Montag, 29. August 2011

Zwischen Pornografie und antiker Tragödie - Jonathan Littell 'Die Wohlgesinnten'


Zwischen Pornografie und antiker Tragödie scheint nur ein schmaler Grat zu liegen. Dies zumindest legt meine zugegebenermaßen ungewöhnliche Urlaubslektüre von Jonathan Littells umstrittenen Erfolgsroman 'Die Wohlgesinnten' nahe. Erzählt wird dabei die fiktive autobiografische Geschichte von SS-Obersturmbannführer Dr. Maximilian Aue, promovierter Jurist, polyglott, humanistisch gebildet, und unmittelbar an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt, die er uns Lesern aus erster Hand - und dazu aus Sicht des Täters - schildert. Das fast 1400 Seiten starke Werk dominierte aus literarischer Sicht meine letzte Urlaubswoche und hat mich ungleich stärker als manch' anderes Buch der letzten Zeit beschäftigt und zum Nachdenken gebracht...
"Ihr Menschenbrüder, lasst euch erzählen, wie es gewesen ist. Wir sind nicht deine Brüder, werdet ihr antworten, und wollen es auch gar nicht wissen." (Seite 9)
Aber wie stellt man es an, ein derartiges Werk unvoreingenommen zu beurteilen? Der Holocaust aus Tätersicht beschrieben ist zwar nicht ganz neu (vgl. Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf), aber dieser Täter tritt hier ungleich zivilisierter, kultivierter und gebildeter auf, als man ihn aus den einschlägigen Medien kennt. So beherrscht er Latein und Altgriechisch, spricht fließend Französisch, liebt Couperin und Bach, diskutiert über mittelalterliche Philosophie und liest Klassiker der französischen Romantik im Original. Dadurch bietet er auch für den heutigen 'Kulturbürger' genügend Raum zur Identifikation, dem Jonathan Littell aber gezielt immer wieder den Boden unter den Füßen entreißt, sobald er die mit Krieg und Holocaust verbundenen Grausamkeiten bzw. die perversen sexuellen Phantasien des Protagonisten minutiös schildert.
"Ich lebe, ich tue, was mir möglich ist, so geht es jedem, ich bin ein Mensch wie jeder andere, ich bin ein Mensch wie ihr. Hört mal, wenn ich es euch doch sage: Ich bin wie ihr!" (Seite 39)
Doch erst einmal zur Handlung: Dr. Maximilian Aue, Jahrgang 1913, mittlerweile Direktor einer französischen Textilfabrik zur Spitzenherstellung schreibt die Geschichte seines Lebens, deren Schwerpunkt seine Zeit als SS-Offizier im 2. Weltkrieg bildet. Die Erinnerungen an seinen Vater, der als Freikorps-Mitglied in den Wirren nach dem 1. Weltkrieg verschwand, erscheinen nur noch als blasse Kindheitserinnerungen. Seine Mutter Heloise, eine Französin, lässt den Vater für Tod erklären, um den reichen Franzosen Aristide Moreau zu heiraten und zieht mit Max und seiner Zwillingsschwester nach Antibes an die französische Mittelmeerküste. Diesen 'Verrat' an seinem Vater wird Max seiner Mutter niemals verzeihen.
"Ein Mann mit Überzeugungen? Das war ich früher sicherlich, doch wo war sie heute, die Klarheit meiner Überzeugungen? Zwar konnte ich meine Überzeugungen noch wahrnehmen, sie flatterten leise um mich herum, aber wenn ich versuche, eine von ihnen zu greifen, entglitt sie meinen Fingern wie ein nervöser, glittschiger Aal." (Seite 665)
Mit seiner Zwillingsschwester Una (lateinisch: Die 'Eine') entwickelt sich während des Heranwachsens ein inzestiöses Verhältnis, das von den Eltern entdeckt wird. Max kommt auf ein Internat und ist dort sexuellen Übergriffen der älteren Mitschüler ausgeliefert. Aus Trotz und aus Hass gegenüber seiner Mutter tritt er später in die SS ein. Während seine Schwester in der Schweiz Psychologie bei C.G. Jung, dem Begründer der analytischen Psychologie, studiert, promoviert Max in Berlin als Jurist. In der SS ist Max gezwungen, seine homosexuellen Neigungen zu verbergen. Sein ständiges Junggesellendasein wird ihm noch manche Rüge, selbst vom Reichsführer der SS Heinrich Himmler eintragen.

Den Krieg erlebt Max an zahlreichen Schauplätzen in nahezu ganz Osteuropa. Wir finden ihn im Kaukasus, auf der Krim, in der Ukraine. Er ist mit dabei in Babyn Jar, in Stalingrad, in Auschwitz und im Untergang Berlins. Hier ist er aktiv als SS-Offizier an der Vernichtung der Juden beteiligt und erledigt dienstbeflissen seine Aufgaben, ohne dabei allzu offensichtliche Brutalität an den Tag zu legen -- und das ist eigentlich auch das Erschreckende daran. Littell verflicht hier genaue historische Recherche mit einer fiktiven Lebensgeschichte und führt dem Leser Organisationsstrukturen und -abläufe des Grauens unmittelbar und im Detail vor Augen.
"Die Notwendigkeit ist, wie bereits die Griechen wussten, nicht nur eine blinde, sondern auch eine grausame Göttin." (Seite 824)
In Stalingrad verwundet besucht Aue seine Eltern auf Genesungsurlaub in Frankreich. Der Hass auf seine Mutter, in den er sich während des Krieges hineingesteigert hatte, entlädt sich im Mord, an den er selbst aber keine Erinnerung mehr hat. Er erwacht am Morgen nackt in seinem Bett und entdeckt den Stiefvater mit der Axt in der Brust und seine Mutter erwürgt. Überstürzt flüchtet er zurück nach Berlin. Aber die Tat lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Die Kriminalpolizei nimmt Ermittlungen auf und schnell verheddert sich Aue trotz der Protektion seiner Vorgesetzten immer tiefer. Die beiden Kriminalbeamten Clemens und Weser verfolgen den Obersturmbannführer fortan wie die griechischen Rachegöttinnen selbst in den unglaubwürdigsten Situationen, wie z.B. bei der Auflösung des Konzentrationslagers Ausschwitz beim Anrücken der Roten Armee oder im Endkampf um Berlin. Auch wenn Max Aue am Ende den Krieg überleben wird, wird ihn die Tat des Muttermordes wie auch seine ungesühnte Beteiligung am Holocaust Zeit seines Lebens nicht mehr zur Ruhe kommen lassen.
"Die Katastrophe war bereits eingetreten, und sie bemerkten es nicht, denn die Katastrophe ist der Gedanke an die bevorstehende Katastrophe, der alles Gute noch vor Eintritt des Unheils verdirbt."(Seite 620)
Ich hatte mich erst relativ spät nach Beginn der Lektüre gefragt, warum der Roman diesen seltsam anmutenden Titel 'Die Wohlgesinnten' trägt. Der Titel bezieht sich auf den letzten Teil der Orestie des Aischylos, der Jonathan Littells Roman nachempfunden ist. Der griechische Held Agamemnon wird von seiner Frau Klytaimnestra und ihrem Liebhaber bei seiner Rückkehr aus dem trojanischen Krieg ermordet. In gleicher Weise wähnt Aue seine Mutter und ihren neuen Mann am Tod seines Vaters verantwortlich. Orest, Agamemnons Sohn, tötet seine Mutter und deren Liebhaber und wird fortan von den Rachegöttinnen, den Erinyen, verfolgt. Diese Rolle der Erinyen übernehmen die beiden Kriminalbeamten Clemens (lateinisch: Der 'Sanfte') und Weser, die Aue fortan auf der Spur sind und diesen nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Während Orest von der Göttin Athene beschützt wird, in deren Tempel er sich flüchtet und der es letztendlich gelingt, die Erinyen zu besänftigen, wird Aue von den SS-Oberen protegiert.

Um die historischen Tatsachen weiter zu verfremden, treten zwei fiktive Industrielle -- Dr. Mandelbrot und Herr Leland -- als Aues Gönner auf, wobei Dr. Mandelbrot auch durchaus als genialer Schurke eines James Bond Films durchgehen könnte, in Anbetracht seiner seltsamen Vorliebe für Katzen und seinen blonden, sich einander zu stark ähnelnden, walkürehaften Assistentinnen in SS-Uniform, die sich Max Aue -- wenn auch vergeblich -- in Liebesdingen andienen. Mandelbrot wird geschildert als nahezu bewegungsunfähiger Mann von immenser Leibesfülle, der mit Hilfe eines Elektrorollstuhls bewegt wird, und der unter zunehmender Flatulenz leidet. Sein Einfluss auf die NS-Politik scheint enorm und nach Kriegsende wird er sein dunkles Spiel nahtlos in Moskau auf der Gegenseite fortsetzen.

Doch neben der fiktiven Romanhandlung steckt hinter allem die historische Realität, die minutiös, wenn auch oft nur im Vorbeigehen geschildert wird. Natürlich macht sich ein gebildeter Mensch wie Dr. Aue auch seine Gedanken zur Rechtfertigung der Aufgaben der SS und zur Judenfrage. Die kühle Distanziertheit und die sich scheinbar schlüssig ergebende Notwendigkeit in den Augen Aues verstört den Leser, der sich immer wieder fragt, wie er in der gleichen Situation denn gehandelt hätte.
"Mit einem Mal spürte ich das ganze Gewicht der Vergangenheit, den Schmerz des Lebens und des unerbittlichen Gedächtnisses, ich blieb allein[...]allein mit der Zeit und der Traurigkeit und dem Leid der Erinnerung, mit der Grausamkeit meiner Existenz und meines künftigen Todes. Die Wohlgesinnten hatten meine Spur wieder aufgenommen." (Seite 1359)
Es ist zu einfach, die Täter immer nur in die Ecke der pathologischen Gewaltmenschen rücken zu wollen. Schuld trägt jeder, der zur Tat beigetragen hat. Wo aber beginnt diese Schuld und wo hört sie auf? Inwiefern trägt der Befehlsempfänger die Schuld, der den Hebel zum Gashahn bedient hat, der wohl noch am direktesten an den Morden beteiligt war, im Gegensatz zum Weichensteller, der die Weiche des Zuges bedient hat, die diesen aus Deutschland nach Auschwitz gelenkt hat? Sind nur die Entscheidungsträger an der Spitze verantwortlich, die von den Befehlsempfängern ein 'Mitdenken im Sinne des Befehlsgebers' verlangt hatten? Die hier thematisierte Schuldfrage war für mich einer der nachdenklichsten Aspekte des Romans. Allerdings haben mich die vielfach wiederkehrenden, pornografisch anmutenden sexuellen Fantasien des Protagonisten bei der Lektüre mehr und mehr angewidert. Wahrscheinlich sind sie aber auch genau in diesem Sinne gedacht.

So gibt diese kurze Rezension eigentlich nur die 'Spitze des Eisbergs' zu einem umfangreichen und vielschichtigen Roman wider, in dem griechische Tragödie inklusive eines ansehnlichen Restes bürgerlichen Bildungskanons vermengt mit historischer Realität und pornografischen Gewaltfantasien zu einem gigantischen Mashup geraten.

Fazit: Ein gigantisches Werk, angesiedelt zwischen Bildungsroman und Pornografie. Nichts für jedermann, aber man sollte es gelesen haben!


Jonathan Littel:
Berlin Verlag (2008)
1392 Seiten
36,00 Euro






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