Mittwoch, 28. Dezember 2011

Die Mutter aller Cliffhanger - Charles Dickens 'Das Geheimnis des Edwin Drood'



Stirbt ein großer Autor, freut sich an erster Stelle der Buchhandel, da sein Lebenswerk mit einem Male in zahllosen Neuauflagen die Regale befüllt. Besonderes Interesse gilt dann meist auch der letzten 'Hinterlassenschaft' des Meisters. In ganz besonderem Maße spannend wird es, wurde der große Meister inmitten seines Schaffens dahingerafft und konnte dieses letzte Werk nicht mehr beenden. Dann startet je nach Stand der Werkvollendung der Interpretationszirkus, der uns eine Vielzahl möglicher guter oder schlechter Enden präsentiert. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, geneigter Leser, der literarische Gigant Charles Dickens starb und hinterließ sein letztes Werk unvollendet. Schlimmer noch: der letzte Dickens war zudem ein Kriminalroman ... und Kriminalromane leben nun einmal davon, ihr Publikum bis zum Ende der Geschichte meist im Dunkel über die wahre Identität des Täters und seiner Motive zu halten.

So hinterließ uns Charles Dickens ein unvollendetes letztes Werk, den Kriminalroman 'Das Geheimnis des Edwin Drood' und der Leser wird mitten in der Geschichte, die sich so spannend angelassen hat, alleine gelassen. Alle Fäden hängen in der Luft. Der Titelheld Edwin Drood bleibt verschwunden. Ob er einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist - sein Schöpfer hat es uns nie verraten. Aber keine voreilige Panik. Die Nachwelt hat in den letzten 140 Jahren, die seit dem Erscheinen des Werkes vergangen sind, mehr als 40 alternative Versionen möglicher Vollendungen hervorgebracht, von denen die hier vorliegende Fassung von Ulrike Leonhardt Dickens Geschichte auf kongeniale Weise fortschreibt und zu einem gelungenen Ende führt.

Das Genre des Kriminalromans war noch recht jung, als sich Dickens 1870 entschloss, der neuen Mode zu folgen und selbst eine spannende Kriminalgeschichte zu schreiben, von der er 22 Kapitel bis zu seinem Tod vollenden konnte. Zentrale Figur der im englischen Cloisterham spielenden Handlung ist der junge Edwin Drood, der schon seit Kindertagen mit dem hübschen Internatszögling Rosa Bud verlobt ist. Beide, Edwin und Rosa sind Waisenkinder und Edwins Vormund ist der Cloisterhamer Kantor John Jasper, der Rosa Musikunterricht gibt und ebenfalls sehr eingenommen ist von dieser. Als die beiden Zwillinge Helena und Neville Landless als Neuankömmlinge in Cloisterham eintreffen, verliebt sich Neville Hals über Kopf in Edwins Verlobte und der Streit zwischen Neville und Edwin ist vorprogrammiert. Allerdings sind sich Edwin und Rosa schon längst darüber einig, ihre gemeinsame Verlobung aufzuheben, auch wenn beide damit eine mit ihrer Hochzeit verbundene hohe Erbschaft ausschlagen würden. Nevilles Vormund, der Hilfskanonikus Reverend Septimus Crisparkle setzt sich für eine Versöhnung der beiden Streithähne ein und arrangiert ein Versöhnungstreffen am bevorstehenden Heiligabend. Doch Edwin verschwindet noch in dieser Nacht auf mysteriöse Weise und alle Welt, allen voran sein Vormund John Jaspers, verdächtigen Neville des heimtückischen Mordes.

Und damit hätte uns Dickens jetzt alleine gelassen, wären da nicht die zahllosen Epigonen, die seine Geschichte zu einem jeweils mehr oder weniger glücklichen Ende führen sollten. Der Dickensianerin Ulrike Leonhardt gelingt mit ihrer ureigenen Version eine dem Original auf alle Fälle angemessene Auflösung, die dem Dickenschen Sprachniveau, seinen zahllosen Schilderungen und Metaphern in großartiger Manier das Wasser reichen kann. Zusätzlich bietet die wunderschöne Ausgabe von Manesse noch einen Anhang mit ausführlicher Werks-, Rezeptions und Fortsetzungshistorie, die den Roman abrunden. Wie immer bei Dickens ist der Plot bevölkert mit zum Teil skurilen Originalen, für deren minutiöser Schilderung er ja bekannt und zurecht berühmt ist. Der Übersetzung von Burkhart Kroeber gelingt es, diese Lebendigkeit des Dickenschen Sprachwitzes einzufangen und in das Deutsche hinüber zu retten. So können wir heute das Geheimnis von Edwin Drood lösen, das zu den wohl meistdiskutierten Werken Dickens zählt. So listet eine 1998 erschienene Bibliografie zu diesen in der Fachwelt als 'Droodiana' bezeichneten Arbeiten eine Liste von über 1.800 einschlägigen Abhandlungen auf.

Fazit: Berühmte unvollendete klassische Kriminalgeschichte, die letztendlich zu einem guten Ende geführt werden konnte. Pflichtlektüre! 


Charles Dickens
Das Geheimnis des Edwin Drood

aus dem Englischen übersetzt von Burkhart Koerber
Fortgeschrieben und zu Ende geführt von Ulrike Leonhardt
Manesse Verlag Zürich (2001)
768 Seiten
24,95 Euro