Sonntag, 22. August 2010

Großes Kino - Stendhal 'Die Kartause von Parma'


Wahrhaftig 'Großes Kino!' So und nicht anders würde ich diesen Roman Standhals zusammenfassen, wenn ich ihn in nur zwei Worten beschreiben sollte. Aber es gibt ja so viel mehr über diesen inhaltsschwangeren und facettenreichen großen Roman des 19. Jahrhunderts zu erzählen. Aber am besten erst einmal alles von Anfang an...

Vor gut drei Jahren hatte ich das Vergnügen, Stendhals "Rot und Schwarz" in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl zu lesen und zu rezensieren (damals noch in meinem Wissenschaftsblog 'more semantic...!'). Kurzum, ich war begeistert von diesem Roman, der Vielschichtigkeit und der lebhaften Schilderung der darin handelnden Charaktere, dass ich mich lange schon auf die Neuübersetzung von Stendhals letzten großen Roman 'Die Kartause von Parma' gefreut habe.

Die Handlung des Romans spielt in Italien, der 'Wahlheimat' des Autors Henri Beyle, der seine Werke unter dem Pseudonym 'Stendhal' veröffentlichte. Italien spielte für Stendhal immer eine ganz besondere Rolle. Als junger Mann lernte er es zuerst im Gefolge von Napoleons Italien-Feldzug kennen und später brachte er es sogar zum französischen Konsul in der Hafenstadt Civitavecchia im italienischen Kirchenstaat. Mit dieser 'italienischen Seite' hat er übrigens eine Gemeinsamkeit mit seinem älteren Zeitgenossen Johann Wolfgang v. Goethe, dessen 'Italienische Reisen' für ihn als Künstler prägend waren. Aber zurück zu unserem Roman...

Napoleon erreicht mit seiner Armee 1796 Oberitalien. Der Marchese del Dongo, ein Mailänder Adeliger im Dienste Österreichs muss in sein Schloss Grianta am Comer See fliehen. Seine Schwester, Gina del Dongo, schlägt eine lukrative Partie aus und heiratet zum Entsetzen ihres Bruders den mittellosen Grafen Pietranera, einen italienischen Parteigänger Napoleons. Fabrizio del Dongo ist der zweitgeborene Sohn des Marchese und seine Tante Gina ist in ihn vernarrt. Als Napoleon stürzt und nach Elba verbannt wird, wendet sich auch das Schicksal der Pietraneras: der Graf wird im Duell getötet. Der Marchese holt seine Schwester nach Schloss Grianta, wo sie von nun an großen Einfluss auf den jungen und hübschen Fabrizio, ihren Augenstern, ausübt.

(Gräfin Pietranera zu Fabrizio) "Sprechen Sie doch mit etwas mehr Achtung...von dem Geschlecht, dem Sie Ihr Glück verdanken werden; den Männern werden Sie nämlich missfallen, Sie haben zuviel Feuer für die prosaischen Seelen." (Seite 46)
Als die Nachricht eintrifft, Napoleon sei 1815 im Golf von Juan auf kontinentaleuropäischen Boden gelandet, kennt Fabrizios Begeisterung keine Grenzen mehr. Ausgerüstet mit den wenigen Mitteln seiner Mutter und seiner Tante macht er sich heimlich auf den Weg nach Paris, um mit seinem Helden Napoleon in die Schlacht zu ziehen. Aber so einfach gestaltet sich die Sache nicht. Der falsche Pass und sein fremdklingender Akzent sorgen schnell dafür, dass er für einen Spion gehalten und verhaftet wird. Nach einigen Irrungen und Wirrungen gelingt es ihm schließlich, sich bis nach Waterloo durchzuschlagen, wo er die große Entscheidungsschlacht erlebt, obwohl er sich am Ende gar nicht mehr sicher ist, ob es überhaupt eine Schlacht gewesen war.

Die Schilderung dieser das Schicksal Europas entscheidenden Schlacht aus Fabrizios Perspektive ist etwas völlig neues für die Literatur des 19. Jahrhunderts. Es werden keine großen strategischen Schlachtbewegungen geschildert, sondern vielmehr das durch und durch konfuse Hetzen, Flüchten, Plündern und Überleben am Rande des großen Geschehens, gesehen mit Farizios Augen, der über das Schlachtfeld irrt. Sicher sind wir heutzutage ganz Anderes gewöhnt, denkt man an Erich Maria Remarques 'Im Westen nichts Neues' oder an Filme wie 'Saving Private Ryan'. Aber für die Menschen des 19. Jahrhunderts war diese Art der Schilderung etwas bis dato Unerhörtes. Und so kann sich etwa auch Honoré de Balzac gar nicht wieder bremsen, wenn er Stendhals Schlachtenschilderung als einmalig und nie dagewesen preist.

Als Fabrizio nach Italien zurückkehrt, wird er von seinem Vater verflucht und von der österreichischen Regierung auf die 'schwarze Liste' gesetzt, weil er in die Verschwörung von 1815 gegen die Sicherheit Europas verwickelt war. Mit der Hilfe seiner Tante Gina, die jetzt ihren zurückgekehrten Helden vergöttert, gelingt es ihm im Piemont unterzutauchen. Im Rahmen dieser Flucht trifft Fabrizio auf General Fabio Conti, einem 'Operettengeneral' aus der Armee des Fürsten von Parma und dessen reizende Tochter Clelia, bei der unser heldenhafter Fabrizio einen nicht unbedeutenden Eindruck hinterlässt.

Die schöne, aber immer noch mittellose Gräfin Pietranera geht nach Mailand, wo sie Graf Mosca della Roverre, den ersten Minister des Fürsten Ernesto IV. von Parma kennenlernt, der sich unsterblich in sie verliebt. Graf Mosca wird als der ideale, aufgeklärte Diplomat geschildert und ist laut Balzac dem Vorbild Fürst Metternichs bis ins kleinste nachempfunden.

"...nehmen Sie zur Kenntnis, Fürst, dass es in diesem Jahrhundert nicht mehr genügt, von der Vorsehung die Macht zu erhalten, man braucht viel Geist und einen großen Charakter, um mit Erfolg Despot zu sein." (Seite 396)
Graf Mosca gelingt es, die Gräfin Pietranera zu überreden, zu ihm in das Fürstentum Parma zu kommen. Aber der Graf ist bereits verheiratet und an Scheidung ist in den damaligen Zeiten und in Italien nicht zu denken. Sein Plan, mit dem es ihm gelingt, die Gräfin zu überzeugen, sieht eine (formelle) Heirat der Gräfin mit dem alten und karriereversessenen Herzog Sanseverina vor, der Graf Mosca verpflichtet ist. Auch für den in der Verbannung lebenden Fabrizio findet Graf Mosca eine Lösung, in die die Herzogin Sanseverina schlussendlich zustimmt: für ihn ist eine Kirchenkarriere geplant.

"Er (Fabrizio) beschloss, die Herzogin niemals zu belügen, und gerade weil er sie in diesem Augenblick abgöttisch liebte, schwor er sich, ihr niemals zu sagen, dass er sie liebe, niemals würde er ihr gegenüber das Wort Liebe aussprechen, denn die Leidenschaft, die man so nennt, war seinem Herzen nun einmal fremd." (Seite 205)
Der geneigte Leser dieser Rezension erkennt bereits jetzt, da sich gerade einmal die Ausgangssituation der sich nun entspannenden, verwinkelten Liebesgeschichte abzeichnet, zwischen Fabrizio und der jungen Clelia, der Herzogin Sanseverina, die sowohl ihren Neffen abgöttisch liebt als auch dem Grafen Mosca gegenüber aufrichtige Liebe empfindet, und dem Grafen Mosca, der seinerseits unsterblich in die Herzogin Sanseverina verliebt ist, aber vom Stachel der Eifersucht gequält wird, dass Stendhal hier einen prallgefüllten Roman vorgelegt hat, der eigentlich Stoff für zahlreiche weitere Bände geliefert hätte. Dabei wird Fabrizio noch einen Mord begehen, wird eingekerkert, aber durch die Hilfe Clelias und der Herzogin gelingt ihm seine Flucht. Seine kirchliche Laufbahn und die Heiratsverpflichtung Clelias gegenüber einem reichen Marchese verkomplizieren den weiteren Verlauf ihrer Liebesbeziehung zusehends. Zwar gelingt es Stendhal am Ende den Knoten zu lösen, aber dieses Ende erscheint dann doch etwas abrupt. Es geht das Gerücht, dass Stendhals Verleger zahlreiche Kürzungen durchgesetzt haben soll, damit die Ausgabe in zwei Bänden veröffentlicht werden konnte. Zudem hat Stendhal diesen knapp 700 Seiten langen Roman in nur gerade einmal 53 Tagen geschrieben bzw. diktiert. Eine unglaubliche Leistung.

Besonders hervorzuheben an der vorliegenden Ausgabe des Romans sind die zahlreichen mehr als 300 Seiten umfassenden Anhänge, die vielfältiges Material zur Entstehungsgeschichte des Werkes, zur Übersetzung und zur Rezeptionsgeschichte enthalten. Darunter auch eine 70(!)-seitige fulminante Rezension von Honoré de Balzac, mit der ich mich hier auf gar keinen Fall messen möchte, und ein Briefwechsel zwischen Stendhal und Balzac.

Vergleiche ich die 'Kartause' mit 'Rot und Schwarz', so fällt meine Präferenz eher für letzteres Werk aus, obwohl von vielen behauptet wird, die 'Kartause' sei der bessere Roman. Allerdings empfinde ich die am Ende doch stark komprimierte Auflösung der Handlung als etwas störend. Auch wenn beide Werke quasi mit einer Art 'moralinsauren Zeigefinger' enden, bleibt Stendhal ein großartiger Erzähler. Und dies hat er mit Sicherheit auch Elisabeth Edl zu verdanken. 'Die Kartause von Parma' liest sich zügig wie in einem Rausch und die 700 mit Handlung prallgefüllten Seiten hat man bereits nach kurzer Zeit verschlungen. Stendhals Figuren sind plastisch modelliert, eine jede mit Ecken und Kanten, die ihnen individuelle und unverwechselbare Züge verleihen. Ich bin sicher, dass ich dieses Buch nicht zum letzten Mal gelesen habe.

Fazit: Großartiger Roman in historischem Ambiente mit komplexer, aber nicht komplizierter Handlung und facettenreichen Charakteren. LESEN!

Nachschlag:
Übrigens, Stendhal schreibt in der 'Kartause von Parma' auch über den Einsatz von Kryptografie und verschlüsselter Kommunikation. Leider etwas dilettantisch, aber dazu mehr in meinem Blogbeitrag 'Schuster bleib bei deinen Leisten - Stendhal und die Kryptografie' in meinem wissenschaftlichen Blog '...more semantic!'.

Links:


Sonntag, 8. August 2010

Auf den Spuren Prousts - Muriel Barbery 'Die letzte Delikatesse'

"Worüber man nicht reden kann, muss man schweigen." So zumindest sagt es uns Ludwig Wittgenstein. Stellen wir uns einmal vor, wir müssten jemanden unseren Lieblingsgeschmack beschreiben. Klingt einfach? Hmm... Wie können wir denn sicher sein, dass jemand das gleiche Geschmacks- und Geruchsempfinden hat, wie wir? Wie können wir sicher gehen, wenn wir sagen, etwas schmeckt nach "Huhn", dass unser Gegenüber die gleiche sensorische und geschmackliche Erinnerung heraufbeschwört bzw. erfahren hat, wie wir selbst? Noch schwieriger wird es mit abstrakten Geschmacksrichtungen: Der Wein schmeckt nach Spätsommer? OK...aber wie schmeckt eigentlich Spätsommer? Nichtsdestotrotz bedient sich der Gastronomiekritiker der wunderbarsten Metaphern, Bilder und Vergleiche, die das geschmackliche Sensorium auf alle unsere fünf Sinne inklusive des vielfältig facettenreichen menschlichen Gemüts- und Gefühlslebens abzubilden verstehen.

Und um so einen Gastronomiekritiker, genauer um den König der Gourmets, geht es in Muriel Barberys Roman 'Die letzte Delikatesse'. Der Inhalt des kurzen Bändchens ist schnell erzählt. Pierre Arthens, ein maßloser Gourmet und der König der Restaurantkritiker liegt im Sterben. Ihm bleiben nur noch 48 Stunden und er versucht in seinen Erinnerungen den einen und absoluten Geschmack heraufzubeschwören, um noch einmal das köstlichste, das er jemals genießen durfte, ein allerletztes mal zu kosten.
"Ich werde sterben, und es gelingt mir nicht, mich an einen Geschmack zu erinnern, der mir nicht aus dem Herzen will. Ich weiß, dass dieser Geschmack die erste und letzte Wahrheit meines Lebens ist, dass in ihm der Schlüssel zu einem Herzen verwahrt liegt, das ich seither zum Schweigen gebracht habe."(Seite 9)
Seine Suche nach diesem aboluten Geschmack führt uns durch verschiedene Stationen seines Gourmetlebens, von den allerersten Anfängen sinnlichen und geschmacklichen Erlebens über sein Debut als Kritiker bis hin zu seinen großen Erfolgen. Dabei wechseln sich Erinnerungskapitel jeweils mit Stimmen seiner Familie, seiner Bekannten, seiner Freunde und seiner Feinde ab, die alle noch ein letztes mal Stellung beziehen. Dabei wird eines klar: die allerstärksten Eindrücke hinterlässt nicht unbedingt das Raffinierteste, sondern vielmehr die einfachen Dinge, die uns bereits früh in unserem Leben geprägt haben.

Und hier gerät der Roman auch schon in den Dunstkreis von Marcel Proust, der über das Eintauchen eines Madeleines in Kräutertee und das Schlürfen der krümeligen Brühe das gesamte Universum seiner 'verlorenen Zeit' vor Augen geführt bekommt, worüber Pierre Arthens übrigens nur eine abfällige Bemerkung übrig hat aufgrund der 'Banalität' der Proustschen Geschmacksempfindung. Dagegen führt uns Muriel Barbery ein in ein wahres Geschmacksuniversum und führt uns die sensorischen Verführungskünste der einfachen, aber eben dadurch besonderen Dinge, wie Brot, Fleisch, Kräuter, Fisch, oder auch 'das Rohe' (nämlich Sushi) wortgewaltig vor Augen und Geschmacksknospen. Allerdings übertreibt sie es manchmal auch mit ihren Mammutsatz-Ungetümen und Adjektivgebirgen, so dass sich der wunderschön durchkomponierte, kurze Roman nicht unbedingt leicht von der Hand lesen lässt.

Am Ende wissen wir nicht, ob wir Pierre Arthens ob seines genussreichen Lebens beneiden oder aufgrund der damit verbundenen Opfer bedauern sollen. Denn auf Kosten des guten Geschmacks blieb so Einiges, insbesondere seine Kinder, auf der Strecke.
"...wenn ich es heute bedenke, denn was sind Kinder anderes als die monströsen Auswüchse unserer selbst, ein erbärmlicher Ersatz für unsere nicht verwirklichten Wünsche? Für jemanden wie mich, der im Leben schon Erfüllung gefunden hat, verdienen sie erst Interesse, wenn sie endlich weggehen und etwas anderes werden als Söhne und Töchter."(Seite 38)
Am Ende findet Pierre Arthens doch noch 'seinen einen Geschmack'. Aber zum Glück dauert es eben bis zum Ende des Romans und wir werden bei seiner Suche zu Zeugen und Mitwissern seiner unerhörten geschmacklichen Geheimnisse.

Fazit: Ein Buch für Liebhaber des 'guten Geschmacks', die sich nicht von Satzgebirgen abschrecken lassen und Freude an ausführlich geschilderten Geschmackserlebnissen haben.



Sonntag, 1. August 2010

Chemie, Schmandkuchen und tote Schnepfen - Alan Bradley: 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet'


Soviel schon einmal vorneweg: Wie schon so oft ärgere ich mich über die platte 'Titelübersetzung' des deutschen Verlages, was dem Buch -- Gottseidank -- erst einmal keinen Abbruch tut. Aber das deutsche Verlagswesen - und ihm voran immer wieder deutsche Filmverleihe und das deutsche Fernsehen - trauen es dem deutschen Leser bzw. Zuschauer nicht zu, einen vielleicht mehrdeutigen oder sich in Anspielungen ergehenden Titel zu verstehen. Nein. Für die Deutschen muss es anscheinend immer direkt und oberplatt sein. Und wenn es gar nicht anders geht, dann muss eben ein Bindestrichtitel herhalten, der einen Titel sinnreich untertitelt und den Inhalt des damit bezeichneten Werkes möglichst vollständig erklärt.

Das hat übrigens Tradition, denn bereits Grimmelshausens 1669 erschienener 'Simplicissimus' ist untertitelt mit
"Der Abentheuerliche SIMPLICISSIMUS Teutsch - Das ist: Die Beschreibung deß Lebens eines Seltzamen Vaganten genant Melchior Sternfels von Fuchshaim wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen was er darinn gesehen gelernet erfahren und außgestanden auch warumb er solche wieder freywillig quittirt. Überauß lustig und maenniglich nutzlich zu lesen."
Aber zurück zu unserem eigentlichen Untersuchungsgegenstand: Alan Bradleys 2009 erschienener und vielfach ausgezeichneter Roman 'Flavia de Luce: Mord im Gurkenbeet' oder aber besser im Original 'The Sweetness at the Bottom of the Pie'. Es handelt sich dabei um einen klassischen Kriminalroman, der im England der 1950er Jahre spielt, also keine Mobiltelefone, kein Internet und kein Fernsehen. Scheinbar ist es auch derzeit in Mode, halbwüchsige, aber nicht minder geniale Rotznasen zu Protagonisten in ausgefeilten Kriminal- und Abenteuerplots zu machen, wobei das Zielpublikum aber nicht unbedingt im selben Alter sein muss. Daher liegt der Vergleich mit Reiff Larsons 'Die Karte meiner Träume' (siehe biblionomicon Rezension: 'Kartenwahrheiten und andere Wahrheiten') oder Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' (siehe biblionomicon Rezension: 'Eine unauffällige Perle') recht nahe.

Hauptperson des kurzweiligen Romans ist die 11-jährige Flavia de Luce, die zusammen mit ihren Schwestern Daphne (13 Jahre) und Ophelia (17 Jahre) im herrschaftlichen Anwesen der Familie de Luce lebt. Ihr Vater Colonel de Luce hat sich seit dem Tod der Mutter (das ist gut 10 Jahre her) in das Schneckenhaus seiner privaten Trauer zurückgezogen und findet Trost in seiner Leidenschaft, dem Briefmarkensammeln. Flavia ist für ihre 11 Jahre überaus frühreif, was ihre intellektuellen Fähigkeiten und Begabungen angeht. So verbringt sie die meiste Zeit im Obergeschoss des Herrenhauses, in dem ihr Ahnherr Tarquin de Luce ein voll ausgestattetes Chemielabor hat einrichten lassen. Der Kenner bemerkt natürlich sofort die Anspielung auf Sherlock Holmes und seine Leidenschaft für chemische Versuchsanordnungen.
"Das erste, was mir auffiel, war der Geruch. Es roch nach Kohl, Schaumgummikissen, Abwaschwasser und Tod. Unter dieser Mischung lag wie eine Grundierung der strenge Geruch des Desinfektionsmittels, mit dem die Böden gewischt wurden. Ich tippte auf Dimethyl-Benzyl-Ammoniumchlorid, denn ich nahm einen Hauch von Bittermandelaroma wahr, das unverkennbar roch wie Blausäure - das Gas, mit dem in Amerikas Gaskammern Mörder hingerichtet wurden." (Seite 282)
Eines morgens in aller Herrgottsfrühe entdeckt Flavia im Garten (im Gurkenbeet) einen sterbenden Mann, der ihr mit seinem letzten Atemzug den lateinischen Abschiedsgruß 'Vale!' entgegenhaucht.
'Was hatte mir der Fremde ins Gesicht geröchelt? Richtig: Vale! Hastig blätterte ich die Seiten um: vakant...Vakuum...Vakzination...da war es: Vale: Gehab dich wohl, Auf Wiedersehen, Adieu. Imperativ des lateinischen Verbs valere: wohl ergehen.' (Seite 46)
Das übrigens ist die einzige Stelle im ganzen Roman, in der das Gurkenbeet eine irgendwie 'tragende' Rolle spielt und den deutschen Titel versucht zu rechtfertigen. Aber Hand aufs Herz: Wer kauft schon ein Buch, nur weil es verspricht, dass eine Leiche in einem Gurkenbeet auftauchen wird...? Tags zuvor wurde Flavia Zeuge, wie sich dieser Mann mit ihrem Vater, dem Colonel gestritten hatte. Worüber, das ist nicht klar. Aber ebenfalls am Vortag fand die Haushälterin eine tote Schnepfe auf der Türschwelle. Schnepfen sind nun einmal nicht typisch für diese Jahreszeit, und schon gar nicht, wenn sie eine Briefmarke aufgespießt auf ihrem Schnabel tragen. Was also hat das Ganze zu bedeuten?

Die Polizei staunt auf alle Fälle nicht schlecht, als eine 11-jährige anruft, um einen Mord zu melden. Leider zeigen alle Verdachtsmomente auf Flavias Vater, Colonel de Luce, und er wird schließlich verhaftet. Flavia beginnt mit ihren Nachforschungen, die sie in die Jugend ihres Vaters zurück in seine Internatszeit in den 1920er Jahren führen, als er einem magischen Zirkel angehörte und seine Leidenschaft für Briefmarken entdeckte. Und Briefmarken sollen auch noch eine ganz besondere Rolle im weiteren Verlauf der überaus spannenden und kurzweilig geschriebenen Handlung spielen.

Seinen besonderen Charme zieht der Roman auch aus der Zeit, in der die Handlung spielt. England, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Eine Zeit, die der 1938 geborene Autor Alan Bradley ungefähr im gleichen Alter wie Flavia erlebte. Eine gegenüber unserer heutigen Zeit um so vieles langsamere Zeit, dass man es sich als Jugendlicher heute kaum mehr vorstellen kann und als Erwachsener sofort in eine Art Nostalgie verfällt. Da kann man nicht einfach mal das Mobiltelefon aus der Tasche holen, um Kontakt aufzunehmen. Nein, man muss sogar in eine Bibliothek gehen -- die übrigens Samstags und Sonntags geschlossen ist -- um Informationen recherchieren zu können. Kein Internet, sondern nur das (gedruckte) Lexikon zuhause bleibt die einzig zuverlässige und kurzfristig erreichbare Informationsquelle.
"Scheibenkleister! schimpfte ich noch einmal. Dann würde ich meine Recherchen wohl auf ein anderes Mal verschieben müssen. Als ich dort in der Cow Lane vor verschlossener Tür stand, kam mir der Gedanke, dass die Büchereien im Himmel bestimmt rund um die Uhr offen hatten, und das sieben Tage die Woche!" (Seite 66)
Das Verhältnis der drei Schwestern untereinander ist eher stereotyp geschildert, d.h. ein beständiger Kriegszustand zwischen älterer (Ophelia) und jüngerer (Flavia) Schwester, mit einer Schwester in der Mitte, die sich als Dauerleser für nichts anderes als Literatur des 19. Jahrhunderts zu interessieren scheint. Aber Alan Bradley versteht es doch, seinen Figuren mit der Zeit etwas schärfere Ecken und Kanten mit auf den Weg zu geben, so dass man sie am Ende doch lieb gewinnen muss.
"Dass ein de Luce einem anderen sagt, dass er ihn liebt, ist so unwahrscheinlich, wie dass sich einer der Gipfel des Himalaya zur Seite neigt und seiner benachbarten Felsspitze etwas Nettes zuflüstert." (Seite 375)
Fazit: Ein äußerst kurzweiliger und liebevoll nostalgischer Kriminalroman aus einer ungewohnten, aber nicht minder interessanten Perspektive, der selbst mir als nicht unbedingt großem Krimiliebhaber viel Freude bereitet hat. Lesen!

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