Montag, 27. August 2012

Exzessiver Redeschwall und narrative Detailverliebtheit - Charles Brockden Brown 'Arthur Mervyn oder Die Pest in Philadelphia'

Er ist so eine Art Simplicius Simplicissimus mit einer Prise Felix Krull. Nie weiß man so genau, ob man ihm sein wohlmeinend naives Gutmenschentum abkaufen soll, oder ob er gerade dabei ist, uns über's Ohr zu hauen. Die Rede ist von Arthur Mervyn, dem Romanhelden von Charles Brockden Browns 1799 erschienenen Roman 'Arthur Mervyn oder Die Pest in Philadelphia', einem sehr frühen Stück amerikanischer Literatur. 

Ehrlich zugegeben, hatte ich bis vor kurzem noch nie etwas von Charles Brockden Brown (1771-1810) gehört. Aber im Zuge meines Interesses für die Gothic Novel stieß ich schon bald auf diesen Namen und seinen bei den Zeitgenossen populären und vielgelobten Schauerromanen. Allen voran der 'Wieland', begeistert gefeiert von Lord Byron, seinem Freund Percy Bysshe Shelley und seiner Frau Mary Wollstonecraft Shelley, die 20 Jahre später mit 'Frankenstein' ihr bis heute populäres Meisterwerk vorlegen sollte, dessen Idee in einer schaurig stürmischen Gewitternacht am Genfer See entstanden sein soll. 'Wieland' war Brockden Browns erfolgreichstes Werk, in dem er schildert, wie die Hauptperson, Theodore Wieland - ein (fiktiver) Verwandter des Schriftstellers Christoph Martin Wieland - durch einen Bauchredner in den Wahn getrieben und zum Mörder wird. Tatsächlich gilt Brockden Brown als einer der ersten amerikanischen Romanautoren, dem eine Schlüsselrolle beim Verständnis der Anfangsjahre der US-amerikanischen Republik zukommt. Zudem gilt er als der erste US-amerikanische Schriftsteller, der es tatsächlich schaffte, von seinen Büchern zu leben. Aber zurück zu Arthur Mervyn....

Vom akuten Gelbfieber gezeichnet wird Arthur Mervyn vom Erzähler der Geschichte, einem Arzt, auf der Straße aufgelesen und in dessen Heim gesund gepflegt. Ein Freund des Erzählers erkennt Mervyn und erhebt schwerwiegende Anschuldigungen, von denen sich Mervyn, der jetzt seine Geschichte erzählen wird, reinwaschen möchte. Dies bildet die Rahmenhandlung der folgenden Erzählung, die uns mit dem Leben des vom Lande stammenden, jungen und unerfahrenen Arthur Mervyn, bekannt machen soll, der in die ihm unbekannte Welt der Stadt im postrevolutionären Amerika gerät und dabei in allerlei bizarre Abenteuer verwickelt wird. Er gerät in die Dienste eines Betrügers und Mörders, was seiner Reputation keinen guten Dienst leistet. Er verliebt sich erst einmal in die falsche Frau, weist die Liebe einer anderen ab, und fängt sich dabei das in der Stadt wütende Gelbfieber ein. Dabei schildert Brockden Brown die Schrecken der Krankheit aus erster Hand, die er am eigenen Leib durchleben musste. Schlimmer noch als der Verlauf der Krankheit ist, wie die Gesellschaft mit dieser und deren Opfern umgeht. Brockden Brown schildert die unsäglichen Zustände der damaligen Hospitäler, die panische Flucht der Bevölkerung aufs Land, die nahezu verlassenen Städte, die rücksichtslosen Plünderungen und den allgegenwärtigen Tod.

Am Ende fügt sich natürlich alles irgendwie zum Guten und auch Arthur Mervyn findet die Liebe seines Lebens, auch wenn das alles zunächst gar nicht so einfach ist aufgrund von Standes- und Altersuntertschieden. Wahrlich, ein episches Werk mit verschlungenen Handlungspfaden, Unterpfaden, Um- und Irrwegen, das vom erzähltechnischen Standpunkt her betrachtet die Geister scheidet. Manche Kritiker sehen darin Brockden Browns Meisterwerk, andere werfen ihm eine schlampige Handlungsführung und mangelnde Handwerkskunst als Autor vor, verliert er sich doch gerne in narrativen Wucherungen, knüpft keinen roten Faden, legt seinen Figuren einen exzessiven Redeschwall in den Mund und lässt den Leser gerne verwirrt zurück.
"The numerous subplots of Arthur Mervyn defy summary, for they have neither beginning nor end...The threads of the plot are loosly held together, and the unity of the story is lost on detail piled on detail."(David Lee Clark, aus Pioneer Voice, p. 181)
Dabei zeichnet Brockden-Brown den Charakter Mervyns differenziert zwischen einfältigen, aber gutherzigen Bauerntölpel und dem auf den eigenen Vorteil bedachten Schlitzohr, dem man aber kaum etwas übel nehmen kann. So laviert er zwischen Grimmelshausens Simplicissimus (1668) und Thomas Manns  Felix Krull (1954), stets mit einem Seitenblick auf Laurence Sternes Tristram Shandy (1766).

Fazit: Episch wuchernder Entwicklungsroman aus dem frühen Amerika über das Glück, das Unglück und die seltsamen Abenteuer eines jungen Burschen, dem man kaum etwas abschlagen kann. Mit Längen aber ein durchaus lesbares Kulturgut.


Charles Brockden Brown
Arthur Mervyn
oder
Die Pest in Philadelphia

Diogenes (1999)
672 Seiten
aktuell nur antiquarisch erhältlich...


Samstag, 4. August 2012

Die verhängnisvolle Sucht nach Wissen - Honoré de Balzac 'Der Stein der Weisen'

Honoré de Balzac: Der Stein der Weisen
Globus Verlag, Berlin W66, ca. 1920
"Wer immer strebend sich bemüht, den wollen wir erlösen", so singt es der Chor der Engel am Ende von Goethes Faust. Auch wenn wir nicht zum Ziel gelangen, so ist es doch unser Streben nach dem höheren Ziele hin, das alleine schon zu lobpreisen ist. Der Weg ist das Ziel. So ist denn auch die Suche nach Wissen, meist konotiert mit dem edlen und guten Verlangen des Strebens nach Erkenntnis, ein Unterfangen, das kein festes, greifbares Ziel umfasst. Die Frage nach dem "warum?" lässt immer noch Raum für ein weiteres "warum?". Und nur allzu leicht kann es geschehen, dass dieses strebende Verlangen zur Manie und zur Sucht gerät. Wie jede Sucht, kann diese den Süchtigen, wie auch dessen Umfeld leicht ins Verderben führen.

Die großen und immerwährenden Themen der Menschheit sind es, die es Honoré de Balzac angetan haben, und die er in seiner auf ursprünglich über 90 Bänden und Erzählungen angelegten "menschlichen Kommödie" aufzugreifen gedachte. So auch die vergebliche Sucht nach Erkenntnis, mit der der flämische Chemiker Balthazar Claes Anfang des 19. Jahrhunderts seine Familie in Grund und Boden richten wird. Eigentlich war die Chemie Ende des 18. Jahrhunderts gerade dabei, sich von der Alchemie und ihrer jahrhundertealten Suche nach dem "Stein der Weisen" und der damit verbundenen Goldmacherei zu emanzipieren. War die Alchemie noch "die Kunst, gewisse Materalien zu höherem Sein zu veredeln, und zwar derart, dass mit der Manipulation der Materie auch der um ihr Geheimnis ringende Mensch in einen höheren Seinszustand versetzt werde", musste sie der modernen Naturwissenschaft weichen. Balzac setzte die Handlung seines Romans "Der Stein der Weisen" (auch als "Die Suche nach dem Absoluten" erschienen) in das bodenständische Flandern, um das undramatische an seinen Protagonisten herauszustellen, anstelle das mondäne Paris zu wählen. Balthasar Claes lebt also in der Provinz, ist aber durchaus ein moderner Chemiker, hat er doch bei Lavoisier und anderen Größen studiert. Er bestellt seine Laborausstattung bei den besten Herstellern und hält sich über die neuesten Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften auf dem Laufenden.

Angestachelt von einem in Kriegszeiten einquartierten Hausgast und Amateur-Chemiker gerät er auf die Suche nach dem chemischen Absoluten. Das "Absolute" ist aber nicht wie bei den mittelalterlichen Alchemisten der Stein der Weisen, sondern das allgemeine Prinzip, durch das sich Licht, Wärme, Elektrizität, Galvanismus und Magnetismus erklären lassen. Seine Versuche kreisen um die Umwandlung von Kohlenstoff in Diamanten basierend auf der Grundlage ihrer chemischen Gleichheit. Doch wird all sein Streben vergeblich sein. So verschleudert er das ehrbare Familienvermögen für seine zahllosen fruchtlosen chemischen Versuche. Seine hingebungsvolle und opferbereite Ehefrau eignet sich sogar chemisches Fachwissen an, nicht um ihren Mann bei seinen Versuchen zu unterstützen, sondern um ihn von seinem verheerenden Treiben abzubringen. Aber vergebens.
"Aber was ließ sich gegen die Wissenschaft tun? Wie sollte man ihre immerwährende tyrannische und stets wachsende Macht brechen.' Wie eine unsichbare Rivalin töten? Wie kann eine Frau, deren Macht durch die Natur begrenzt ist, gegen eine Idee kämpfen, die unbegrenzte Freuden gewährt und immer neue Reize besitzt?" (Seite 56)
Der Preis, den Balthazar Claes für seine Manie bezahlen muss ist hoch: Millionen von Francs wirft er in den Rachen der Laborausstatter, seine ihn liebende Frau geht daran zugrunde und stirbt, die Familie und seine Kinder stehen am Rande des Ruins. War er einst ein angesehener Bürger der Stadt Douai, ein liebevoller Familienvater und Ehemann, lässt ihn seine Besessenheit um den Erkenntnisgewinn seine komplette Außenwelt vergessen.
"Balthazar wurde von der Wissenschaft derart in Anspruch genommen, daß ihn weder das Unglück Frankreichs, noch der erste Sturz Napoleons, noch auch die Rückkehr der Bourbonen von seiner Beschäftigung abhalten konnten. Er war weder Gatte, noch Vater, noch Bürger, er war nur Chemiker." (Seite 142)
So erzählt uns Balzac hier die Familientragödie der Claes, ausgelöst durch eine wissenschaftliche Monomanie. Balthazar Claes reiht sich damit ein in die Reihe der "Mad Scientists", der verrückten Wissenschaftler - heute ein Stereotyp der Popkultur - die sich und ihre Umwelt ins Verderben stürzen. Allen voran auch Mary Wollstonecraft Shelleys neuer Prometheus Victor Frankenstein, der an der Ingolstädter Universität aus Leichenteilen den idealen Menschen schaffen wollte und sich sich damit anmaßte, Gottes Werk gleichzutun und bitter dafür bezahlen musste. Ebenso wie Claes war Frankenstein so von seiner Forschung eingenommen, dass er alle anderen Verpflichtungen vergaß und schließlich Freunde und Familie ins Unglück stürzen musste. Der Urvater aller verrückten Wissenschaftler aber liegt im Fauststoff begründet, dessen historisches Vorbild, der Magier Johann Faust in Goethes Drama zum viel studierten Gelehrten mutiert. Das faustische Verlangen, der Weg hin zur höchsten Erkenntnis, die sich mit den "erlaubten" Mitteln nicht bewerkstelligen lässt, führt dazu, dass er sich der schwarzen Magie verschreibt. Dieses Verlangen, sich über die geltenden Konventionen hinwegzusetzen und diese durch das Streben nach einem höheren Ziel zu legitimieren ist auch heute noch ein populäres Motiv, um den Wissenschaftler zu charakterisieren, der Allmachtsphantasien hegt und nach der Weltherrschaft strebt. Die Spur zieht sich weiter über Kubricks 'Dr. Strangelove' bis hin zur mutierten Labormaus 'Brain' aus der Cartoon-Serie 'Pinky and the Brain'.

Fazit: Archetypische Story eines Mad Scientists, dessen Manie seine Familie ins Verderben stürzt, erzählt von einem der größten Erzähler überhaupt. Kommt etwas altertümlich daher, ist aber auf alle Fälle lesenswert!


Bibliografie und Lesenswertes: