der 'Lauten Träume' nicht wie Alice in einen Kaninchenbau, aber in ihren Träumen erlebt sie nicht minder fantastische Geschichten.

Die Geschichte beginnt mit einem Doppelmord. In einem New Yorker Mietshaus erschlug der unscheinbare Nachbar Mutter und Schwester.
"Der Axtmörder wohnte eine Treppe tiefer. Wir kannten uns, weil er ständig seinen kleinen hässlichen Hund ausführte, den ich immer streichelte, wenn ich den beiden zufällig im Hausflur begegnete." (erster Satz)
Cullen, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, sitzt währenddessen mit ihrem Mann und Baby Mae am Frühstückstisch. Im nebensächlichen Plauderton schweift die Geschichte ab und Cullen erzählt uns, wie sie ihren Mann kennenlernte, über den Umweg einer vorangegangenen unglücklichen Beziehung verbunden mit einem Schwangerschaftsabbruch. Doch was zunächst als eine Nebensächlichkeit abgetan wird, wirft deutliche Schatten in Gestalt von Cullens immer wiederkehrenden, lebhaften Träumen, in denen sich eine Art Fortsetzungsgeschichte in einer fantastischen Welt namens Rondua entspinnt. In ihren Träumen hat Cullen eine Aufgabe gemeinsam mit einer Menge Fabelwesen und ihrem ungeborenen Sohn Pepsi zu erfüllen, während sie in der realen Welt in New York das Leben einer jungen Mutter zu bestehen hat. Mit der Zeit wird ihr klar, sie war nicht zum ersten Mal in Rondua, doch diesmal ist es an ihrem Sohn Pepsi, die große Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, das Land mit Hilfe der fünf Mondknochen zu retten. Mehr und mehr gerät Cullen in den Sog ihrer lebhaften Traumwelt und die Grenzen zwischen Traum und Realität beginnen zu verwischen. Als ihr der Regisseur Weber Gregston bei einem Interviewtermin zu nahe kommt, schlägt sie ihn mit einem magischen Blitz nieder. Der vom Blitz Getroffene ist nicht nur plötzlich in sie verliebt, vielmehr beginnt er ebenfalls vom Traumland Rondua zu träumen. Doch was steckt tatsächlich hinter Cullens Träumen, in denen sich der Konflikt zwischen Gut und Böse immer mehr zuspitzt und der sich mehr und mehr in die Realität hinein erstreckt?

Klingt doch eigentlich gar nicht schlecht, oder? Nur irgendwie hat es der Roman trotz des fulminanten ersten Satzes nicht geschafft, mich wirklich in seinen Bann zu ziehen. Irgendwie wirkt die anfänglich im Plauderton erzählte Geschichte etwas halbbacken, trotz des im starken Kontrast dazu gipfelnden Endes. Die fantastische Welt ist in meinen Augen viel zu blass geraten und wird meist nur punktuell angedeutet, während die New Yorker Realität Cullens durchgehend interessant und unterhaltsam, wenn auch mit einigen Längen geschildert wird. Immerhin schien Jonathan Carroll das Thema der Traumwelt Rondua für interessant genug gehalten zu haben, fünf weitere Romane darin spielen zu lassen, auf deren Bekanntschaft ich jetzt allerdings verzichten werde.

Fazit: Starker Anfang, gute Idee, aber leider mit gezogener Handbremse ausgeführt.

Jonathan Carroll
Laute Träume (engl. Bones of the Moon)

Phantastische Bibliothek Nr. 197
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.,
1997
200 Seiten

Sonntag, 16. Dezember 2012

Psychologisches und Konstruiertes - Philip Sington "Das Einstein Mädchen"

Was für ein bescheuerter Titel für einen Roman. Aber wie heißt es doch: 'Don't judge a book by the cover' und daher also auch nicht notwendigerweise nach dessen Titel. Natürlich hat das Buch etwas mit Albert Einstein zu tun. Zudem spielt es laut Klappentext auch in meiner Nachbarschaft, eine Kombination von der ich mir einiges versprach. Aber wir werden sehen....

Die Handlung des Romans von Philip Sington spielt vorwiegend in Berlin sowie Potsdam und Caputh, letzteres der Standort von Albert Einsteins berühmten Sommerhaus, zur Zeit kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Eine wunderschöne junge Frau wird halbnackt und bewusstlos im Wald nahe Caputh aufgefunden und in die Berliner Charité eingeliefert.  Der einzige Hinweis auf Ihre Identität bleibt zunächst ein Handzettel, der bei ihr gefunden wurde, auf dem eine öffentliche Vorlesung Albert Einsteins zum 'aktuellen Stand der Quantentheorie' angekündigt wird. Als die Frau wieder zu sich kommt, kann sie sich an nichts erinnern, weder daran, wer sie ist, noch wie sie in diese Lage gekommen ist. Der Psychiater Martin Kirsch, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird,  nimmt sich des interessanten Falls der von der Presse als 'Einstein-Mädchen' bekannt gemachten Frau an. Als er versucht, mehr über seine Patientin herauszufinden geschieht das Unerhörte und der Arzt entwickelt eine starke Zuneigung zu seiner Patientin. Da Kirsch in einem wissenschaftlichen Aufsatz auf die Schwächen der Psychologie als exakte Wissenschaft hingewiesen hatte, erweckt er die Aufmerksamkeit eines führenden nationalsozialistischen Wissenschaftlers, der ihn für seine Zwecke im Gesundheitswesen einspannen will. Doch alles gerät in Bewegung. Kirschs Verlobung mit einer reichen Industriellentochter gerät zur Farce, seine Kollegen hintertreiben seine Bemühungen und im Zuge seiner "Ermittlungsarbeiten" führt die Spur über den entlegensten Winkel Serbiens nach Zürich zu Mileva Einstein, Albert Einsteins Exfrau und dessen Sohn Eduard, der auf dem Weg war, ein brillianter Psychiater zu werden, aber an Schizophrenie erkrankt und in der bekannten Züricher Burghölzli Klinik vor der Öffentlichkeit weggeschlossen lebt. Die anfangs spannende Geschichte endet in einem reichlich konstruierten, tragischen Ende, in das auch Albert Einstein selbst mitverwickelt wird.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen und war am Anfang vom Sog der geheimnisvollen Geschichte und ihren Referenzen an die tatsächlichen Ereignisse der Zeit mitgerissen. Doch leider geriet die Erzählung mit Fortschreiten der Handlung in meinen Augen leicht aus dem Ruder. Vom langwierigen Psychologisieren über das unvermeidliche Sichverlieben des Arztes in die mysteriöse Schönheit hin zu einem Ende, das mit Gewalt an den Haaren herbeigezogen scheint. Leider hat es Philip Sington nicht geschafft, mich mitzunehmen in die turbulenten 1930er Jahre Berlins, das im Roman eher wie eine abgestandene Theaterrequisite mehr oder weniger blass daherkommt. Hier hatte ich mehr erwartet. Auch konnte ich mich nicht mit dem Protagonisten und seinem Innenleben anfreunden. Der in anderen Rezensionen gelobte "echte, ernsthafte und politische Tiefgang" reißt es dann auch nicht heraus, zumindest habe ich diesen nicht in gleichem Maße empfunden. Ebenso entspreche ich nicht der Einschätzung vom 'Einstein-Mädchen' als "Unterhaltungsroman auf hohem Niveau". Hätte er dies, erschiene das Ende weniger konstruiert und mehr plausibel.

Fazit: Unterhaltungsroman mit historischem Hintergrund und ein wenig Berliner Lokalkolorit, von dem ich mir mehr erwartet hatte.

 Philip Sington
 Das Einstein-Mädchen

 Deutscher Taschenbuch Verlag
 (2012)
 464 Seiten
 9,95 Euro

Montag, 10. Dezember 2012

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich...

Um auch gleich bei den untreuen Ehefrauen zu bleiben (vgl. Effie Briest aus dem letzten Beitrag), darf in dieser Rubrik natürlich auch nicht Tolstois 'Anna Karenina' fehlen. Insbesondere da gerade auch eine Neuverfilmung in den Kinos anläuft, sollte man wieder einmal die Werbetrommel für das zugegebenermaßen umfangreiche literarische Werk rühren, dessen gut 1200 Seiten ihren bedeutungsschwangeren Tribut zollen. Also nichts für zwischendurch aber perfekt für die Zeit zwischen den Jahren, auch wenn diese Zeit für die ausschweifenden Tolstoischen Erzählarabesquen recht knapp bemessen scheint. Aber schon der erste Satz dieses Werkes ist ein ganz besonderer. Wusstest Ihr übrigens, dass er in Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' zitiert wurde?


Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.
...und damit ist schon viel über die Geschichte gesagt. Wir wissen ja, dass untreuen Ehefrauen in der mitunter moralintriefenden Literatur des 19. Jahrhunderts ein ganz bestimmtes Schicksal beschieden war. Das ist ähnlich wie mit dem Untergang der Titanik. Wir alle wissen wie es endet. Trotzdem fasziniert uns die Geschichte immer wieder aufs Neue.

Leo Tolstoi: Anna Karenina, Erstausgabe 1878.

Eine komplette Rezension zu Leo Tolstois 'Anna Karenina' gibt es hier bei den Damen von leselink.de.

Mittwoch, 28. November 2012

In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm....

Es ist einer DER Klassiker, wenn es um das Thema "gelangweilte Ehefrau hat eine Affaire, die sie noch bereuen wird" geht. Doch während Flauberts 'Madame Bovary' keinen Ausweg aus ihrem Dilemma mehr sieht und sich selbst mit Gift das Leben nimmt, steht Fontanes Titelheldin 'Effie Briest' dem Leben weitaus positiver gegenüber. Aber auch Fontane ist noch gebunden in den Zwängen seiner Zeit und gibt dem Roman ein etwas moralinsaures Ende. Tatsächlich soll ein aus Liebe und Eifersucht heraus geführtes Pistolenduell auf der Berliner Hasenheide, in dem sich am 27. November 1886 Richter Emil Hartwich und Baron Armand Léon von Ardenne gegenüberstanden, die Vorlage zu Fontanes Roman geliefert haben nach einer Affäre Hartwichs mit Ardennes Ehefrau Elisabeth. Richter Hartwich starb am 1. Dezember an den Folgen der im Duell erlittenen Schusswunde. Man mag von Fontane halten was man will, Hauptsache, man setzt sich einmal mit ihm auseinander und bildet sich seine eigene Meinung, da er ein Fenster in dieses ferne 19. Jahrhundert öffnet, das uns heute trotz unenthaltsamer Medienberieselung so fremd geworden ist. Ein guter Freund nannte Fontane auch schon einmal den "am meisten überschätzten deutschen Autor", aber seine Effie Briest ist wirklich einer der Romane, die man kennen sollte. Alleine schon der erste Satz zeigt, dass Fontane alles andere als ein 'Action'-Schriftsteller war, sondern sich viel Zeit ließ - manchmal für meinen Geschmack auch ein wenig zu viel - um die Szenerie eingehend exakt, mitunter auch für den Fortgang der Geschichte viel zu detailliert, zu schildern...

"In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetzten Rondell warf. "

Theodor Fontane, Effie Briest, Erstausgabe 1896,

Donnerstag, 22. November 2012

Der Zeit pfuscht man nicht ins Handwerk - Stephen King 'Der Anschlag'

Staunen, ja sogar Entsetzen schlug mir entgegen, als ich verkündete, was ich mir da als neuen Lesestoff auserkoren hatte. "Also das hätte ich jetzt nicht von Dir gedacht...". Zugegeben, es ist bestimmt schon mehr als 20 Jahre her, dass ich meinen letzten Stephen King, den Horror-Klassiker "Es" gelesen habe. Seither hatte sich mein Interesse an der Literatur doch etwas verlagert. Aber als ich eine nahezu als enthusiastisch zu bezeichnende Rezension in der Zeit gelesen hatte - bei der Zeit muss man ja schon zufrieden sein, wenn sie ein - zumindest für mich - halbwegs lesbares literarisches Werk nicht ausschließlich nur niedermacht - wurde ich doch neugierig. Insbesondere da es bei diesem Roman um das Thema Zeitreisen gehen sollte, war ich gespannt, wie sich der von seinen Jüngern hochverehrte Meister der Horror-Bestseller-Literatur diesem für ihn eigentlich unüblichen Thema widmen würde...

Man beginnt also in den ersten Seiten vor sich hinzulesen und merkt recht schnell, wie einen die Geschichte in ihren Bann zieht. Fesselnd schreiben kann er ja. Nun, ob Sie's glauben oder nicht, Jake Epping, seines Zeichens Englischlehrer in der Erwachsenenbildung, wird von seinem krebskranken Freund Al Templeton, dem Besitzer eines alten Diners, in ein unglaubliches Geheimnis eingeweiht. Die Stufen hinab in den Vorratskeller von Als Schnellrestaurant führen geradewegs in die Vergangenheit des Jahres 1958, und zwar genau zum 9. September, 11.58 Uhr. Und das tun sie anscheinend immer wieder. Egal, wie lange man sich in der Vergangenheit aufhält, in der Gegenwart vergeht immer nur ein kurzer Augenblick. Geht man die Stufen wieder hinab, landet man in der selben Zeit und stets an der selben Stelle. Aber was passiert, wenn man auf diese Vergangenheit einwirkt und diese verändert, und zwar so, dass es unweigerlich Auswirkungen auf die Gegenwart haben muss...?

Dieser Frage widmen sich zahlreiche Autoren von Zeitreisegeschichten und lösen die dadurch verursachten Paradoxa im Ursache-Wirkungsgefüge unseres Raum-Zeit-Kontinuums einmal mehr oder weniger elegant. Üblicherweise folgen die Autoren dabei einem dieser drei Schemata:
  1. Unveränderliche Zeitlinie: Bei dieser Variante kann sich der Zeitreisende anstrengen, wie er will, er schafft es einfach nicht, den Strom der Zeit zu verändern, da immer irgend etwas dazwischen kommt. Entweder "wehrt" sich die Zeit, oder die Taten des Zeitreisenden haben auf den Fluss der Zeit keine weiteren schwerwiegenden Auswirkungen - wie ein kleiner Zweig, der in einen Strom fällt, diesen nicht veranlasst, sein Bett zu verlassen.
  2. Dynamische Zeitlinie: Der Zeitreisende verändert den Lauf der Zeit und damit seine ursprüngliche eigene Gegenwart. Hier treten Paradoxa auf, wie z.B. der Versuch, seine eigenen Vorfahren zu ermorden, so dass der Zeitreisende selbst nie geboren worden wäre und auch nie die Zeitreise angetreten hätte und daher auch nie seine Vorfahren hätte umbringen können.
  3. Multiversum: Jeder Zeitreiseversuch des Zeitreisenden zurück in die Vergangenheit erschafft ein neues (paralleles) Universum. Dort haben die Taten des Zeitreisenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Zeit, allerdings wirken sie nicht in seinem ursprünglichen Universum, das parallel zum neugeschaffenen Universum besteht.
Aber keine Angst. Wir werden hier nicht in esoterische theoretische Physik verfallen, sondern werden uns weiter der Geschichte widmen. Und Stephen King versteht es, das Thema auszureizen und lässt seine Protagonisten auf die Idee kommen, die Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 in Dallas zu verhindern. Zumindest ist das der Plan. Während Al an der Aufgabe aufgrund seiner Erkrankung scheiterte, gibt er den Staffelstab an Jake weiter. Nachdem Jake sich überzeugt konnte, dass sich die Gegenwart tatsächlich verändern lässt (dynamische Zeitlinie), muss er aber erst noch gut 5 Jahre in der Vergangenheit verbringen. Diese 5 Jahre sind das eigentliche Hauptthema des Romans. Dabei versucht Jake zunächst eine Gewalttat in Derry, zu verhindern, einer Stadt, die dem geneigten Leser als Schauplatz des Bestseller-Romans "Es" bekannt sein dürfte. Mit gefälschten Papieren und Tips für Sportwetten aus der Gegenwart gerüstet - 'Zurück in die Zukunft' lässt grüßen - verschlägt es Jake an die Schule in einer texanische Kleinstadt, wo er in Ruhe das sich anbahnende Attentat abwarten möchte. Übrigens ist das 1.000-Seiten Buch angefüllt mit Cameos, Zitaten und Selbstzitaten Kings. Aber so einfach der Plan anfänglich auch erscheint, lässt sich die Vergangenheit doch nicht so einfach verändern. Natürlich kennt Jake den gesamten Ablauf des Attentats, den Täter Lee Harvey Oswald und dessen Vorbereitungen, die ihm sein Freund Al minutiös aufgezeichnet in einem Buch überlassen hat. Aber die Zeit wehrt sich immer wieder auf ihre eigene Weise mit aberwitzigen Zufällen oder ungeplanten Unfällen.

Alles hängt mit allem zusammen, das soll einem die Lektüre dieses Buches verdeutlichen. Dabei geht es nicht nur um den vielzitierten Schmetterlingseffekt, bei dem der Flügelschlag eines Schmetterlings durch eine ungeahnte Verkettung von Ursache und Wirkung auf einem anderen Kontinent einen Orkan auslösen kann. Nein, auch Stephen Kings Werk wird in diesem Buch immer wieder zitiert und aufgegriffen. Und da vieles in seinen Büchern Kings persönlicher Biografie entnommen ist, führt uns dieses Buch irgendwie auch durch die Stationen der Lebenswelt seines Autors. Aber vor allen Dingen liest es sich unterhaltsam und spannend. Aufgrund seiner Länge ist es sicher nicht als Gute-Nacht-Lektüre geeignet, die man in kurzen 20-30 Seiten Häppchen liest, sondern verlangt nach einigen Regenwetter-Urlaubstagen, an denen man sich mit einer schönen Tasse Tee in den Seiten der unglaublichen Geschichte verlieren kann. Ich hatte ja so meine Bedenken, ob sich King am Ende aus der Paradoxie-Falle seines Zeitreisekonstrukts zu retten versteht, aber er hat es tatsächlich geschafft und hat die Geschichte zu einem schlüssigen Ende geführt.

Fazit: Großes Kino, spannend geschriebene, wohlrecherchierte und gut durchdachte Geschichte. Lesen!

Weitere Zeitreiseromane im Biblionomicon:
Stephen King
Der Anschlag

Heyne, 2011
1056 Seiten
26,99 Euro



Montag, 12. November 2012

Weit draußen in den unerforschten Einöden...

Ein weiterer Beitrag in der Rubrik "berühmte erste Sätze" führt und diesmal zurück zu einem Buch, dass ich irgendwann Anfang der 1980er Jahre zum ersten Mal gelesen habe...


"Weit draußen in den unerforschten Einöden eines total aus der Mode gekommenen Ausläufers des westlichen Spiralarms der Galaxis leuchtet unbeachtet eine kleine gelbe Sonne. Um sie kreist in einer Entfernung von etwa achtundneunzig Millionen Meilen ein absolut unbedeutender kleiner baugrüner Planet, dessen vom Affen stammenden Bioformen so erstaunlich primitiv sind, daß sie Digitaluhren noch immer für eine unwahrscheinlich tolle Erfindung halten."

Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis, Ullstein (1984)

Mehr muss man zu diesem Klassiker auch nicht sagen ;-) Ich habe das Buch bevor lange bevor es richtig populär geworden ist in der Stadtbücherei entdeckt und an einem schwülwarmen Sommerferientag am Baggersee liegend in einem Rutsch durchgelesen. Ich muss damals einen ziemlich schrägen Eindruck bei den anderen Badegästen hinterlassen haben, da dieser seltsame Junge mit seinem Buch mehrfach unvermittelt immer wieder in Lachkrämpfe verfiel...