Montag, 26. Oktober 2009

Heinrich Böll - Die verlorene Ehre der Katharina Blum...

...oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Über 35 Jahre ist es jetzt schon her, dass Heinrich Bölls bekannte große Erzählung erschienen ist. Ja, sie ist etwas in die Jahre gekommen, zumindest was die skandalösen Praktiken und die Polithetze der darin beschriebenen Boulevardzeitung angeht. Irgendwie sind wir das ja heute von der BILD-Zeitung schon gewöhnt bzw. es existiert sogar schon eine Art Erwartungshaltung den Boulevardmedien gegenüber, so dass einen heute wohl gar nichts mehr überrascht.

Die Stellung der BILD-Zeitung in Deutschland ist nach wie vor eine ungebrochene unter den Printmedien, sieht man einmal von deren generellem Niedergang ab sowie vom kometenhaften Aufstieg der Boulevard- und Skandalmagazine im Fernsehen (und dort nicht einmal mehr nur im 'Privaten'). Heinrich Böll schildert in seiner Erzählung, die vielen noch aus der Schulzeit bekannt sein wird, wie eine unbescholtene Frau in den Brennpunkt der Zielscheibe einer Boulevardzeitung, genannt 'die ZEITUNG' gerät. Die geschiedene Haushälterin Katharina Blum besorgt den Haushalt des wohlsituierten Anwaltsehepaares Blorna. Auf einer Karnevalsparty lernt die hübsche Katharina einen Mann kennen und verliebt sich in ihn. Doch nach einer ersten Liebesnacht steht bereits das Überfallkommando der Polizei vor der Türe ihrer kleinen Eigentumswohnung. Doch die Polizei geht leer aus. Der Mann namens "Götten" war - ohne dass Katharina davon wusste - ein gesuchter Schwerverbrecher. Allerdings relativiert sich auch dieser Fakt im Laufe der Ermittlungen und des Romans, stellt er sich doch vielmehr als ein Bundeswehrdeserteur heraus, der mit dem Wehrsold der Kompanie durchgebrannt ist.

Katharina gelang es, Götten unbemerkt aus dem Haus zu schmuggeln. Von jetzt an steht sie im Zentrum der Ermittlungen und der Berichterstattung der Boulevardpresse, die systematischen Rufmord begeht und vor keiner Niedertracht zu Gunsten der Sensationsberichterstattung zurückschreckt. So wird aus der braven Haushälterin die "Ganovenbraut", deren Moral und Tugend in den Schmutz getreten wird. Doch beginnt der Roman schon eigentlich mit dem Ende, da bereits im ersten Kapitel erzählt wird, das Katharina den verantwortlichen Reporter der 'ZEITUNG' in unerwarteter Gegenwehr erschießt.
"Personen und Handlungen dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der "Bild"-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich."
Böll ist wirklich ein großer Erzähler. Die ganze Geschichte durchzieht neben allem geschilderten Ernst der Sachlage ein feiner geradezu zärtlicher, satirischer Tonfall. Aus der Rücksicht heraus wird die Geschichte durch den Anwalt Blorna geschildert, dessen Karriere ebenfalls durch die ZEITUNG beendet wurde, und der die Vorgänge in herrlich indirekter Rede schildert. Man fühlt sich in die Zeit der späten 1960er und frühen 1970er zurückversetzt, in der man noch ein Hauch des deutschen Wirtschaftswunder spürt, aber schon eine neue Generation herangewachsen ist, die sich mit den alten Maßstäben nicht mehr so einfach fassen lässt.

FAZIT: Ein kurzweiliges Stück Literaturgeschichte, das die Macht der Medien und die Ohnmacht der gesellschaftlichen Vernunft seziert und dokumentiert. Auch heute noch allemal lesenswert!

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Sonntag, 18. Oktober 2009

Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane

Über die wunderschönen Taschenbändchen der Sammlung Dieterich hatte ich hier im Biblionomicon ja bereits schon einmal geschrieben, als ich einen Band englischer Kurzgeschichten besprochen hatte. Ein glücklicher Zufall (genauer genommen eine Ebay-Auktion) hatte mir nun den vorliegenden Band US-amerikanischer Kurzgeschichten in die Hände gespielt, die ich in den vergangenen Wochen teils mit großer Freude gelesen habe.

Erschienen in der Dieterichschen Verlagsbuchhandlung zu Leipzig ist dieses Bändchen mit dem Titel "Amerikanische Kurzgeschichten - von Irving bis Crane" im Jahr 1957, also vor über 50 Jahren. Auch wenn das Papier schon ein wenig vergilbt ist, war dieser schön ausgestattete Leinenband mit Goldschnitt auf dem Buchdeckel, Lesebändchen und Farbkopfschnitt doch hervorragend erhalten - sieht man einmal von dem fehlenden Schutzumschlag ab. Er umfasst 23 Kurzgeschichten, angefangen von Washington Irving (1783-1859), also den Anfängen der amerikanischen Literatur bis hin zu Stephen Crane (1871-1900), dem Wegbereiter Hemingways und der modernen Short Story.

Die 23 Kurzgeschichten stehen natürlich nicht ohne Einleitung, in der Martin Schulze die Geschichte der amerikanischen Literatur im Allgemeinen und der Kurzgeschichte als spezieller US-amerikanischer Erzählform im Besonderen abhandelt. Interessante Beobachtung am Rande für mich war, dass es einige Zeit dauerte - defacto bis in die 1820er Jahre, fast 50 Jahre nach der US-amerikanischen Revolution und den Freiheitskriegen - bis mit Vertretern wie Washington Irving überhaupt von einer amerikanischen Literatur die Rede sein konnte. Die Ursache hierfür liegt nicht nur in den wilden Pionierjahren der Republik begründet. VIelmehr setzten US-amerikanische Verleger zunächst auf die Publikation bereits etablierter englischer Literatur. Waren doch damals Urheberrecht und Tantiemen für die Autoren eher noch Fremdworte. Verkaufte sich ein Werk im alten Europa gut, dann lag der Schluss nahe, dass dies auch in den USA gelingen würde. Also wurde es schlichtweg in entsprechender Auflage kopiert. Das verlegerische Risiko war wesentlich geringer, als einen unbekannten US-amerikanischen Autor zu publizieren, bei dem nicht klar war, ob er gekauft werden würde.
"Nach der Vorstellung vieler Europäer hätten die Amerikaner, deren Leben unter der Devise "Zeit ist Geld" steht, keine Zeit, "dicke Bücher" zu lesen. Ja, es gibt sogar in Amerika Stimmen, die diese Ansicht teilen..."
Die Kurzgeschichte hat ihren Ursprung im Publikationsmedium der Zeitung. Die dort abgedruckte Literatur bedeutete geringes verlegerisches Risiko und der Autor musste schnell "zur Sache kommen", da ihm ja nur wenig Platz blieb. So starteten die meisten amerikanischen Autoren ihren Werdegang über die Kurzgeschichte. Natürlich legt die Kurzform auch den novellenartigen Charakter der Erzählungen rund um ein "unerhörtes Ereignis" nahe. Stark von der Romantik beeinflusst waren denn auch die ersten großen Erzähler, wie z.B. Washington Irving -- dessen Rip van Winkle Erzählung um den holländischen Einwanderer, der eine ganze Generation verschläft, den Auftakt macht.

Aber auch Edgar Allan Poe, der erste Höhepunkt amerikanischer Erzählkunst, mit seinen stark psychologisierenden Schauergeschichten. Das 'verräterische Herz', das bereits schon einmal hier im Biblionomicon besprochen wurde, ist wirklich ein Meisterwerk, das in diersem Band nicht fehlen darf. Daneben fallen in diese Kategorie auch die Kurzgeschichten von William Austin, Nathaniel Hawthorne, Herman Melville, Fitz-James O'Brien, aber auch Edward Everett Hale, dessen "Mann ohne Vaterland" von einem verurteilten Soldaten berichtet, der aufgrund einer unachtsamen Äußerung vor Gericht ("Er habe kein Vaterland") zu einem permanenten Leben auf hoher See verurteilt wird.

Danach ändert sich der Tonus der Kurzgeschichten. Sie emanzipieren sich vom europäischen Vorbild und eine Menge Lokalkolorit, nicht zuletzt in der Sprache kommt zum Tragen. Stehen am Anfang noch skurile und humoristische Skizzen im Vordergrund, werden die Erzählungen zusehends erwachsen. Angefangen mit John S. Robbs "lebend verschluckter Auster" und Artemus Wards "Zitterer", treffen wir auf den wunderbaren Mark Twain und dessen "berühmten Springfrosch von Calaveras", den ich noch aus meinen Schülertagen kenne. Gefolgt von Bret Harte, George Washington Cable, Thomas Bailey Aldrich gelangen wir zu Joel Chandler Harris, der sich in seiner Erzählung "Meister Lampe macht sich Bewegung" an der Mundart der US-amerikanischen Sklaven versucht.
"Eine der wichtigsten Forderungen dieses Meisters der Erzählkunst (gemeint ist Edgar Allan Poe) betraf die Kürze. Der Leser muss in der Lage sein, das Gebotene "auf einmal herunterzulesen". Nur für diese kurze Zeitspanne wird es dem Autor möglich sein, so folgert Poe, die ausschließliche Aufmerksamkeit des Lesers zu fesseln."
Dann Ambrose Bierce, den ich ebenfalls ganz besonders liebe. Natürlich finden wir hier seine große Erzählung "Zwischenfall auf der Brücke über den Eulenfluss", die ich ebenfalls schon als Schüler gelesen habe und die mir die Faszination an diesem Schriftsteller eröffnet hat, der in den Wirren des mexikanischen Revolutionskrieges verschollen ging. Der Band klingt aus mit Erzählungen von O.Henry, Jack London, Henry James und Stephen Crane. MIt ihm ist das Genre der Kurzgeschichte wirklich erwachsen geworden und wartet auf Ernest Hemingway, der sie stilistisch zur Perfektion führen sollte.
"Alles ist ja vielleicht ein bißchen übertrieben, aber ich weiß schon, was Sie meinen", erwiederte ich, "Sie haben die große amerikanische Krankheit und haben sie schwer - es ist die krankhafte, maßlose Begierde nach Form und Farbe, nach dem Pittoresken und dem Romantischen um jeden Preis. Ich möchte nur wissen, ob wir damit zur Welt kommen...."
Das Schöne an diesen Bänden mit Kurzgeschichten diverser Autoren ist, dass sie jedesmal Lust auf 'Mehr' machen. So werde ich mir den ein oder anderen Autor in Zukunft auch noch etwas intensiver zu Gemüte führen. Den vorliegenden Band selbst gibt es nur noch im Antiquariat bzw. eben über Ebay.

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Sonntag, 11. Oktober 2009

Ein fantastisches Labyrinth zwischen Film Noir und Phantastik - Carlos Ruiz Zafon 'Das Spiel des Engels'

Lange hatten wir schon darauf gewartet, dass nach dem "Schatten des Windes" endlich ein neuer Roman von Carlos Ruiz Zafon erscheinen würde. Jetzt ist er schon seit einiger Zeit erschienen und ich reiche die entsprechende Rezension nach, die einige Zeit auf sich warten ließ. Aber das Buch hat es in sich und will gut verdaut sein, bevor man sich zu einer Wertung hinreißen lässt.

Bereits im "Schatten des Windes" hatte der aus Barcelona stammende Autor Carlos Ruiz Zafon eine labyrinthisch und mysteriös gestaltete Liebeserklärung für seine Stadt vorgelegt. Ein Barcelona mit dem verborgenen "Friedhof der vergessenen Bücher", einem geheimnisvollen Archiv, zu dem nur Eingeweihte Zutritt haben und in dem all diejenigen Bücher eine letzte Bleibe finden, deren Autoren samt ihrer Hinterlassenschaft längst dem Vergessen anheim gefallen sind. Ein Barcelona, in dem der Titelheld dem verschwundenen Autor eines seltenen Buches hinterherspürt und eine dunkle Geschichte aufdeckt, die von den 30er Jahren des spanischen Bürgerkriegs bis in die Franco-Ära reicht.

Das darauf erschienene "Spiel des Engels" setzt auf diese Welt auf und liefert eine Geschichte, die noch vor den Tagen des ersten Buches spielt, in der aber bereits Orte und Figuren daraus auftauchen. Hauptfigur des Romans ist der junge und ehrgeizige Schriftsteller David Martin, der zunächst als Redaktionslaufbursche bei einer Zeitung arbeitet und seinen Lebensunterhalt durch das Abfassen von Groschenromanen bestreitet. Eines Tages erhält er von dem geheimnisvollen Verleger Andreas Corelli den hochdotierten Auftrag, ein noch viel mysteriöseres Buch (aus dem wir auch nie nur eine einzige Zeile zu lesen bekommen) zu schreiben. Bei seinen Recherchen erkennt David allmählich mehr und mehr, dass er mit der Annahme dieses Auftrags auch seine Seele verkauft hat. Seine Versuche, sich aus diesem teuflischen Pakt zu befreien, können für ihn und für alle, die ihm nahe stehen, nur im Unglück enden....

Der Roman ist recht vielschichtig und es werden zahlreiche Geschichten in der eigentlichen Geschichte erzählt, so dass man in der Zusammenfassung gar nicht alle Erzählstränge und Motive wiedergeben kann. Immer wieder erkennt man die Anspielungen auf das Vorgängerwerk, auch wenn das "Spiel des Engels" noch erheblich dunkler und fantastischer geraten ist als der "Schatten des Windes". Aber dieses Zusammenspiel des surrealen und psychologischen Moments, verbunden mit den in düsterer Vergangenheit liegenden Seiten und Gesichtern der Stadt Barcelona und ihrer manchmal recht seltsamen Bewohner, das macht einen Großteil des Reizes an Zafons Erzählkunst aus.

Es ist schon schwer, an den Erfolg des "Schatten des Windes" anzuknüpfen. Und auch, wenn die allgemeine Kritik dies nicht immer für gelungen hält, habe ich die Lektüre dieses spannenden Romans doch sehr genossen und freue mich darauf, noch mehr aus der Feder dieses Autors lesen zu können. Seine Figuren sind charakterlich fein modelliert, widersprüchlich mit Ecken und Kanten, und vermeiden meist Klischees und Stereotypen. Auch wenn am Ende manches im Unklaren bleibt, ein Lesegenuss ist es allemal, insbesondere weil der Roman auch Lust auf eine eigene Erkundung dieser interessant geschilderten Stadt macht.

Fazit: Liebhaber dunkler Geheimnisse auf sprachlich durchweg überdurchschnittlichem Niveau werden diesen Roman genauso lieben wie ich. LESEN!


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Sonntag, 4. Oktober 2009

So fremd und doch vertraut - Mark Haddon "The Curious Incident of the Dog in the Night-Time"

Es gibt einige Bücher, mit denen hat es ein Übersetzer besonders schwer. Insbesondere, wenn es darum geht, sprachliche Besonderheiten und Feinheiten zum Ausdruck zu bringen. Manchmal gelingt dies ganz gut, das eine oder andere mal geht es auch total daneben. Das Buch, das ich heute kurz vorstellen möchte, sollte der geneigte Leser daher unbedingt im englischen Original lesen. Ich habe durch die deutsche Übersetzung geblättert und quergelesen und musste leider feststellen, dass nichts mehr vom eigentümlichen Zauber des Originals übrig geblieben ist. Zudem ist das Buch, von dem ich berichten werde, aus der Perspektive eines 15-jährigen geschrieben und daher sprachlich nicht sehr kompliziert und einfach zu lesen.

Mark Haddon beschreibt in seinem Roman 'The Curious Incident of the Dog in the Night-Time' das Leben aus der Perspektive des 15-jährigen Jungens Christopher John Francis Boone, der am Asperger-Syndrom - einer Autismus-Störung - leidet. Christopher kann zu allen Ländern der Erde die zugehörigen Hauptstädte aufzählen, kennt jede einzelne Primzahl bis 7057 und hat eine ausgesprochene Schwäche für Mathematik und Logik (übrigens sind die einzelnen Kapitel mit Primzahlen durchnummeriert). Er mag Tiere sehr gerne, kann aber mit Menschen recht wenig anfangen, da ihm das Verständnis für jede Art menschlicher Emotion und deren Deutung fehlt. Er mag es nicht, berührt zu werden und hat eine starke Abneigung gegenüber der Farbe gelb.

Die Welt funktioniert für Christopher nur als eine Sammlung von logisch aufeinander aufbauenden, strikten Regeln und sich wiederholenden Mustern. So hat er stets einen kleinen Satz Karten in der Tasche, in dem der zu einer bestimmten Emotion passende Gesichtsausdruck in Form eines Smileys zusammen mit der zugehörigen Benennung ("sad", "happy", etc.) notiert ist, damit er im Bedarfsfall darauf nachschauen kann.
"I find people confusing. This is for two main reasons. The first main reason is that people do a lot of talking without using any words."
Eines Tages aber entdeckt er, dass der Nachbarshund, der Pudel 'Wellington', tot im Garten liegt, aufgespießt mit eine Gartenharke.
"Then the police arrived. I like the police. They have uniforms and numbers and you know what they are meant to be doing"
Auf den Spuren seines Lieblingsdetektivs Sherlock Holmes beschließt Christopher den Mord an 'Wellington' aufzuklären, und es beginnt ein großartiges Abenteuer, das uns unsere alltägliche Welt aus einem völlig fremden Blickwinkel vorführt. Der Blickwinkel eines Menschens, der jede Kommunikation wortwörtlich nimmt, da er Metaphern, Ironie, Anspielungen und Zwischentöne nicht verstehen kann. Da es für Christopher völlig unergründlich ist, wie andere Menschen auf die Idee kommen, erfundene Geschichten zu schreiben (da es sich dabei ja eigentlich um 'Lügen handelt'...), beginnt er jetzt darüber zu schreiben, wie er den Mordfall lösen will.

Davon einmal abgesehen, dass es sich wirklich um eine ganz besonders schöne Geschichte handelt, ist es vor allen Dingen der Perspektivwechsel, der diesen Roman so ungewöhnlich und reizvoll macht. Da ich mich beruflich mit dem Thema 'Semantik' (Bedeutung) und dem maschinellen 'Verstehen' von Semantik (wie z.B. im computerbasierten Vorstehen natürlicher Sprache) beschäftige, weiss ich, wie schwierig dieses Thema tatsächlich ist. Innerhalb unserer tagtäglichen Kommunikation liegen vielfältige Bedeutungsebenen, situationsabhängige Kontextbezüge und differenzierte Absichten der Kommunikationspartner. Ein 'normaler' (d.h. gesunder) Mensch handhabt unsere Fähigkeit zu kommunizieren quasi wie selbstverständlich. Wenn man aber nicht 'zwischen den Zeilen' lesen kann, wenn man sich nicht in den Standpunkt eines anderen versetzen kann, ihn also nicht verstehen kann und seine Emotionen nicht deuten kann, dann wird Kommunikation fast unmöglich. Und in dieser Situation ist Christopher Boone - und wir werden Zeuge in seinem täglichen Kampf um das Verstehen seiner Welt.

Fazit: Ich liebe dieses Buch! (Das sage ich wirklich nicht allzu oft...) Dieses Buch sollte man unbedingt gelesen haben. Mehr gibts nicht dazu zu sagen :) LESEN!

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Sonntag, 27. September 2009

Mad Max meets Niederbayern - Carl Amery "Der Untergang der Stadt Passau"

Was passiert, wenn nach einer "großen Katastrophe" - sei es ein globaler Killervirus, eine nukleare Katastrophe oder was auch immer - nur noch ein kleines Häuflein Menschen übrig bleibt? Das Ende aller Zivilisation? Fallen wir wieder zurück auf eine vorzeitliche Entwicklungsstufe der Menschheit? Eine Fragestellung, der sich zahlreiche Endzeitvisionen - allen voran Filme, wie z.B. 'Mad Max' oder 'I am Legend' - gewidmet haben, und deren Lösungsvorschläge oft nicht recht überzeugen können...

Wenig bekannt dagegen ist Carl Amerys kurzer Roman "Der Untergang der Stadt Passau", der 1975 erschienen ist, und der das erwähnte Endzeitszenario ins Niederbayerische verlegt. Das Buch startet mit Auszügen der Chronik "Magnalia Dei per Gentem Rosmeriorum", der Großtaten Gottes durch das Volk der Rosmer, geschrieben vom Kaplan Egid, Anno Domini 2112, das Jahr 131 APP (Anno Post Pentilentiam, will sagen "nach der Seuche"). Die Rosmer (Rosenheimer) ziehen gegen die Stadt Passau (das mit dem Babel der Apokalypse verglichen wird) in den Krieg. Skizzenhaft werden dabei zwei unterschiedliche Zeitebenen zugleich erzählt, wenn auf den Ursprung der Feindschaft zwischen den Rosmern und den Passauern - die eigentlich hier erzählte Geschichte - zurückgegriffen wird.

Der junge Marte und der erfahrene Jäger Lois sind von zu Hause losgezogen und stehen vor den Toren der Stadt Passau. Während sie aus einer kleinen Gruppe von Jägern und Bauern stammen, die sich in einer quasi bronzezeitlichen Lebensweise der wieder überhandnehmenden Wildnis anzupassen versuchen, hat der "Scheff" von Passau versucht, die untergegangene Zivilisation in den engen Grenzen der Stadtmauern fortzuführen. Die Passauer leben quasi aus der Konserve (inklusive elektrischem Strom aus einem kleinen Wasserkraftwerk, dem wohl "einzigen funktionierenden Sekretariat zwischen Nordkap und Alpen", der Reste der automobilen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts in Gestalt einiger alter Traktoren und einer eigenen "Schikeria") - wobei die Konserven langsam zur Neige gehen und die vorhandene Technik mehr und mehr verfällt, da es an ausgebildeten Spezialisten mangelt. Dennoch sind Marte und Lois vom Reichtum und dem technischen Fortschritt der Passauer geblendet.

"Rosenheimer oder Rosnemer Gruppe", las der Scheff. "Zusammenschluss von Überlebenden, ursprünglich über hundert, durch Südwanderung auf etwa 20 Köpfe geschmolzen. Stabilisierte sich durch autarke Lebensweise: Jagd, Fallenstellen, gelegentliche Bodenbewirtschaftung; Anwachsen durch Zuzug und natürliche Vermehrung auf etwa 60 Köpfe. Gut integriert, positive Zukunftsentwicklung auf halbnomadischer oder nomadischer Basis wahrscheinlich..."
Dies ist der erste Kontakt zwischen den Rosmern und den Passauern - und so werden Marte und Lois als Botschafter mit großem Brimborium willkommen geheißen. Aber der Scheff ist sich der Lage seiner untergehenden Konservenstadt bewusst und verfolgt eigene, heimtückische Pläne....und die Geschichte der Menschheit ist mit der großen Katastrophe noch lange nicht zu Ende, sondern sie ist - wie gehabt - schon wieder im vollen Gange....

Carl Amery war ein bekannter deutscher Schriftsteller und Umweltaktivist, unter anderem auch Mitglied der Gruppe 47 und Präsident des deutschen PEN Zentrums, der seiner Heimatstadt Passau mit diesem Roman ein mehr oder weniger streitwürdiges Denkmal gesetzt hat. Seine Inspiration dazu fand Amery im 1959 erschienen Roman "A Canticle for Leibowitz" des amerikanischen Autors Walter M. Miller, der 1961 mit dem Hugo-Award - dem wichtigsten Literaturpreis im Bereich des Science Fiction - ausgezeichnet wurde. Miller skizziert in seinem Roman das Bild einer Kirche, die nach einem Atomkrieg versucht, das technologische und zivilisatorische Wissen der Menschheit zu bewahren, aber dabei immer weiter ins Mystische zurückfällt (hier die zugehörige biblionomicon-Rezension).

Die wenigen Personen aus Amerys endzeitlichem "Kammerspiel" werden in der Hauptsache über ihre Sprache charakterisiert. Während die Passauer auch 30 Jahre nach der Katastrophe ihre Sätze in Hochdeutsch kleiden, findet sich bei den Rosmern ein immer stärker ausgeprägter bayerischer Dialekt, an dessen Transkription sich Amery versucht, und der so manchem Norddeutschen eventuell Kopfzerbrechen verursachen wird:
"Babba"..."die derwischen uns nimmer. I mach uns a Feuer, I fang dir a'n Fisch. Du brauchst doch was mit deiner Hitzen. Und die Rösser brauchn a Ruah."
Dieser Lokalkolorit wirkt für mich als deutschsprachigen Leser erfrischend, da einmal nicht New York oder eine andere US-amerikanische Hauptstadt im Mittelpunkt der Geschichte steht. Amery bezeichnet seinen nur knapp 120 Seiten kurzen Roman als "Fingerübung". Daher bleibt manches nur angedeutet und skizzenhaft, was dem Lesevergnügen aber keinen Abbruch tut.

Fazit: Eine ungewöhnliche Endzeitgeschichte, die mit Spannung und Ideenreichtum überzeugt und ein ausgefallenes Lesevergnügen verspricht. LESEN!

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Samstag, 26. September 2009

There and Back again - J.R.R. Tolkien "The Hobbit" (Der kleine Hobbit)

Halt, halt, halt! Es geht hier nicht nur um J.R.R. Tolkiens fabelhafte Geschichte, mit der das ganze Tolkien-Universum seinen Anfang nahm. Es geht vielmehr um die grandiose Hörbuchfassung, gelesen von Rob Inglis, im Original, die ich in den vergangenen Wochen mit wachsender Begeisterung während des Joggens im Park Sanssouci genießen durfte. Das ist - und ich meine es vollkommen ernst - vielleicht die allerbeste Art überhaupt, sich dieser Geschichte zu nähern. Und das liegt an Rob Inglis unglaublichen Erzählkunst.

In der vergangenen Woche war es nun genau 72 Jahre her, dass J.R.R. Tolkiens Erzählung "The Hobbit or There and Back Again" (im deutschen "Der kleine Hobbit") am 21. September 1937 erschienen ist, und die Geschichte hat über die Jahre immer noch nichts von ihrer Faszination eingebüßt - wird sie doch gerade auch von Peter Jackson (Produzent) und Guillermo del Toro (Regisseur) als Zweiteiler verfilmt, der 2011 in unsere Kinos kommen soll. Aber dessen ungeachtet stieß ich auf der Suche nach einem neuen, englischsprachigen Hörbuch für meine sportlichen Aktivitäten auf dieses etwas angestaubte Buch. Obwohl ich es schon kannte - vor langer Zeit hatte ich hatte als Jugendlicher die deutsche Übersetzung gelesen - griff ich zu, als mir die ungekürzte Originalversion auf 10 CDs, genial gelesen vom britischen Schauspieler, Autor und Journalisten Rob Inglis in die Hände fiel.
"In a hole in the ground there lived a hobbit. Not a nasty, dirty, wet hole, filled with the ends of worms and an oozy smell, nor yet a dry, bare, sandy hole with nothing in it to sit down on or to eat: it was a hobbit-hole, and that means comfort."
Zur Geschichte selbst muss man eigentlich kaum etwas erzählen, sollte man die doch besser gleich aus erster Hand genießen. Aber ich will mich an einem kurzen Appetizer versuchen: Bilbo Baggins (in der deutschen Version Bilbo Beutlin) bekommt unerwarteten Besuch. Nacheinander treffen 13 Zwerge und der Zauberer Gandalf der Graue in der behaglichen Wohnhöhle des kleinen Hobbits im beschaulichen Auenland ein. Noch wundert sich Bilbo über Sinn und Zweck des Ganzens, während er versucht, seine ungewöhnliche Gästeschar zu bewirten. Nach einigen Verwirrungen stellt sich heraus, dass es um das größte Abenteuer seines Lebens geht. Gandalf hat ihn - nolens volens - dazu bestimmt, die Zwergenmeute auf ihrem Abenteuer zum einsamen Berg zu begleiten, um von Smaug dem Drachen den geraubten Schatz wieder zu entreisen...

Klingt alles natürlich, als wäre das nur etwas für Kinder und Fantasy-Liebhaber, aber Tolkiens Sprachuniversum hat es in sich. Wunderbar gezeichnete Charaktäre, unglaublicher Ideenreichtum, Perfektion im Erzählgang und Spannung, Spannung, Spannung :) Der zunächst harmlos und unbedarft erscheinende Hobbit wächst über sich selbst hinaus und überrascht damit nicht nur den Leser.

Auf geradezu geniale Weise umgesetzt wird diese facettenreiche Erzählung durch die Stimme von Rob Inglis, dem es gelingt, sämtlichen handelnden Personen inklusive der 13 Zwerge liebevoll individuelle Züge und Charakter einzuhauchen. Ja, man kann sogar unterscheiden, welcher der 13 Zwerge gerade spricht. Und dann singt (jawohl "singt") Rob Ingles auch noch alle im Buch vorhandenen Lieder, und zwar alle Strophen. Es ist eine wahre Freude!

"His rich sound and grave manner would make a grocery list sound like a collection of rare treasure" (AudioFile über Rob Inglis)

Um auf den Geschmack zu kommen, kann man hier auf youtube schon einmal in den Anfang der Geschichte 'hineinhorchen'.

Fazit: Auch wenn man bislang noch kein Tolkien-Fan sein sollte, dieses Hörbuch ist für alle ein großartiges Erlebnis und Eintrittskarte in die Zauberwelt des "Herrn der Ringe". HÖREN! Mehr gibts nicht zu sagen :)

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Sonntag, 20. September 2009

Eine Liebeserklärung an das Lesen - Alan Bennett "Die souveräne Leserin"

Lesen bildet - das sagt schon der Volksmund. Aber Lesen vergrößert nicht nur den Wissensschatz, sondern verhilft dem Leser im Falle der unterhaltenden Literatur vielmehr, in das Leben anderer Personen und in andere Rollen einzutauchen. Es führt einem vor Augen, wie andere Menschen denken, fühlen und erleben. Diese Kunst des Wechsels der Perspektive ist es, die unsere Fähigkeit zur echten Kommunikation ausmacht und die uns zu emotionaler Intelligenz verhilft.

Alan Bennet zeigt uns diese Entwicklung exemplarisch am Beispiel der englischen Königin in seinem kurzen und überaus lesenswerten Roman "Die souveräne Leserin". Stellen wir uns einfach vor, die Queen würde, während sie ihre herumtollenden Hunde bis in einen Hinterhof des Palastes nachsetzt, mit einem öffentlichen Bücherei-Bus konfrontiert. Kurzerhand tritt sie hinein und leiht sich tatsächlich beim erstaunten Busfahrer und Büchereiangestellten ein Buch aus. Bislang hat sie sich noch nie groß für Literatur interessiert und so tut sich für sie eine völlig neue Welt auf. Mit im Bus sitzt Norman Seaking, ein einfacher Küchenangestellter des Palastes, den die Queen kurzerhand zu ihrem "Bücher-Pagen" befördert und der ihr erster Führer in die Welt der Literatur werden soll.

Die Queen liest - und der Hofstaat ist mehr und mehr irritiert. Ist Lesen doch eine Beschäftigung, die andere ausschließt und somit nicht ganz der 'political correctness' des Hauses Windsor entspricht. Aber nicht nur das. Immer mehr vernachlässigt die Queen ihre Verpflichtungen zugunsten eines interessanten Romans. Sie irritiert das Personal, den Premierminister, Staatsgäste, ihren Privatsekretär und auch ihre Untertanen. Während sie früher beim 'Shake-Hands' mit den einfachen Menschen Fragen stellte, wie "Hatten Sie eine lange Anreise?" oder anderen Smalltalk, fragt sie jetzt "Was lesen Sie gerade?" und löst damit jede Menge Verwirrung aus.
"Man legt sein Leben nicht in Bücher. Man findet es in ihnen."
Langsam geht mit ihr eine Veränderung vor, die durch das Lesen in Gang gesetzt wurde. Sie versteht es jetzt, die Welt auch durch andere Augen wahrzunehmen, andere Standpunkte und Gefühle einzuschätzen. Und mit dem einfachen Lesen hört diese Entwicklung nicht auf. Das Gelesene wird diskutiert, es wird anderen vorgelesen und am Ende wird die eigene Sicht der Welt reflektiert und zu Papier gebracht. Der Leser erlangt seine Souveränität und wird selbst zum Autor.
"Und wieder wurde ihr klar, dass sie nicht einfach nur Leserin sein wollte. Lesen war nicht viel mehr als Zuschauen, Schreiben jedoch war Tun, und Tun war ihre Pflicht."
Alan Bennett schildert diese Entwicklung auf äußerst liebenswerte Weise und mit grandios inszenierten, subtilen Humor. Die Queen erhält menschliche und überaus liebenswerte Züge, die sie vor allen Dingen auch ihrer neuen Beschäftigung, dem Lesen verdankt. Das Lesen wird aber von Hofstaat und Politik als 'gefährlich' eingestuft, was darin gipfelt, dass ein vergessenes Buch in der Kutsche der Königin angeblich und fälschlicherweise von einem Bombenräumkommando 'gesprengt' werden muss. Sehr schön auch die Anspielungen und Kommentare zu lebenden und klassischen Autoren aus dem Munde der Queen, wie hier z.B. zu Marcel Proust:
"Hatte ein schreckliches Leben, der arme Mann. Litt offenbar furchtbar unter Asthma und war im Grunde so jemand, zu dem man gerne mal sagen möchte: "Nun reißen sie sich mal am Riemen, guter Mann." ... Das merkwürdige bei ihm war, wenn er seinen Kuchen in den Tee tunkte (abscheuliche Angewohnheit), dann stand ihm plötzlich sein ganzes bisheriges Leben vor Augen."
Fazit: Wirklich ein ganz hervorragendes, intelligentes und unterhaltsames kleines Buch, das ich jedem uneingeschränkt empfehlen kann. LESEN!

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Samstag, 19. September 2009

Was für eine Mischpoche - Charles Levinsky "Melnitz"


Es wird langsam Zeit, dass ich eine Rezension zu dieser in jeder Hinsicht überdimensionalen Chronik einer jüdischen Familie in der Schweiz schreibe, denn ich schiebe diese schwierige Aufgabe schon seit Monaten vor mir her. Schwierig, weil einfach viel zu viel auf diesen mehr als 700 engbedruckten Seiten passiert, als dass es sich in wenigen Zeilen zusammenfassen ließe. Nichtsdestotrotz werde ich den Versuch unternehmen....

Charles Lewinsky erzählt in seinem Roman "Melnitz" die Geschichte einer jüdischen Familie in der Schweiz über vier Generationen hinweg und spinnt damit einen Faden, der 1871 mit dem Tod des Onkel Melnitz beginnt und bis zum 2. Weltkrieg reicht. Onkel Melnitz ist tot und die sieben Tage der Trauer (Schiwe) sind zu Ende.

An einem stürmischen Abend steht plötzlich ein französischer Soldat - Janki - vor dem Haus der Familie Meijer und verlangt, eingelassen zu werden. Ohne viel Fragen zu stellen akzeptiert die Familie Janki als einen entfernten Verwandten und nimmt ihn bei sich auf. Doch der neue Mitbewohner bringt alle mächtig durcheinander. Viehhändler Salomon Meijer, seine Frau Golde und die beiden Töchter - Miriam, die sich gerne 'Mimi' nennen lässt und statt jiddisch lieber französisch parliert, und das Adoptivkind Chanele, die von der Familie eher wie eine Magd behandelt wird - sie alle täuschen sich in Janki, was zu vielerlei Irrungen und Wirrungen führen wird....

So folgt Charles Levinsky der Familie Meijer durch vier Generationen hindurch in einzelnen großen Kapiteln, zwischen denen jeweils etwa 20 Jahre vergehen. Liebe und Hoffnung, Trauer und Enttäuschung, geschäftlicher Erfolg und Versagen - jede Generation ringt, wenn auch oft in unterschiedlichen Variationen, mit denselben menschlichen und gesellschaftlichen Problemen. Dabei wird der Zusammenhalt der Familie immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt. Eng verknüpft ist diese generationenübergreifende Geschichte mit dem Ringen der Juden um Anerkennung, auch in der Schweiz. Eine besondere Rolle spielt dabei der tote Onkel Melnitz, der immer wieder wie selbstverständlich auftaucht, und der mit den Hauptfiguren ins Gericht geht, um ihnen ihre besondere Situation als Juden vor Augen zu führen und ins Gedächtnis zu rufen. "Er ist der Geist aller Geschundenen und Ermordeten, aller Verfolgten und aller gefolterten Juden."

Levinsky erzählt diese melancholische Generationengeschichte mit großer Leichtigkeit - auch wenn das Buch mitunter einige Längen aufweist. Der Leser erlebt jüdische Traditionen wie aus erster Hand, fremde Begriffe werden dazu in einem Glossar am Ende des Buches erläutert. Dabei schlägt der Autor meist nur die leisen Töne an und charakterisiert seine Hauptakteure mit großer Liebe zum Detail. Das Grundthema macht aus dem einfachen Familienroman ein nachdenkliches Werk, das aufgrund seiner Vielfalt nicht unbedingt einfach zu lesen ist. Alleine die große Zahl an handelnden Personen und die manchmal etwas verzwickten Verwandschaftsverhältnisse nötigen den Leser öfters einmal zurückzublättern und nachzuschlagen.

Fazit: Ein großer Familienroman, der durch seinen leisen, melancholischen Unterton und seine Komplexität nicht für die kurze Lektüre zwischendurch geeignet ist, sondern am besten mundet, wenn man etwas mehr Zeit am Stück darauf investieren kann. Auch wenn er einige kleinere Längen aufweist, war die Lektüre für mich doch ein großer Gewinn und hat mich nachhaltig beeindruckt. LESEN!

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Schiller zum Genießen - auch für unduldsame Zeitgenossen geeignet

"Also warum tut man sich das an und liest freiwillig Schiller?" So oder ähnlich mag so manch einer fragen, dem der bildungsbürgerliche Eifer unserer Gymnasien einen der kreativsten und ungewöhnlichsten klassischen Literaten gründlich "vergräzt" hat. Egal, ob linksmotivierte Klassenkonfliktinterpretationen über 'Kabale und Liebe', das heute so manchem unverständliche 'Räuber'-Drama oder immer wieder gerne auswendig zu lernende Gedichte, wie die 'Glocke', die 'Bürgschaft' oder die weniger bekannten 'Kraniche des Ibikus' - die allermeisten Schüler können Schiller nicht ausstehen...

Ob das am Alter liegt, mit dessen Fortschreiten man ja bekanntlich auch weiser wird, ich kann es nicht sagen. Zugegeben, das Auswendiglernen von Gedichten oder die allseits 'beliebte' Gedichtinterpretation waren auch schon als Schüler nicht wirklich mein Ding. Aber 'Kabale und Liebe', das hat wirklich Spaß gemacht!
"Dumm ist mein Kopf und schwer wie Blei,
die Tobaksdose ledig,
Mein Magen leer - der Himmel sei
Dem Trauerspiele gnädig."
Schiller kann, wie man sieht, wirklich auch unterhaltsam sein. Dazu braucht es nicht erst den von German Neundorfer im Fischer Verlag herausgegebenen Sammelband "Schiller zum Genießen". Doch das Bändchen fiel mir bei einem Kurzbesuch der Potsdamer Bahnhofsbuchhandlung in die Hände und lud sofort zum Schmökern ein. Insbesondere, da ich gerade ein Buch über den berühmten Wunderheiler und Hochstapler Graf Cagliostro gelesen hatte, regten insbesondere die kommentierte Fragmente des Schillerschen 'Geistersehers' sowie Bemerkungen über die Person des Grafen Cagliostro selbst mein Interesse.

Dem unterhaltsamen Kapitel "Geisterseher und ihre Gesellen - okkulte Schriften" folgen weitere Fragmente und Briefe zum Thema "Raub, Mord und Todschlag - Schriften zur Kriminalistik", gefolgt von historiografischen Schriften (Warum und zu welchem Ende studieren wir Universalgeschichte? - aus Schillers Antrittsvorlesung in Jena), die ebenfalls wider Erwarten interessant und unterhaltsam sind. Schwieriger werden dann die dramaturgischen Schriften, in denen sich Schiller über (mir unbekannte) Schauspielerinnen und Verhältnisse der deutschen Theaterlandschaft am Ende des 18. Jahrhunderts auslässt (Waldorf und Statler lassen grüßen...).

Die folgenden 'poetologischen Schriften' sind dann wieder teilweise von Interesse, insbesondere dann, wenn über die Weimarer 'Dichter- und Gelehrtenschikeria' hergezogen wird. Dagegen sind die anschließenden Schriften zur Religion und zu den 'letzten Dingen' dann wieder etwas schwerverdaulich und nicht für jedermanns Geschmack. Den Abschluss machen 'kleinere Schriften zum Weib, zur Erziehung und zur Medizin', die wieder höheren Unterhaltungswert besitzen. Sogar das minutiös genaue Protokoll einer Leichen-Öffnung lässt Raum zum gruseligen Schauder...
"Die Leiche war abgezehrt, aber nicht erstarret. Vom Aufliegen hatte er eine Entzündung. Als man die Brust öffnete, floß eine große Menge gelblichen Blutwasser heraus. Das Netz, so sehr gering war, schien wie brandig, doch hatte es den faulen Geruch nicht...."
Die Zusammenstellung der einzelnen Schriften ist gelungen, der am Ende des Buches angefügte bibliografische Nachweis dagegen ist für meinen Geschmack zu dürftig geraten. Verweist der Herausgeber - mit Ausnahme der enthaltenen Briefe - doch stets nur auf die 5-bändige Schiller Werksausgabe des Münchner Riedelverlages, ohne genauere Angaben zum Kontext der entnommenen Schriftfragmente zu machen. Insbesondere zur Orientierung für einen Leser, der besagte Ausgabe eben nicht sein Eigen nennt, in dem aber doch Appetit auf weitere, zum jeweiligen Thema passende Schiller-Lektüre geweckt wurde, wäre eine detailliertere und kommentierte Bibliografie wünschenswert.

Fazit: Wer mit Schiller bislang noch nichts anzufangen wusste, aber dennoch neugierig ist, dem sei das kleine Bändchen zum "Genießen" anempfohlen, wobei sicherlich auch der Schiller-Kenner die einzelnen "Genuss-Häppchen" zu goutieren weiß...

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Samstag, 12. September 2009

Was für ein glorreicher Betrüger - Michael Schneider "Das Geheimnis des Cagliostro"

Im Urlaub an der Ostsee liebe ich es, im Strandkorb zu liegen und mir mit einem kurzweiligen, aber durchaus voluminösen Schmöker die schönsten Tage des Jahres zu versüßen. Allerdings ist mir meine diesjährige Auswahl, die auf einen Roman über den wohl erfolgreichsten Hochstapler des 18. Jahrhunderts, des geheimnisumwitterten Grafen Cagliosto, fiel, etwas sauer aufgestoßen. Aber nein, das lag nicht am Romanstoff an sich, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie dieser dem erwartungsvollen Leser präsentiert wurde....

"Es gibt zwei Dinge, die wirklich unendlich sind: der Himmel und die Dummheit der Mächtigen. Sie merken nicht einmal, wenn ihre Zeit abgelaufen ist"
Alessandro Graf von Cagliostro - oder vielmehr Giuseppe Balsamo, geboren 1743 in Palermo, gestorben 1795 in Festungshaft in San Leo - es gab ihn tatsächlich, diesen unglaublichen Hochstapler, Wunderheiler, Freimaurer und Alchemisten, der es wie kein zweiter verstand, die "besseren Kreise" seiner Zeit um den kleinen Finger zu wickeln und zu begeistern. Michael Schneider erzählt seine Lebensgeschichte, "Das Geheimnis des Cagliostro" in Romanform. Er beginnt 1789 mit Cagliostros Anklage vor dem Gericht der Inquisition. Der spanische Kardinal Zelada stößt auf die Memoiren des mysteriösen Gefangenen, den er für einen Scharlatan und einen für die Kirche gefährlichen Ketzer hält, und so vernehmen wir die Geschichte Cagliostros aus der Ich-Perspektive seiner Memoiren, unterbrochen von aktuellen Wendungen rund um Kardinal Zelada und Cagliostros Fall vor dem Inquisitionsgericht.

Guiseppe Balsamo, Sohn eines sizilianischen Handwerkers und Bankrotteurs, wurde 1743 im Armenviertel Albergheria, Palermo, geboren und trat bereits sehr jung in den lokalen Orden der Fatebenefratelli ein, die sich in ihrem Kloster der Krankenpflege widmeten. Als Gehilfe eines Klosterapothekers erlangte er erste medizinische Kenntnisse, die ihm später bei seinen „Wunderkuren“ noch sehr nützlich werden sollten. Er wird aus dem Kloster verstoßen, gerät mit dem Gesetz in Konflikt und muss aus Sizilien fliehen. Auf seiner Flucht verschlägt es ihn entlang der levantinischen Küste (angeblich) bis nach Ägypten, Arabien und Persien, bis er schließlich nach Malta gelangt, wo er von dem Griechen Althotas in die Geheimnisse der Alchemie eingeweiht wird. Ein Empfehlungsschreiben des Großmeisters des Malteserordens öffnet ihm schließlich in Europa Tür und Tor in den Häusern des Adels und der Fürsten. Er verkauft Liebestränke, Jugendelixiere, Schönheitsmixturen, alchemistische Pulver und verordnet Wunderkuren mit hohem Profit. Doch kann seine Hochstapelei nicht unentdeckt bleiben...
"Zu bedenken ist ferner, das durch Presse und Buchwesen längst ein öffentlicher Raum, eine öffentliche Meinung entstanden ist, die es in früheren Zeiten nicht gab. Das aber bedeutet: Nur der wird künftig Herr des Gemeinwesens sein, gleichviel ob er ein weltlicher oder ein geistlicher Herrscher ist, der die öffentliche Meinung und Phantasie, die Wunschwelten der Masse beherrscht. Dies ist vor allem eine Frage der Inszenierung und der geschickten Suggestion." (Guiseppe Balsamo vor dem Inquisitionsgericht)
Michael Schneider schildert die Episoden aus dem Leben Guiseppe Balsamos mit angenehmen Erzähltempo, wobei er sich am Ende doch ganze 700 Seiten Zeit nimmt. Auch wenn er sich dabei um Authentizität bemüht, kommt die Modellierung seiner Charaktäre zu kurz. So erhalten wir nur ein sehr lückenhaftes Bild von diesem einzigartigen Charakter, dem es überall an Ecken und Kanten fehlt und der am Ende doch rätselhaft verschlossen bleibt, obwohl hierin doch großes Potenzial gesteckt hätte. Auch die Aneinanderreihung und Aufzählung der verschiedensten Wunderkuren machen aus dem Buch ein Sammelsurium, gleich einem Kuriositätenkabinett, das damit durchaus einige Längen aufweist, die alles andere als interessant sind.

Gemessen an seinen berühmten Vorgängern, bleibt Michael Schneider leider weit zurück. Nahmen sich doch bereits Giganten wie Friedrich Schiller in seinem Geisterseher (eher eines der 'schlechteren' Werke Schillers) oder auch Alexandre Dumas in "Joseph Balsamo" gekonnt des Stoffes an. Schneiders Buch liest sich halt doch eher wie ein typischer 'Bestseller', schwierigere oder komplexere Charakterbilder werden durchgehend vermieden, die Sprache -- trotz einiger 'bemühter' lateinischer Bonmots -- eher flach. Sicher wird das Werk seine Liebhaber finden, persönlich war ich etwas enttäuscht und hätte mir für die Urlaubstage etwas für meine Ansprüche unterhaltsameres gewünscht. Es gehört eben doch etwas mehr dazu, einen historisch anspruchsvollen Roman á la Umberto Eco, Lion Feuchtwanger, Lawrence Norfolk oder Neal Stephenson mit ausgefeilten, differenzierten und in keine Schublade passenden Charaktären zu schreiben....

Fazit: Wer nicht auf allzu viel Anspruch Wert legt und sich von einem historischen Stoff in leichter Form gut unterhalten fühlt, dem sei das Buch trotz einiger Schwächen anempfohlen. Mir persönlich war es zu flach, zu einseitig, mit zu wenig Liebe zu den handelnden Figuren geschrieben. Daher kann ich es leider nicht wirklich weiterempfehlen.

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