Samstag, 28. Januar 2012

Wie immer eine Verschwörung... - Umberto Eco 'Der Friedhof in Prag'

Nach der letzten für mich großen Enttäuschung in Sachen 'Romane von Umberto Eco', in der dieser von mir ausdrücklich hochwertgeschätzte Erzähler und Wissenschaftler die letztendlich nur für seine Zeitgenossen und gleichzeitig auch Landsmänner interessante Geschichte eines von Amnesie heimgesuchten Antiquars erzählte -- die mich übrigens beim Lesen zusehends langweilte -- war ich schon einmal gespannt darauf, was uns als nächstes aus der Feder des großen Ecos erwarten sollte. Ausgehend von den unbestritten großartigen Werken 'Der Name der Rose' und dem 'Foucaultschen Pendel' zeichneten seine Folgewerke in meinen Augen zusehends Mittelmäßigkeit bis Langeweile aus. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass nun nach den zahlreichen "Geschichten der Schönheit, Hässlichkeit, unendlichen Listen, usw." endlich wieder ein Roman angekündigt wurde, an dem der Meister nahezu ein ganzes Jahrzehnt gearbeitet haben soll.

"Schreibe über das, wovon Du etwas verstehst." So lautet der gut gemeinte Ratschlag an alle angehenden Autoren. Und diesem Motto ist Meister Eco in seinem neuesten Roman "Der Friedhof in Prag" treu geblieben, in dem minutiös die Geschichte einer weltweit bekannten und geschichtlich so fatalen Verschwörung erzählt wird, der Entstehung der "Protokolle der Weisen von Zion", einem antisemitischen anonym veröffentlichten Pamphlet, in dem angeblich die jüdische Weltverschwörung offenbart und aufgedeckt wird. Wie bei Eco üblich handelt es sich auch bei diesem Roman um ein Werk, dass aus dem professoralen Zettelkasten heraus entstand. So sind die meisten der zahllosen Figuren und Ereignisse der Handlung tatsächlich real und mit großer Akribie recherchiert. Doch zunächst einmal zur Geschichte selbst...  

Simonini, der sich gerne als "Capitaine Simonini" betiteln lässt, ist nichts anderes als eine Art 'Agent provocateur', ein geschickter Fälscher, der im Auftrag diverser Geheimdienste des 19. Jahrhunderts politische Beweisstücke fabriziert, mit denen die Machtinhaber der damaligen Zeit ihre Politik stützen und die gesellschaftliche Stimmungslage in ihrem Sinne beeinflussen wollten. Wir lernen Simonini bereits in früher Jugend kennen. Beeinflusst wird seine Gesinnung stark durch seinen antisemitisch eingestellten Großvater Giovanni Battista Simonini, der in einem Brief an Abbé Barruel, einem zeitgenössischen Verschwörungstheoretiker, die Ursache allen Übels den von ihm verabscheuten Juden in die Schuhe schiebt. Dieser Brief soll später noch zu einem wichtigen Puzzlestein werden im Gewebe der "jüdischen Weltverschwörung", die Jahrzehnte darauf in den Protokollen der Weisen von Zion kulminieren wird.

Simonini wird zunächst als Agent nach Sizilien geschickt, um Informationen über den italienischen Guerillakämpfer Garibaldi und seine Mitstreiter zu gewinnen. Der Auftrag gipfelt darin, den Verwalter der Kassenbücher Garibaldis unauffällig zu beseitigen, was Simonini mit Hilfe eines von ihm mit Hilfe einer Bombe herbeigeführten Schiffsunglücks gelingt. Doch schnell werden seine Fähigkeit als Fälscher von Dokumenten - zuvor war er bei einem Notar in die Lehre gegangen - als wesentlich hilfreicher erkannt. So wird er aus seinem Heimatland Piemont nach Frankreich geschickt, um dort den lokalen Geheimdienst gegen die Anarchisten zu unterstützen. Im Laufe seiner Fälscherkarriere schließt er so auch Bekanntschaft mit dem deutschen, dem türkischen und dem russischen Geheimdienst, entwickelt eine Persönlichkeitsspaltung und agiert zeitweise als Abbé Dalla Piccola, ist Mitverursacher der Dreyfus-Affäre, unterstützt und erfindet satanistische Bewegungen und Freimaurerverschwörungen, bis er schließlich basierend auf den Briefen seines Großvaters, den Romanen von Alexandre Dumas und weiteren Versatzstücken der zeitgenössischen Publizistik für den russischen Geheimdienst die Grundlage für die verhängnisvollen "Protokolle" schafft.

Zugegeben, es lässt sich die Fülle an historischen Fakten, die Eco in seinem Roman verarbeitet hat, nur schwer in Kurzform wiedergeben. Allerdings bewegt er sich hier auf einem auch für seine Leser gesichterten Grund wichtiger politischer Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Das italienische Risorgimento, Frankreich unter dem Bürgerkönig, die zweite Republik und das zweite Kaiserreich, dem deutsch-französischen Krieg, der Dreyfus-Affäre, die Bewegungen der Anarchisten, Kommunisten, etc. garniert mit weltweit bekannten Verschwörern wie den Freimaurern, den Jesuiten und seinem allgegenwärtigen "Feindbild", dem Judentum. Und man muss neidlos zugestehen, es ist ihm diesmal gut gelungen.

Der Roman fesselt trotz der unzähligen Figuren und Fakten durch den seltsamen Charakter des Protagonisten, der alle Stränge der Erzählung in sich zusammenführt. Dabei wechselt z.B. je nach Zustand der Verrücktheit Simoninis die Schrifttype des Textes. Er und sein schizophrenes Alter Ego Dalla Piccola schreiben ein wechselseitiges Tagebuch und helfen auf diese Weise dem Leser und auch Simonini selbst bei der Entwirrung der komplexen Fakten. Interessantes Detail am Rande: Simonini ist ein ausgesprochener Gourmet, der uns an seinen zahlreichen kulinarischen Ausschweifungen lustvoll teilhaben lässt. Besonders interessant ist auch das Zusammenfügen der einzelnen Bruch- und Versatzstücke geraten, aus denen sich die "Protokolle der Weisen von Zion" Stück für Stück zusammensetzen. Ausgehend von der Beschreibung einer Freimaurerversammlung bei Alexandre Dumas' 'Joseph Balsamo' über die Briefe des Großvaters, Zeitungsartikeln und den Visionen eines satanistischen (geisteskranken) Mediums (übrigens die einzige Frau unter den handelnden Personen) tragen unzählige Quellen zum Entstehen der Verschwörungsschriften bei. Allerdings empfehle ich auch hier, das Buch besser am Stück als häppchenweise vor dem Zubettgehen zu lesen, da man sonst schnell den Faden wieder verliert. Das Buch in der vorliegenden gebundenen Ausgabe ist sehr schön gestaltet. Insbesondere die zahlreichen Stiche, die selbst aus unterschiedlichsten Quellen stammen und hier zusammengetragen wurden, verleihen dem Werk den Charme einer typischen Abenteuererzählung aus dem vorletzten Jahrhundert, aus dem das Buch ja zu stammen vorgibt.

Fazit: Es ist ihm noch einmal gelungen, dem Großmeister aller Verschwörungstheoretiker, ein spannendes und vor historischen Fakten nur so wimmelndes Werk zu schaffen. Allen eingeweihten und hartgesottenen Fans wärmstens ans Herz gelegt wird Eco dadurch wahrscheinlich aber nur schwerlich neue Anhänger unter der Generation iPad gewinnen können. Trotzdem: LESEN!! 


Umberto Eco
Der Friedhof in Prag
Hanser Verlag (2011)
528 Seiten
26,00 Euro




Folgende Bücher kann ich dazu auch noch empfehlen:

Samstag, 21. Januar 2012

Verwegene Frauen - Liv Winterberg 'Vom anderen Ende der Welt'

Ich freue mich ganz besonders, heute meinen Lesern -- und das ist eine Premiere -- den ersten von hoffentlich noch vielen weiteren Gastbeiträgen präsentieren zu dürfen. Das Biblionomicon war ja nun lange genug meine 'Privatveranstaltung' und nach mehr als 5 Jahren und fast 150 Beiträgen ist es an der Zeit, auch einmal andere Stimmen Gleichgesinnter und Seelenverwandter zu Wort kommen zu lassen. Den Anfang macht heute Claudia, die ich im letzten Beitrag ja schon einmal erwähnt hatte, mit Liv Winterbergs historischen Roman 'Vom anderen Ende der Welt'. Als frisch promovierte Historikerin ('Religion und religiöse Memoria in den Statuten reichsstädtischer Zünfte vom Spätmittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Eine Exemplarische Untersuchung der Städte Dortmund, Essen, Lübeck, Oppenheim und Augsburg') ist Claudia natürlich prädestiniert, hier in der Abteilung historische Romane für neuen Wind zu sorgen und da sie auch lange Zeit im Buchhandel gearbeitet hat, saß sie ja gewissermaßen immer schon 'an der Quelle'. Also denn...

Als junge Frau hatte Mary Linley im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts nur eine Bestimmung: heiraten und Kinder gebären. Als ihr Vater stirbt scheint dieses Dogma in erschreckende Nähe zu rücken, doch Mary hat andere Pläne. Sie muss den geltenden gesellschaftlichen Konventionen entfliehen, um als Wissenschaftlerin zu arbeiten -- schließlich war sie von ihrem Vater als Botanikerin ausgebildet worden. Um der unausweichlichen Heirat zu entgehen, gibt sie sich als Mann aus und heuert als Zeichner auf einem Expeditionsschiff an. Auf der langen Reise nach Tahiti lernt sie schnell, wie unerbittlich und hart sich das tägliche Leben an Bord erweist und wie schwer es ist, den Schein ihrer männlichen Identität zu wahren. Auch der Leser erfährt dabei überaus Wissenswertes über das Leben auf hoher See und die Botanik der damaligen Zeit. Natürlich darf auch die Liebe in dieser Geschichte nicht fehlen, die sich zwischen Mary und Sir Carl Belham, dem Leiter der Expedition, entspinnt.

Und auch wenn sich zwischenzeitlich das Gefühl einstellt, etwas weniger Klischee hätte dem Roman gut getan, so ist er doch lesenswert, vernünftig recherchiert und unterhaltsam -- gut geeignet für einen verregneten Sonntagnachmittag auf dem Sofa. Versöhnlich hat mich schließlich doch auch gestimmt, dass die Geschichte tatsächlich auf einer historischen Vorlage basiert: 1766 brach der französische Weltumsegler Louis Antoine de Bougainville zu seiner drei Jahre dauernden Reise auf und gelangte dabei 1768 nach Tahiti. Mit an Bord befand sich der Botaniker Philibert Commerçon, begleitet von seinem Assistenten Jean Baré, alias Jeanne Baret -- einer Frau. Nur in Männerkleidung war es der ausgebildeten Botanikerin überhaupt möglich wissenschaftlich zu arbeiten und an einer Forschungsreise teilzunehmen.

Commerçon und Baret forschten fünf Jahre gemeinsam auf Mauritius und Madagaskar. Nach dem Tod Commerçons überführte Baret seinem Testament entsprechend, die gesamte Sammlung nach Frankreich, ordnete über 6000 Pflanzen in die bestehende Sammlung ein und leistete auf diese Weise einen der wichtigsten Beiträge zur Botanik des 18. Jahrhunderts. Noch heute ist die Sammlung im Muséum national d’histoire naturelle in Paris zu sehen. Während zahlreiche Pflanzen den Namen Commerçons tragen, wurde Baret diese späte Ehrung erst 2012 zuteil, indem ein neu entdecktes Nachtschattengewächs nun den Namen Solanum baretiae trägt.

Ich stelle mir, nachdem es zwischen Roman und Realität so viele Parallelen gibt, die Frage, warum Liv Winterberg sich nicht einfach vollständig an der historischen Person orientierte hat. Eine Biographie in Romanform mit ein wenig mehr Fakten zur historischen Jeanne Baret hätte ich sicher noch lieber gelesen.

Liv Winterberg
Vom anderen Ende der Welt
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv Premium)
448 Seiten
14,80 Euro








Weitere Leseempfehlungen zum Thema:

Sonntag, 15. Januar 2012

Und wieder eine Liebeserklärung an das Lesen - Marie-Sabine Roger 'Das Labyrinth der Wörter'

Wie schön ist es doch, ein Buch persönlich empfohlen zu bekommen, spart es einem doch oftmals viel Zeit und birgt so manche ungeahnte Überraschung. Daher vielen lieben Dank an unsere Freundin und passionierte Vielleserin Claudia, die mir dieses unauffällige kleine Büchlein unversehens in die Hand gedrückt hat. "Das hast Du in Null-komma-nichts durch und es wird Dir gefallen." Recht hat sie gehabt, und zwar mit beidem.
"Ein Wörterbuch ist nicht einfach nur ein Buch, Germain. Es ist viel mehr als das. Es ist ein Labyrinth...Ein großartiges Labyrinth, in dem man sich voller Glück verirrt."(Seite 137).
Marie-Sabine Roger stellt uns in "Das Labyrinth der Wörter" den mehr oder weniger einfältigen und "einfach gestrickten" Germain Chaze vor, der zwar nach außen hin seiner massigen Erscheinung wegen den "harten Kerl" mimt, aber in seinem Innersten doch eine Seele von einem Menschen ist. Er ist von zu Hause ausgezogen, lebt aber nur wenige Schritte vom Haus seiner Mutter entfernt in einem Wohnwagen, der im Garten steht. Für Gartenarbeit hat Germain auch ein Händchen und so duldet er auch seine ewig nörgelnde, leicht psychopathische Mutter, die ihn Zeit seines Lebens immer klein gehalten hat, wenn sie Germains mühevoll kultivierte Garten plündert. Germain hält sich mit kleinen Gelegenheitsjobs über Wasser und fristet ein eher tristes Leben, dessen seltene Höhepunkte den in Trinkgelagen mit seinen Freunden bestehen.

Eines Tages lernt Germain, während er im Park dem Taubenzählen nachgeht, die hochgebildete alte Dame Margueritte Escoffier kennen, die in einem nahen Altersheim lebt. Im Gespräch mit Margueritte kommt sich Germain zum ersten mal in seinem Leben richtig ernst genommen und als Mensch anerkannt vor. Und so entspannen sich zwischen diesem ungleichen Paar zarte Bande der Freundschaft, in deren Verlauf Margueritte dem von allen als tumben Toren betrachteten Germain beginnt vorzulesen und ihn so Stück für Stück durch das Labyrinth der Wörter führt.
"Als ich Margueritte begegnet bin, fand ich es erst kompliziert, mir Wissen anzueignen. Dann interessant. Und dann unheimlich, denn mit dem Nachdenken anzufangen ist etwa so, wie wenn man einem Kurzsichtigen eine Brille gibt. Alles ringsherum kam einem immer ganz okay vor - einfach weil es unscharf war. Und dann plötzlich sieht man die Risse, den Rost, die Mängel, alles, was bröckelt. Man sieht den Tod, die Tatsache, dass man alles eines Tages verlassen muss, und das nicht unbedingt auf die lustigste Art und Weise." (Seite 49)
Zuerst dachte ich, naja...wieder so eine (harmlose) Geschichte um einen liebenswerten tumben Trampel, der sich langsam zum Besseren entwickelt. Weit gefehlt. Das Buch bringt mehr Tiefgang mit als es auf den ersten Schein erkennen lässt. Dies liegt vor allem in der einfühlsamen Charakterzeichnung des Protagonisten Germains, der die Geschichte aus seinem eigenen Blickwinkel heraus mit seinen ureigenen Worten erzählt. Der Witz und die Ironie, die sich daraus oftmals ergibt, und die tiefen Einsichten in das manchmal allzu schwere menschliche Miteinander machen dieses Buch so liebens- wie lesenswert.
"Wörter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken einsortiert, um sie den anderen besser präsentieren und verkaufen zu können. Zum Beispiel gibt es Tage, wo man am liebsten auf alles und jeden einschlagen würde und dann doch nur einen Flunsch zieht. Dadurch könnten die anderen aber glauben, dass man krank oder unglücklich ist. Wenn man stattdessen mit Worten sagt: 'Geht mir bloß nicht auf den Sack, heute ist nicht mein Tag!'. dann vermeidet man solche Missverständnisse."(Seite 21)
Fazit: Allen, die nicht mit Scheuklappen durchs Leben gehen wollen, die Freude am Lesen haben und offen für ungewohnte aber durchaus wahre Blickwinkel sind, sei dieses kleine Büchlein wärmstens zum Lesen anempfohlen!! Lesen!

Marie-Sabine Roger
Das Labyrinth der Wörter
Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv), 2. Aufl. 2011
221 Seiten
9,20 Euro







Ich glaube, wem dieses Buch gefallen hat, dem gefallen auch folgende Bücher:

Sonntag, 8. Januar 2012

Viel Lärm um Nichts - T.C.Boyle 'Dr. Sex'

Zugegeben, es geht in dem Roman um die wohl 'wichtigste Sache der Welt', da Sex ja ohne jeden Zweifel zu den essentiell wichtigen Dingen unseres Lebens zählt und für den Fortbestand der menschlichen Rasse sorgt. Natürlich muss man auch nicht ständig darüber sprechen, auch wenn im vergangenen Jahrzehnt entsprechende, oftmals auf ein weibliches Publikum zugeschnittene US-Fernsehserien uns das Gegenteil nahelegen wollen. Doch es gab auch eine Zeit - und das ist noch nicht einmal so lange her - da war das Sexualverhalten unserer Artgenossen noch nicht einmal wissenschaftlich, d.h. statistisch untersucht worden. Aber das sollte sich schnell ändern und einer der dafür verantwortlichen Protagonisten war Dr. Alfred Charles Kinsey, der im Mittelpunkt des Romans 'Dr. Sex' von T.C. Boyle steht. Dabei macht der Autor klar, dass es sich um ein rein fiktionales Werk mit historischem Hintergrund handelt.

Alfred Kinsey ist von Haus aus eigentlich Zoologe, der seinen Forschungsschwerpunkt nach ausschöpfender Arbeit auf dem Gebiet der Gallwespen (von denen er Zeitlebens viele Tausende gesammelt hat), einem neuen, vielversprechenden Thema zugewandt hat: der Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens mit modernen Methoden der Sozialwissenschaft und der Statistik. Der Roman beginnt in John Milks letzten Jahr auf der Universität. Um an der populären Vorlesungsreihe 'Ehe und Familie' teilnehmen zu können, wird der schüchterne Student von einer campusweit begehrten Kommilitonin sogar extra zu einer 'vorgetäuschten Verlobung' überredet.
"Der Ehekurs...eigentlich eine Vorlesung mit dem Titel 'Ehe und Familie' wurde von Professor Kinsey von der zoologischen Fakultät und einem halben Dutzend seiner Kollegen aus anderen Fakultäten angeboten und war die Sensation. Es waren nur Professoren und Dozenten, verheiratete und verlobte Studenten sowie Doktoranden beiderlei Geschechts zugelassen. Insgesamt würden 11 Sitzungen stattfinden, von denen fünf den soziologischen, psychologischen, ökonomischen, juristischen und religiösen Aspekten der Ehe gewidmet waren...aber in Wirklichkeit [waren sie] nichts weiter als Dekoration für die 6 unverblümten Vorträge (unter Verwendung audiovisueller Hilfsmittel), die Prok über die Physiologie ehelicher Beziehungen halten würde." (Seite 18)
Milk - selbst noch Jungfrau - ist fasziniert von dem charismatischen Professor Kinsey, von allen kurz nur 'Prok' genannt, und als er gefragt wird, ihm seine eigene 'Sex-Geschichte' im Rahmen der von Kinsey geführten Interviews zur Verfügung zu stellen, zögert er nicht lange. Schließlich wird er zu Kinseys erstem Mitarbeiter im neuen Projekt, das Sexualverhalten Amerikas mit Hilfe vertraulich durchgeführter, massenhafter Interviews zu erforschen.

Zwischen Milk und Kinsey entwickelt sich eine stark von Kinsey dominierte Beziehung, die sich dabei nicht nur auf das Berufliche beschränkt und der sich Milk nie mehr gänzlich wird entziehen können. Kinsey fällt dabei ganz typisch in die Kategorie der genialen aber überaus 'durchgeknallten' (exzentrischen) Zeitgenossen, wie sie T.C.Boyles Werke bevölkern, und hält dabei jedem Vergleich mit dem Wellness-Propheten John Harvey Kellogg (Willkommen in Wellville) oder dem Architekten Frank Loyd Wright (Die Frauen) stand. Natürlich 'lebt' Kinsey seine Arbeit, d.h. er lebt ein sexuell freizügiges Leben ohne auf die Konventionen der gängigen Moralvorstellungen Rücksicht zu nehmen und verlangt dies auch von seinen Mitarbeitern. Ein Konflikt ist da natürlich vorprogrammiert, zumal John Milks Ehefrau Iris sich nicht den von Kinsey eingeforderten sexuellen Freizügigkeiten hingeben will.

Genie und Wahnsinn liegen ja bekanntlich nahe beieinander und in meinem eigenen akademischen Leben habe ich auch schon die Bekanntschaft des einen oder anderen genialen Wissenschaftlers gemacht, der ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legte. Damit meine ich natürlich nicht die speziellen 'sexuellen' Marotten Alfred Kinseys, sondern das oftmals einseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Professoren und Doktoranden und der alttestamentarischen Selbstherrlichkeit mancher Lehrstuhlinhaber, die ihre Mitarbeiter lediglich als Leibeigene betrachten, von denen sie verlangen, ihr ganzes Leben der Forschung unterzuordnen. Natürlich weiß ich selbst aus erster Hand, dass man für sein (Forschungs-)Thema 'brennen' muss, um Herausragendes leisten zu können. Aber man kann es eben nicht von jemanden erzwingen.

Aber zurück zu T.C.Boyles Roman, der sich überaus unterhaltsam lesen lässt. In gewisser Weise erlebt man Kinseys Aufstieg zum wissenschaftlichen Ruhm und internationaler Popularität mit den Augen seines fiktiven Mitarbeiters John Milk aus nächster Nähe kennen. Und da sich der Roman über mehr als ein Lebensjahrzehnt des Gehilfen hinzieht, erlebt man auch, wie dieser charakterlich reift und sich weiterentwickelt. Daher liest sich das Werk eigentlich auch wie ein typischer Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, aufgelockert durch die seltsam exzentrische Persönlichkeit des großen Forschers, in dessen Windschatten auch John Milk zu einem erwachsenen und selbstständigen Menschen heranreift. Allerdings fehlte dem Roman gegen Ende hin etwas der Spannungsbogen, so dass ich schließlich froh war, das letzte Drittel hinter mich gebracht zu haben.

Fazit: Wer das Leben eines Exzentrikers und des Auslösers der sexuellen Revolution quasi aus erster Hand kennenlernen möchte, dann nur zu ;-)



T. C. Boyle
Dr. Sex
Carl Hanser Verlag (2005)
472 Seiten
24,90 Euro







Links:



Dienstag, 3. Januar 2012

2011 - Ein Rückblick

'Look Back in Anger' (Blick zurück im Zorn) lautet der Titel eines alten (aber nicht minder guten) Films mit Richard Burton, in dem der große Schauspieler einen wunderbar wütenden jungen Mann verkörpert. Nein, im Zorn blicke ich nicht auf dieses Jahr zurück, in dem ich einige ganz wunderbare Bücher lesen durfte. Sollte ich mich etwas grämen, dann vielleicht nur darüber, dass ich mir nicht mehr Zeit zum Lesen genommen habe...

Hier also meine Jahresbestenliste mit den allerbesten Empfehlungen:


Platz 1:
Jonathan Littel: Die Wohlgesinnten

Sprachgewaltiger Bildungsroman über die Kriegserlebnisse eines hochgebildeten SS-Offiziers, der stets auf einem schmalen Grad zwischen der Pornografie des tatsächlich erlebten Schreckens und der Wucht einer antiken griechischen Tragödie dahinschlingert. Leser, mach Dich auf etwas gefasst. Kein leichter Stoff, aber ein überaus lesenswerter, wenn auch nicht für jedermann.
(Rezension vom 29.8.2011, 'Zwischen Pornografie und antiker Tragödie...')


Tiefgründige, leise erzählte Geschichte aus der amerikanischen Südstaatenprovinz der 1930er Jahre, in der die alltägliche Welt des Rassismus mit den Augen eines neun Jahre alten Mädchens erzählt wird, deren Vater einen unschuldig angeklagten Farbigen vor Gericht als Anwalt verteidigt. Klassiker, unbedingt zu lesen!
(Rezension vom 24.9.2011, 'Tiefgründig, anrührend und nostalgisch...')



Platz 3:
Eine Hommage und eine tiefe Verbeugung vor H.G. Wells und dem von ihm erfundenen literarischen Genre der Zeitreisegeschichten, in der nicht immer alles tatsächlich so ist, wie es zu sein scheint bzw. vorgibt zu sein. Letztendlich doch nichts anderes als eine große, aber wohldurchdachte und schön erzählte Liebesgeschichte. Ein 'Pageturner' erster Güte und auf alle Fälle eine Empfehlung für die nächste Urlaubslektüre!
(Rezension vom 5.6.2011, 'Eine Hommage an die Zeitmaschine...')


Platz 4:
Antal Szerb: Das Halsband der Königin

Die Geschichte vom größten Hofskandal des späten Anciéme Regimes um das sagenhafte Diamantenkollier Marie Antoinettes, dessen Verschwinden auch das Ende der Monarchie in Frankreich und den Vorabend der Revolution einläuten sollte. Großartig erzählte Geschichte!
(Rezension vom 14.6.2011, 'Auftakt zur Revolution...') 


Platz 5:
Charles Dickens: Das Geheimnis des Edwin Drood

Der wohl berühmteste Cliffhanger der (frühen) Kriminalgeschichte. Dickens' letzter, unvollendeter Roman, kongenial fortgeschrieben von Ulrike Leonhardt. Skurile Typen und Gestalten in Verbindung mit einer unvergleichlich schönen Sprache, stets mit einem feinen Augenzwinkern, genau das macht so viel Spaß an einem Dickens-Roman. Lesen!
(Rezension vom 28.12.2011, 'Die Mutter aller Cliffhanger...')


Natürlich gab es im vergangenen Jahr auch einige Flops, die ich an dieser Stelle nicht weiterempfehlen möchte, aber auf deren Rezension ich gerne verweise (zum Glück waren es nur zwei...):


Damit allen Lesern noch ein gesundes, erfolgreiches und spanendes Lesejahr 2012...und möglichst wenig Flops!

Mittwoch, 28. Dezember 2011

Die Mutter aller Cliffhanger - Charles Dickens 'Das Geheimnis des Edwin Drood'



Stirbt ein großer Autor, freut sich an erster Stelle der Buchhandel, da sein Lebenswerk mit einem Male in zahllosen Neuauflagen die Regale befüllt. Besonderes Interesse gilt dann meist auch der letzten 'Hinterlassenschaft' des Meisters. In ganz besonderem Maße spannend wird es, wurde der große Meister inmitten seines Schaffens dahingerafft und konnte dieses letzte Werk nicht mehr beenden. Dann startet je nach Stand der Werkvollendung der Interpretationszirkus, der uns eine Vielzahl möglicher guter oder schlechter Enden präsentiert. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, geneigter Leser, der literarische Gigant Charles Dickens starb und hinterließ sein letztes Werk unvollendet. Schlimmer noch: der letzte Dickens war zudem ein Kriminalroman ... und Kriminalromane leben nun einmal davon, ihr Publikum bis zum Ende der Geschichte meist im Dunkel über die wahre Identität des Täters und seiner Motive zu halten.

So hinterließ uns Charles Dickens ein unvollendetes letztes Werk, den Kriminalroman 'Das Geheimnis des Edwin Drood' und der Leser wird mitten in der Geschichte, die sich so spannend angelassen hat, alleine gelassen. Alle Fäden hängen in der Luft. Der Titelheld Edwin Drood bleibt verschwunden. Ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist - sein Schöpfer hat es uns nie verraten. Aber keine voreilige Panik. Die Nachwelt hat in den letzten 140 Jahren, die seit dem Erscheinen des Werkes vergangen sind, mehr als 40 alternative Versionen möglicher Vollendungen hervorgebracht, von denen die hier vorliegende Fassung von Ulrike Leonhardt Dickens Geschichte auf kongeniale Weise fortschreibt und zu einem gelungenen Ende führt.

Das Genre des Kriminalromans war noch recht jung, als sich Dickens 1870 entschloss, der neuen Mode zu folgen und selbst eine spannende Kriminalgeschichte zu schreiben, von der er 22 Kapitel bis zu seinem Tod vollenden konnte. Zentrale Figur der im englischen Cloisterham spielenden Handlung ist der junge Edwin Drood, der schon seit Kindertagen mit dem hübschen Internatszögling Rosa Bud verlobt ist. Beide, Edwin und Rosa sind Waisenkinder und Edwins Vormund ist der Cloisterhamer Kantor John Jasper, der Rosa Musikunterricht gibt und ebenfalls sehr eingenommen ist von dieser. Als die beiden Zwillinge Helena und Neville Landless als Neuankömmlinge in Cloisterham eintreffen, verliebt sich Neville Hals über Kopf in Edwins Verlobte und der Streit zwischen Neville und Edwin ist vorprogrammiert. Allerdings sind sich Edwin und Rosa schon längst darüber einig, ihre gemeinsame Verlobung aufzuheben, auch wenn beide damit eine mit ihrer Hochzeit verbundene hohe Erbschaft ausschlagen würden. Nevilles Vormund, der Hilfskanonikus Reverend Septimus Crisparkle setzt sich für eine Versöhnung der beiden Streithähne ein und arrangiert ein Versöhnungstreffen am bevorstehenden Heiligabend. Doch Edwin verschwindet noch in dieser Nacht auf mysteriöse Weise und alle Welt, allen voran sein Vormund John Jaspers, verdächtigen Neville des heimtückischen Mordes.

Und damit hätte uns Dickens jetzt alleine gelassen, wären da nicht die zahllosen Epigonen, die seine Geschichte zu einem jeweils mehr oder weniger glücklichen Ende führen sollten. Der Dickensianerin Ulrike Leonhardt gelingt mit ihrer ureigenen Version eine dem Original auf alle Fälle angemessene Auflösung, die dem Dickenschen Sprachniveau, seinen zahllosen Schilderungen und Metaphern in großartiger Manier das Wasser reichen kann. Zusätzlich bietet die wunderschöne Ausgabe von Manesse noch einen Anhang mit ausführlicher Werks-, Rezeptions und Fortsetzungshistorie, die den Roman abrunden. Wie immer bei Dickens ist der Plot bevölkert mit zum Teil skurilen Originalen, für deren minutiöser Schilderung er ja bekannt und zurecht berühmt ist. Der Übersetzung von Burkhart Kroeber gelingt es, diese Lebendigkeit des Dickenschen Sprachwitzes einzufangen und in das Deutsche hinüber zu retten. So können wir heute das Geheimnis von Edwin Drood lösen, das zu den wohl meistdiskutierten Werken Dickens zählt. So listet eine 1998 erschienene Bibliografie zu diesen in der Fachwelt als 'Droodiana' bezeichneten Arbeiten eine Liste von über 1.800 einschlägigen Abhandlungen auf.

Fazit: Berühmte unvollendete klassische Kriminalgeschichte, die letztendlich zu einem guten Ende geführt werden konnte. Pflichtlektüre! 


Charles Dickens
Das Geheimnis des Edwin Drood

aus dem Englischen übersetzt von Burkhart Koerber
Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt
Manesse Verlag Zürich (2001)
768 Seiten
24,95 Euro

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Ein Blick hinter die Fassade in den Abgrund - Léon Bloy 'Unliebsame Geschichten'

Ich möchte wetten, diesmal kennt kaum einer, der diese Beiträge liest den heute vorgestellten französischen Autor und Sprachphilosophen Léon Bloy, der es wie kaum ein anderer Autor verstand, mit seinen kurzen, skizzenhaften Erzählungen einen Blick hinter die bürgerlich-anständigen Fassaden zu werden und dahinter verborgene, seelische Abgründe ans Licht zu bringen. 'Der Mensch', so Bloy, dass sei ein 'Dämon, damit beauftragt, seine Mitmenschen zu quälen'...

Und ich hätte diesen heute nahezu unbekannten Autor sicher auch nie kennengelernt, hätte ihn Jorge Luis Borges nicht in seinen Kanon der phantastischen Literatur im Rahmen der 'Bibliothek von Babel' aufzunehmen, deren 4. Band ich heute bespreche. Das Bild, das wir heute vom Autor Léon Bloy haben, ist alles andere als ein sympathisches Bild. Ein ausgesprochener Antisemit und Fremdenhasser, der im Frankreich seiner Epoche das 'auserwählte Volk' zu erkennen glaubte. Dennoch hielt er der französischen Bourgeoisie einen Spiegel vor, der diese nur in den schwärzesten Farben widerspiegelt. Seine Geschichten - so meint auch Borges - erinnern geradezu an die dunklen Bilder Goyas. Die kleinen Geschichten des vorliegenden Bandes sind geradezu aufs wesentliche komprimiert und bitterböse. ;am könnte meinen, dass Roald Dahl in ihm sein Vorbild gefunden hätte, nur dass Dahl dabei immer noch einen gehörigen Funken Humor in seine Geschichten einfließen lässt.

So klappt es auch nicht, die kleinen Geschichten an dieser Stelle nachzuerzählen oder zu schildern, ohne ihnen die eigene Spannung oder die kuriose Wendung am Ende zu nehmen. Es geht um Verbrechen, Grauen, Heiligkeit, unmögliche Situationen, Mord als letzte Konsequenz, Prostitution und sogar Inzest, Verleumdungen, ungerechtfertigte Verdächtigungen und Wehleidigkeiten. So bleibt mir am Ende nur, dem Leser Bloys eigene Worte mit auf den Weg zu geben, bevor er sich tatsächlich an diese Lektüre wagt...
"Liebhaber anmutiger Gefühle sind aufgefordert, die Lektüre nicht fortzusetzen." (Seite 81)

Fazit: Absolut ungewöhnlich, bitterböse und mitunter fesselnd, Für Freunde des "schwarzen Humors" durchaus wohl geeignet.

Léon Bloy
Unliebsame Geschichten
aus Jorge Luis Borges (Hrsg.) 'Die Bibliothek von Babel'
Band 4
119 Seiten
17,90 Euro

Sonntag, 18. Dezember 2011

Traurige Hymne an das Lesen - Sam Savage 'Firmin - Ein Rattenleben'

Dies ist eine traurige Geschichte. Wer also hinter der Ratte 'Firmin', dem Protagonisten des gleichnamigen Romans des promovierten Philosophen, Tischler, Fischer, Drucker und Fahrradmechaniker Sam Savage eine ähnlich niedliche Geschichte vergleichbar mit dem Pixar-Film 'Ratatouille' erwartet, der geht leer aus, denn hier gibt es kein Happy End...

Also es geht um einen Roman, der eine Ratte ins Zentrum der Geschichte stellt und diese aus ihrer ureigenen Perspektive erzählt. Ja, richtig gehört, die Ratte erzählt uns die Geschichte und es ist kein Märchen für Kinder, sondern vielmehr ein Stück amerikanischer Lokalgeschichte, beginnend in den 1960er Jahren in der Stadt Boston. Firmin wird dort als 13. Junges einer übergewichtigen und alkoholabhängigen Rattenmutter im Keller einer Bostoner Buchhandlung zur Welt gebracht. Aber Firmin ist anders als seine Rattenbrüder und Rattenschwestern. Als letzter im Wurf kommt er stets zu kurz, wenn es darum geht, sich einen Platz an der Mutterbrust in Konkurrenz um die knappe Nahrung zu erkämpfen. Schließlich aber findet er Geschmack an den Seiten der Bücher im Keller der Buchhandlung und mit der Zeit muss er feststellen, dass Buchseiten nicht nur dazu dienen können, seinen Hunger zu stillen, sondern dass er dazu auch noch lesen kann. Sicher, das ist ungewöhnlich für eine Ratte, aber wenn man sich erst einmal damit abgefunden hat, dass es Firmin intellektuell in Sachen Literatur mit jedem Menschen aufnehmen kann und den meisten darin am Ende sogar überlegen ist (Firmin ist nicht nur mit einer Art photografischen Gedächtnis gesegnet, sondern beherrscht auch noch die Kunst, anspruchsvolle Literatur mit atemberaubender Geschwindigkeit zu lesen), dann kann die Geschichte auch funktionieren.

Kein Wunder also, wenn sich Firmin eher als Mensch, denn als Ratte fühlt. Allerdings ist ihm bewusst, dass er eine Ratte ist und dass Ratten bei den Menschen nicht gerade ein hohes Ansehen genießen. Dennoch gelingt es ihm mit der Zeit, sogar eine Art Freund unter den Menschen zu finden: den erfolglosen Schriftsteller und Außenseiter Jerry, bei dem er schließlich auch wohnt, nachdem er seinen Geburtsort, die Buchhandlung verlassen hat. Aber Jerry ist genauso wie Firmin ein ewiger Verlierer. Zwar liebt er seinen kleinen Freund, doch vermag er nicht dessen Genialität zu erkennen und hält ihn eben einfach "nur" für eine Ratte. So muss auch diese ungleiche Freundschaft letztlich tragisch enden. Die Melancholie von Firmins Geschichte wird begleitet von der Schilderung des allmählichen Verfalls des Bostoner Stadtviertels, in dem Firmins alte Buchhandlung liegt. Ebensowenig, wie dessen Untergang verhindert werden kann, sind auch Firmins Träume und sein Streben nach Höherem kläglich zum Scheitern verurteilt.

So traurig die Geschichte am Ende auch ist, so besitzt Firmin doch einen intelligenten, an Woody Allen erinnernden Sinn für Humor, der vom Autor durch beständige Literaturzitate unterfüttert wird. So gerät die tragische Geschichte schließlich zu einer Hymne an die Literatur und an das Lesen an sich, und man bekommt Lust, das ein oder andere der erwähnten Werke einmal wieder aus dem Bücherschrank zu nehmen und darin zu lesen. Persönlich hatte ich mir mehr von dem so viel gelobten Werk erwartet. Die Ratte als Identifikationsfigur eines intellektuellen Außenseiters wird sicher nicht bei jedem funktionieren. Dennoch spricht das Buch bestimmt auch die "Leseratten" unter uns an, so dass man trotz alledem auch ein wenig Vergnügen aus der melancholischen Lektüre ziehen kann.

Fazit: Ein ungewöhnlicher Roman mit zahlreichen literarischen Querverweisen um einen intellektuellen Außenseiter in Gestalt einer Ratte. Bestimmt nichts für jedermann... 

Sam Savage
Firmin - Ein Rattenleben
List Taschenbuch (2009)
280 Seiten
8,95 Euro

Samstag, 26. November 2011

Genial verknüpft - Sibylle Knaus 'Eden'

Diesmal habe ich längere Zeit darüber grübeln müssen, welchen Titel ich am besten über diesen Beitrag stellen soll. Werde ich präziser, wird der Titel viel zu lang und ich kann es mir eigentlich sparen dann noch etwas zum Inhalt des Buches zu erzählen. Also habe ich es diesmal einfach bei einer Kernaussage belassen, die zwar zutrifft, aber relativ wenig über den eigentlichen Inhalt aussagt. Tatsächlich vereint das Buch zwei verschiedene Bücher bzw. zwei ozeitlich sehr, sehr lange auseinanderliegende Handlungsstränge, die Sibylle Knaus, Professorin für Text und Dramaturgie an der Filmakademie Baden-Württemberg, hier phantasievoll und unterhaltsam miteinander verknüpft.

Wir schreiben das Jahr 1935. Auf einer Dinner-Party in Cambridge lernt die junge Studentin Mary den zu dieser Zeit bereits berühmten Archäologen Louis Leaky kennen und verliebt sich trotz zahlreicher Warnungen in den notorischen Frauenhelden. Allerdings ist Leakey bereits verheiratet und hat Familie. Dennoch folgt sie ihm nach Ostafrika in seine Heimat und es beginnt eine die beiden lebenslang verbindende Arbeits- und schließlich auch Lebensgemeinschaft. Dort in der afrikanischen Wildnis inmitten von nachts umherstreunenden Löwen, Hyänen und Schakalen schlagen sie ihr Zelt auf und begeben sich auf die mühevolle und akribische Suche nach den Spuren der Anfänge der Menschheitsgeschichte. Parallel zum Leben, Lieben und Arbeiten der beiden Leakeys -- Louis lässt sich schließlich scheiden und heiratet Mary -- erzählt Sibylle Knauss die Geschichte unserer Vorfahren in einer ursprünglichen und wilden Urwelt mit dem täglichen Kampf ums Überleben.

Zugegeben, die Geschichte der Leakeys mit der eigenwilligen und eigenbrödlerischen Mary und ihrem um einiges älteren Mann Louis, der die Finger nicht von den jungen Studentinnen lassen kann, die ihn auf Schritt und Tritt anhimmeln, ist schon interessant genug, hätte das Buch aber alleine nicht getragen, auch wenn immer wieder von den bahnbrechenden Entdeckungen des Forscherehepaares berichtet wird. Spannend wird es dann, wenn Sibylle Knauss aus einer Zeit berichtet, aus der uns außer einigen Knochenresten und Steinen nichts mehr geblieben ist, und sie ihre grenzenlose Phantasie bemüht, uns ein Bild von dieser nicht gerade paradiesischen Welt aus dem eigenen Blickwinkel ihrer Bewohner schildert, die zu Beginn noch nicht einmal über eine Sprache verfügen. Wie haben diese primitiven Hominiden gedacht, wie haben sie gefühlt, und wie haben sie eine Welt erlebt, in der die Suche nach Nahrung und der Kampf ums Dasein jeden Tag von Neuem gekämpft werden musste. So erleben wir den faszinierenden Vorgang der Menschwerdung Schritt für Schritt mit, parallel zu den stetig eskalierenden Ehedramen der Leakeys. An manchen Stellen hat Frau Knauss etwas zu dick für meinen Geschmack aufgetragen und der immer wieder durchschimmernde Pathos der Schöpfungsgeschichte scheint mir zu verklärt, aber alles in allem ist ihr mit diesem Buch ein ungewöhnliches, interessantes und zugleich unterhaltsames Werk gelungen.

Fazit: Urgeschichte und Ehedrama zugleich bilden eine überaus interessante und vorallem ungewohnte Form der Lektüre. Lesen!



Sibylle Knaus
Eden

Hoffmann und Campe (2009)
384 Seiten
22,- Euro

Montag, 21. November 2011

Der Schatten der Vergangenheit - Daphne du Maurier 'Rebecca'

Kennt ihr das auch: Sommerferien und Dauerregenwetter. Man sitzt als Kind zu Hause und hat keine Lust nach draußen zu gehen. Das 1000-Teile Puzzle im Keller ist bereits fertig gelegt, zu Monopoly, Malefitz, Kartenspielen oder Lego fehlt einem die Lust. Da wäre noch das Fernsehen. Vergesst bitte nicht, wir befinden uns in den 1970er Jahren und es gibt gerade einmal drei Fernsehsender - naja vier, wenn man DDR1 mitzählen möchte. Großartige Sache, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen extra ein "Ferienprogramm" am Vormittag sendete, um die Frau des Hauses (Papa ist auf Arbeit und ja, die Mutter folgt dem Rollenklischee und kümmert sich um Haushalt und Kindererziehung) zumindest von der Zwangsbespaßung des Nachwuchses zu befreien und zu entlasten. Genau in dieser Zeit liefen die Filme, die meine Kindheit prägen sollten. Üblicherweise waren sie Schwarzweiß, oder war das nur unser Fernseher damals? Da gab es Filme wie den 'König der Freibeuter', 'Des Königs Admiral', 'Hatari', 'Tollkühne Männer in ihren fliegenden Kisten' aber auch einmal mehr oder weniger anspruchsvolle Krimis und Thriller des Film Noir. Auf alle Fälle im Gedächtnis geblieben ist mir 'Rebecca', dieser spannende Thriller von Hitchcock, der so schön harmlos anfängt und dann zumindest für mich als Kind reichlich gruselig endete.

In 'Rebecca' erzählt Daphne du Maurier die Geschichte einer schüchternen jungen Frau, die als Gesellschafterin Mrs. Van Hopper, eine reiche ältere Dame, auf ihren Reisen begleitet. In Monaco lernt die die junge Frau abends im Hotel den wohlhabenden Witwer Maxim de Winter kennen. Der um einiges ältere Maxim findet Gefallen an seiner jungen Bekanntschaft und nach kurzer Zeit hält er vollkommend überraschend und nicht sonderlich romantisch um ihre Hand an. Nach den kurzen Flitterwochen nimmt er sie mit nach Manderley, dem herrschaftlichen Stammsitz der Familie de Winter. Doch ist die junge Frau der neuen Aufgabe als Schlossherrin über eine vielköpfige Dienerschaft nicht wirklich gewachsen. Dazu kommt, dass alles immerfort nur von Maxims erster Ehefrau, der verstorbenen Rebecca schwärmt. Allen voran die Haushälterin Mrs. Denvers, die der Dienerschaft vorsteht und Rebecca de Winter geradezu abgöttisch verehrt und glorifiziert. Sie kann es nicht ertragen, dass es eine neue Herrin auf Manderley geben soll und setzt alles daran, Maxims neue Frau zu demütigen und zu vertreiben. Doch es gibt ein dunkles Geheimnis, dass die schöne Rebecca umgibt, die damals bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen ist. Als dann bei einem Sturm ein Schiff auf eine nahegelegene Sandbank läuft, wird eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht und die Vergangenheit kommt Schritt für Schritt unweigerlich ans Licht...

Mit etwas Abstand betrachtet kann ich jetzt milder über den Roman urteilen, der mir zunächst an vielen Stellen klischeebehaftet und kitschig erschien. Man muss zugeben, die anfängliche Romanze in Monte Carlo, der gut erhaltene und unglückliche Witwer mit dem düsteren Gemüt, das unerfahrene, schüchterne und mitunter selten dämliche Mädchen. Naja, aber der Roman entwickelt sich und mit ihm seine Protagonistin, die die Geschichte aus der Perspektive des Ich-Erzählers im Rückblick aufrollt. Am Ende drehen sich die Rollenverhältnisse beinahe um und zwischendurch wird es bei der Auflösung des Rätsels auch richtig spannend. Hitchcock hatte den Film 1942 kongenial mit Laurence Olivier und Joan Fontaine in Szene gesetzt und auch wenn ich ihn vor fast 30 Jahren zum letzten Mal im Fernsehen gesehen habe, erinnere ich mich noch, wie er mich in seinen Bann gezogen hat. Der Roman dagegen ist etwas langsamer erzählt und manchmal möchte man der Protagonistin einen kräftigen Schupps in die richtige Richtung geben.
"Ich dachte, wie viele Menschen in der Welt wohl litten und nicht aufhörten zu leiden, weil sie dem Netz ihrer eigenen Scheu und Zurückhaltung nicht entrinnen konnten und statt dessen in ihrer törichten Blindheit eine hohe Mauer um sich herum errichteten, die ihnen die Wahrheit verbarg. Ich hatte das auch getan. Ich hatte Zerrbilder in meiner Phantasie geschaffen, von denen ich meine Augen nicht hatte abwenden können. Ich war nie mutig gewesen, um die Wahrheit zu fordern..."(Seite 321)
Fazit: eine Gratwanderung zwischen sentimentalem Kitsch und spannenden Film Noir, aber auf alle Fälle ein lesenswerter Klassiker des Genres. Lesen!


Daphne du Maurier
Rebecca
3. Auflage
Fischer Taschenbuch Verlag,
Frankfurt a. Main, 2011
480 Seiten

8,00 Euro