Samstag, 13. Februar 2010

Sexuelle Gewalt, Kaffee und belegte Brote - Stieg Larsson 'Verblendung'


Wenn ich ein allererstes Fazit zum gerade gelesenen ersten Band von Stieg Larssons Millenium-Trilogie ziehen soll - im Sinne von 'was habe ich Neues an Erkenntnissen gewonnen?' - dann ist es anscheinend die Tatsache, dass Schweden gerne zu jeder Tages- und Nachzeit frisch gebrühten Kaffee und belegte Brote genießen. Zumindest scheinen letztere eines der Hauptnahrungsmittel des Journalisten und Romanhelden Mikael Blomqvist zu sein, der in Stieg Larssons Kriminalromanen die männliche Identifikationsfigur liefert. Aber das alleine ist ja noch kein Grund, sich in die ersten knapp 700 Seiten der Trilogie von Bestsellern zu vertiefen.

Normalerweise zählen Kriminalromane - einmal abgesehen von den klassischen Vertretern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts - nicht gerade zu meiner bevorzugten Lektüre. Daher habe ich es auch guten Freunden zu verdanken, die uns alle drei Bände von Stieg Larssons Millenium-Trilogie geliehen und wärmstens ans Herz gelegt haben, dass sich dieses Buch überhaupt in meine Hände verirrt hat. Der erste Band ist in Deutschland unter dem Titel 'Verblendung' erschienen, wahrscheinlich weil der Verlag dachte, dass sich ein Roman mit dem (Original)Titel 'Männer, die Frauen hassen' nicht so gut verkaufen würde. Interessanterweise fiel mir gestern am Flughafen die englische Übersetzung in die Hände, die wiederum mit einem anderen Titel aufwarten konnte: 'The Girl with the Dragon Tattoo'. Ich glaube, wir dürfen froh sein, dass Klassiker wie 'Krieg und Frieden' oder 'Vom Winde verweht' (übrigens hier im biblionomicon besprochen) nicht heutzutage geschrieben wurden. Wer weiß, welche Titelverunglimpfungen uns dabei ins Haus stehen würden...

Was macht nun einen Roman wie 'Verblendung' so erfolgreich? Ist es die geschilderte Art von sexueller Gewalt, die uns hier gegenübertritt? Insgesamt ist das Genre der skandinavischen Krimis in Deutschland ja sowieso ein besonders erfolgreicher Dauerbrenner. Da diese aber bislang nicht zu meiner Lektüre zählen, kann ich leider nicht mit einem Vergleich aufwarten. Aber am besten erzähle ich erst einmal, worum es im Roman geht, natürlich ohne dabei die für Kriminalromane notwendige Auflösung zu verraten. Der Enthüllungsjournalist Mikael Blomqvist wird zu einer Geldstrafe und 3 Monaten Gefängnis wegen Verleumdung des Großindustriellen Wennerström verurteilt, weil er mit falschen Informationen hereingelegt wurde. Um seine Zeitschrift 'Millenium' zu schützen, zieht sich Blomqvist aus der Redaktion zurück und nimmt einen Auftrag des ehemaligen Unternehmers Henrik Vanger weit ab von Stockholm an. Alljährlich zu seinem Geburtstag erhält Henrik Vanger seit fast 40 Jahren anonym eine gepresste Blume geschickt. Das mysteriöse Geschenk steht im Zusammenhang mit seiner 1966 plötzlich verschwundenen Nichte Harriet. In all den Jahren seiner an eine Manie grenzenden Nachforschungen blieb ihm einzig der Schluss übrig, dass sie ermordet worden sein muss. Mikael Blomqvist bleibt laut Vertrag ein Jahr, um die Untersuchungen erneut aufzunehmen und eventuell neues Licht in das geheimnisumwitterte Familienleben der Vangers zu bringen, zu denen manch skurile und nicht gerade liebenswürdige Gestalten zählen.

Bevor Vanger Blomqvist den Auftrag anbietet, beauftragt er eine Agentur, die ihm umfassende Informationen über Blomqvist besorgen soll. Hier betritt Lisbeth Salander die Szene, ihres Zeichens eine genialisch begnadete Hackerin mit photografischem Gedächtnis, Tattoos und Piercings, auffallendem Sozialverhalten (Asperger-Syndrom?), 1.50 groß und 40 Kilo leicht. Sie erarbeitet (freiberuflich) ein Dossier über Mikael Blomqvist und gerät so langsam aber unaufhaltsam hinein in die spätere Aufklärungsarbeit um das Verschwinden von Harriet Vanger. Auf diesem Weg begegnen uns immer wieder (sexuell) gewalttätige Männer, seien es Salanders gerichtlich bestimmter, sadistischer Betreuer oder ein nach Bibelzitaten mordender Psychopath. Der ganze Roman gerät zu einer atemlosen Schnitzeljagd in der einzelne Puzzlestücke zu immer neuen Fährten führen, die den Leser in permanenter Spannung halten und nach Aufklärung verlangen. Dass neben der Gewalt hier auch wieder die Religion ins Spiel kommt, gepaart mit Alt-Nazis, Folter, Sexualität und Perversen, erinnert an das Erfolgsrezept Dan Browns, auch wenn Larsson bislang weniger mystisch daherkommt.

Das Interessanteste für mich am Roman ist das ungleiche Gespann Blomqvist und Salander, die gleich ihren klassischen Vorbildern Holmes und Watson den Fall zu lösen versuchen. Ganz klar kommt hier Lisbeth Salander die Rolle des Sherlock Holmes zu, zeigen doch beide soziale Auffälligkeiten und Skurilitäten bei gleichzeitiger Genialität. Blomqvist dagegen spiegelt weniger einen typischen Watson. Vielmehr verwundert seine 'unkompliziert freie' Einstellung gegenüber Partnerschaft und Sexualität, die übrigens auch bei Salander betont wird. Aber gerade auch diese Brüche in den handelnden Charakteren geben den Hauptfiguren eine interessante Note, so dass es dem geneigten Leser niemals langweilig wird. Dennoch hätte ich mir zumindest bei den Bösewichten der Geschichte etwas mehr Tiefgang gewünscht. So abnormal uns das Böse auch gegenübertreten mag, ist es doch auch das Wiedererkennen einzelner charakterlicher Merkmale in uns selbst, die uns erschauern lassen, wenn wir detaillierter in die abstruse Geisteswelt des Verbrechers eingeführt werden.
"Natürlich sind meine Taten sozial nicht akzeptabel, aber mein Verbrechen ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Konventionen der Gesellschaft. Der Tod kommt immer erst am Ende des Aufenthalts meiner Gäste, wenn ich ihrer überdrüssig geworden bin. Es ist immer wieder faszinierend ihre Enttäuschung zu sehen...Sie glauben, wenn sie mir zu Willen sind, dann werden sie überleben. Sie unterwerfen sich meinen Regeln. Sie fangen an, mir zu vertrauen, beginnen einen Kameraden in mir zu sehen, und bis zum Schluss hoffen sie, dass diese Kameradschaft etwas bedeutet. Die Enttäuschung kommt dann, wenn sie merken, dass ich sie an der Nase herumgeführt habe." (Seite 529)
Etwas seltsam auch das Zitieren von detaillierten Angaben zur verwendeten Computerhardware (iBook 400 MHz, etc.). Zwar zeigt dies, dass der Autor zum Zeitpunkt des Erscheinens (2005) auf der Höhe der Zeit war, lässt das Ganze aber heute in unserer besonders schnellebigen Zeit schon wieder etwas antiquiert wirken. Ich würde das ja gar nicht hier bemerkt haben, wenn es sich nicht durch das gesamte Werk gleich dem zuvor bemerkten 'Kaffee mit belegten Broten' hindurchziehen würde. Ich hatte sogar die Vermutung, dass es sich schlicht um Product Placement handeln könnte - werden doch Apple, Dell und IKEA prominent und immer wieder genannt -, das der aktuelle Rechteinhaber des millionenfach verkauften Romans teuer vermarktet. Dennoch bin ich gespannt, was die beiden Folgebände bringen werden, auch wenn ich mich jetzt erst einmal anderer Lektüre zuwenden werde.

Fazit: Ein flott zu lesender schwedischer Kriminalroman mit einem ungewöhnlichen Detektivgespann, einer ganzen Menge Gewalt und Sexualität, der aber durch seine spannende Konstruktion für äußerst kurzweilige Lektürestunden sorgen wird. Lesen!


Links: