Sonntag, 14. März 2010

Eine Weltverschwörung aus dem vorrevolutionären Russland - Boris Akunin "Detektiv Fandorin ermittelt in Moskau"

Also wie ich eigentlich auf dieses Buch gestoßen bin, kann ich beim besten Willen nicht mehr genau sagen. Eigentlich hatte ich es entdeckt, als ich für meine Mutter - eine passionierte Krimi-Leserin - neues 'Lesefutter' gesucht habe und dabei diesmal etwas ausgefallen Ungewöhnliches für sie zum Schmöckern auftreiben wollte. Und etwas ungewohnt kommt Boris Akunins Roman "Fandorin" schon daher, der eine ganze Serie mit eben demselben Detektiv begründen sollte...

Wir befinden uns im vorrevolutionären Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Auch in Moskau hält mit dem Fernschreiber (Baudot-Telegraph), modernen polizeilichen Ermittlungsmethoden, dem Herren-Stützkorsett Marke "Lord Byron" und sogar den ersten Prototypen des Telefons die unaufhaltsam heranpreschende Moderne Einzug. Erast Petrowitsch Fandorin, mit 19 Jahren bereits Vollwaise, verarmter Sohn eines "Brausekopfs", der sein Vermögen in "windigen Projekten" gewonnen und auch wieder verloren hatte, arbeitet als kleiner Schriftführer bei der Moskauer Polizei. Im Alexandergarten erschießt sich ein Student aus unerfindlichen Gründen vor den Augen einer verdutzten jungen Frau und ihrer Gouvernante, und es wird nicht der einzige Vorfall dieser Art bleiben.

Handelt es sich einfach um den Lebensüberdruss einer dekadenten Jugend? Stecken etwa die seit kurzem in Russland agierenden Anarchisten hinter dem Ganzen? Interessant dabei bleibt, dass die Betroffenen stets ihr gesamtes Vermögen ein und demselben "Guten Zweck" zukommen lassen: den 'Asternaten', Erziehungsheimen für Waisenkinder der weltbekannten britischen Wohltäterin Lady Aster. Als Fandorin bei seinen Ermittlungen beinahe erstochen wird - nur "Lord Byron", das Korsett das er zur optimalen Formgebung von Taille und Haltung trägt bewahrt ihn vor dem sicheren Tod - ist er von einer Verschwörung überzeugt. Doch wer steckt hinter dem Ganzen?

Fandorins Ermittlungen führen ihn in den Salon einer atemberaubenden eiskalten Schönheit, der die Männerherzen Moskaus zu Füßen liegen. Als ein weiterer prominenter junger Mann stirbt, wird der bekannteste Ermittler des russischen Reiches aus Petersburg hinzugezogen: Iwan Franzewitsch Brilling, der mit modernsten Methoden der kriminalistischen Ermittlungstechnik arbeitet. Er erkennt schnell Fandorins verborgenes kriminalistisches Talent und schickt ihn in geheimer Mission quer durch Europa auf den Spuren eben jener mysteriösen Schönheit, um die Verschwörer dingfest zu machen und um Schlimmeres zu verhindern.

Natürlich verrate ich bei einem Kriminalroman nicht mehr als unbedingt nötig. Daher wird es auch keine weiteren Hinweise zum Plot der spannenden Geschichte geben, die ihren berühmten Vorbildern Sherlock Holmes (Arthur Conan Doyle), Auguste Dupin (Edgar Allan Poe) oder Hercule Poirot (Agatha Christie) nacheifert und dabei auch den Hunger nach den aktuell so gern gesehenen (Welt-)Verschwörungstheorien bedient. Zwar muss der geneigte Leser erst einige Seiten mit der Einführung recht schwieriger russischer Eigennamen über sich ergehen lassen (Fandorins Moskauer Vorgesetzter etwa trägt den für westliche Zungen schwierigen Namen Xaveri Feofilaktowitsch Gruschin), aber hat man sich erst einmal an das russische Lokalkolorit gewöhnt, überzeugt der Roman mit atemloser Spannung, augenzwinkernder Selbstironie und einer gehörigen Portion Sprachwitz. Die Epoche des späten 19. Jahrhunderts wird von Akunin sehr schön skizziert und das Aufeinandertreffen von westlicher Moderne und zaristischer Tradition gibt diesem Kriminalroman eine sehr eigenwillige Färbung. An dieser Stelle sollte ich erwähnen, dass der Roman meiner Mutter nicht besonders gut gefallen hat. Ich habe ihn dagegen mit großem Vergnügen auf einer Zugfahrt Berlin - Frankfurt - Berlin fast in einem Rutsch durchgelesen.

Fazit: ungewöhnlicher Kriminalroman mit russischem Lokalkolorit in den Fußstapfen literarischer Schwergewichte, die das Genre seinerzeit begründet haben. Lesen!

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Dienstag, 9. März 2010

Die spätbarocke Antiheldin - Daniel Defoe 'Moll Flanders'

OK... Anglisten und Literaturwissenschaftler werden wahrscheinlich gerade schon die ersten Kiesel aufsammeln, die sie sich - aufgrund der Überschrift - für die mir sicher gleich angedeihte Steinigung aufheben werden. Aber jeder mag von der knapp 300 Jahre alten fiktiven Lebensbeschreibung der "Moll Flanders" doch denken, was er will. Ich empfand die Lektüre zuerst als recht gewöhnungsbedürftig, dann etwas platt, aber letztendlich doch ganz amüsant. Aber doch erst einmal der Reihe nach....

Es hat insgesamt doch etwas länger gedauert, als das kleine Bändchen, das ich aus dem Dieterich Verlag (Band 161, Ausgabe von 1972) über das Antiquariat erstanden hatte, nahelegen würde. Aber die knapp 400 eng beschriebenen Seiten von Daniel Defoes 'Moll Flanders' hielten mich doch 2 Wochen allabendlich in Trab. Doch halt. Eigentlich ist das ja gar nicht der vollständige Titel. Denn dieser lautet:
"Glück und Unglück der berühmten Moll Flanders - die, im Zuchthaus Newgate geboren, nach vollendeter Kindheit noch sechzig wechselvolle Jahre durchlebte, zwölf Jahre Dirne war, fünfmal heiratete, darunter ihren Bruder, zwölf Jahre lang stahl, acht Jahre deportierte Verbrecherin in Virginien war, schließlich reich wurde, ehrbar lebte und reuig starb. Beschrieben nach ihren eigenen Erinnerungen."
Damit ist eigentlich als gesagt. Und ebenso ist damit bewiesen, dass nicht RTL den "Bindestrichtitel" erfunden hat, der im Nachsatz den kompletten Inhalt des betitelten Werkes in reißerischen Worten nacherzählen muss, sondern dass diese (Un-)Sitte bereits Tradition hat. Es geht also um das Leben der Moll Flanders, und dieses Leben hat es in sich. Als armes Ziehkind in einer wohlsituierten Familie verlieben sich beide Söhne in die hübsche "Betty" (Moll Flanders ist eigentlich gar nicht ihr wirklicher Name). Kein Wunder, dass das nicht lange gut gehen kann, obwohl sie tatsächlich die Geliebte des älteren Bruders (des Erben des väterlichen Vermögens) werden soll - zumindest für einige Zeit. Aber er behandelt sie wie eine käufliche Dirne und glaubt, mit Geld sei alles getan. Umgekehrt ist der jüngere Bruder aufrichtig in sie verliebt. Er ist es, der sie anschließend sogar heiratet, doch ist ihrer Ehe nur kurze Zeit beschieden, da der jüngere Bruder stirbt und Moll nun wieder ohne Mann (=Ernährer) dasteht. Der nächste Kandidat ist ein Tuchhändler, der leider bald bankrott geht und Moll wieder freigibt.
"Einmal war ich auf den Betrug, den man Liebe nennt, hereingefallen, aber diese Zeiten waren vorbei; ich war entschlossen, mich zu verheiraten, und zwar, mich gut zu verheiraten oder gar nicht." (Seite 66)
"Ich machte auch hier die Erfahrung, dass Ehen nicht immer im Himmel geschossen werden, sondern meist auf kluger Berechnung beruhen; sie mussten den Interessen dienen und das Geschäft fördern. Liebe spielte dabei keine oder nur eine sehr geringe Rolle." (Seite 75)

Aber unsere Titelheldin hat dazugelernt und legt jetzt nicht mehr gleich alle Karten offen auf den Tisch. Geschickt fädelt sie die nächste Verbindung ein und landet bei einem Plantagenbesitzer, der sie mit in die neue Welt nimmt. Aber auch hier ist das "Glück" nur von kurzer Dauer. Es kommt schlimmer, als man es sich vorstellt. Und wieder könnte man glauben, dass Generationen von Soap-Dichtern hier abgekupfert haben. Ihr Mann, den sie aufrichtig liebt, entpuppt sich als ihr leiblicher Bruder, den ihre Mutter zur Welt brachte, nachdem Moll im Zuchthaus von Newgate geboren war und ihre Mutter sie dort zurücklassen musste. Und wer glaubt, dass die gute Moll jetzt schon eine Menge erlebt hätte, der befindet sich auf dem Holzweg. Sie gerät unter die Heiratschwindler, Kleinkriminellen, Dirnen und Diebe. Eine Untat reiht sich an die nächste, und immer wieder hat sie das Glück, dass sie einer Verfolgung entgehen kann.

Aber das kann natürlich auch nicht ewig so weiter gehen und vor allem kann es erst einmal nicht so ohne weiteres gut ausgehen. Dafür befinden wir uns im falschen Jahrhundert und das Moralisierende einer solchen Schelmengeschichte - allerdings mit einem weiblichen Protagonisten - darf natürlich auch nicht zu kurz kommen. Tatsächlich ist es auch Grimmelshausens 'Abenteuerlicher Simplizissimus', an den mich das Buch erinnert hat. Eine kurze unerhörte Episode reiht sich an die nächste, und eine ist dabei dreister als die andere. Dabei wird mit dem moralischen Zeigefinger zur sittlichen Erbauung des Lesers auch nicht gespart.
"Doch ich überlasse diese Dinge besser dem eigenen Nachdenken des Lesers. Er kann daraus vielleicht mehr Nutzen ziehen, als wenn er nur auf meine Worte hört. Ich, die ich selbst so rasch strauchelte, kann ihm nur ein schlechter Mahner sein." (Seite 141)

"Ich fühle mich nicht berufen, anderen zu predigen, wohl aber könnten die Erfahrungen eines so verdorbenen und elenden Geschöpfes, wie ich es war, dem Leser nützliche Warnung sein." (Seite 312)
Interessant auch, aber etwas gewöhnungsbedürftig beim Lesen fällt auf, dass keine der handelnden Personen beim Namen genannt wird. Ebenso wie Moll Flanders Lebensweg ist Daniel Defoes Biografie alles andere als geradelinig. Als Sohn eines Metzgers 1660 geboren, führt ihn sein Weg über das Priesterseminar, zum Tuchhändler, selbstständigen Geschäftsmann, Bankrotteur, staatlichen Lotteriebeamten, politischen Geheimagenten, Ziegeleibesitzer, und schließlich zum Zeitungsherausgeber. Erst im Alter von 59 Jahren veröffentlicht er 1719 seinen ersten Roman (eigentlich sogar den ersten englischen Roman überhaupt), den weltbekannten "Robinson Crusoe", der ihn auf einen Schlag berühmt macht. Aber auch heute, nach fast 300 Jahren, zeugt seine fiktive Biografie der 'Moll Flanders' und vielmehr noch sein 'Robinson Crusoe' von Defoes ungebrochener Popularität, die er seinem auf strikten Realismus aufbauenden Stil verdankt (auch wenn es sich um fiktive Geschichten handelt). Er führt uns den 'gemeinen Menschen' und nicht die allerhöchsten Adelskreise der Reichen und Schönen vor Augen, und vielleicht ist sein Werk für uns deshalb auch heute noch interessant.

Fazit: Ein buntes und lehrreiches Bilderbuch einer schon lange vergangenen Epoche, und zwar diesmal im Original und nicht NUR als historischer Roman verpackt. Absolut lesenswert!

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Sonntag, 21. Februar 2010

Ein glückliches Ereignis - Rüdiger Safranski 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft'


'Ein glückliches Ereignis', so nannte Johann Wolfgang von Goethe seine Freundschaft mit Friedrich Schiller zurückblickend auf die wenigen Jahre, die den gemeinsamen Lebensweg dieser beiden Giganten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte beschreiben. Für gut 10 Jahre standen Weimar und Jena im Mittelpunkt ihres gemeinsamen geistigen Schaffens und Wirkens und mit seinem neuen Buch 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft' gelingt es Rüdiger Safranski, diese Ausnahmefreundschaft lebendig, unterhaltsam und auch mit einem kleinen Augenzwinkern vor unserem geistigen Auge erblühen zu lassen.

Es gibt wohl kaum zwei Persönlichkeiten der deutschen Geistesgeschichte, die uns auch heute noch tagtäglich so präsent sind, wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller. Kaum einer verlässt heute die deutsche Schullandschaft, ohne nicht wenigstens über einen der beiden Literaten gestolpert zu sein, auch wenn sich ihr tatsächlicher Einfluss im Gegensatz zur Generation unserer Eltern und Großeltern heute hauptsächlich auf das beständig sich ausdünnende Bildungsbürgertum beschränkt. Rüdiger Safranski, der sich zuvor schon mit den Biografien Schillers, Nietzsches oder E.T.A. Hoffmanns befasst hatte, lässt in seinem neuen Buch 'Goethe & Schiller, Geschichte einer Freundschaft' ebendiese Männerfreundschaft chronologisch vor dem Auge des geneigten Lesers Revue passieren. Dabei stützt er sich weitgehend auf den von Goethe 20 Jahre nach Schillers Tod herausgegebenen Briefwechsel der beiden sowie auf zahlreiche weitere zeitgenössische Quellen, die feinsäuberlich im bibliografischen Anhang des Buches zusammengestellt wurden.


Er startet mit der ersten Begegnung des jungen Schillers mit dem 'Genie' Goethe, der im Jahre 1779 zusammen mit seinem Herzog Karl-August in offizieller Mission die Militärakademie der hohen Karlsschule in Stuttgart (heute Schloss Solitude) zum Zweck einer Preisverleihung an die Studenten besuchte. Der damals noch unbekannte Schiller war einer der Studenten der Karlsschule und der bereits in Amt und Würden tätige Goethe war durch seinen Roman 'Werther' und den 'Götz von Berlichingen' zu internationalem Ruhm gelangt. Aber es sollten noch 15 Jahre vergehen, ehe das 'glückliche Ereignis' eintreten konnte und sich die beiden tatsächlich kennen und wertschätzen lernten. Safranski schildert Charakter und Entwicklung der beiden Dichter und Denker bis zu diesem Zeitpunkt, wobei die beiden neben ihrem Genie eher gegensätzliche Positionen und Meinungen vertraten. Schiller wird berühmt als Autor der 'Räuber', dieses 1782 aufgeführten Meisterstücks der 'Sturm und Drang'-Zeit um den Konflikt zwischen Freiheit und Gesetz. Doch in diesen politischen instabilen Zeiten - die französische Revolution stand schon fast vor der Türe - brachte das von der Jugend umjubelte Stück seinem Autor reichlich Probleme. Herzog Karl-Eugen verwarnte den unbotmäßigen Autor mit 14 Tagen Festungshaft und verbot ihm fortan jegliche publizistische Tätigkeit. Schiller flieht und gerät 1787 schließlich nach Weimar, wo sich seine prekäre Lage langsam konsolidieren kann.

Während Schiller mit seinen 'Räubern' die Freiheit entdeckte, entdeckte Goethe an der Universität Jena den berühmten Zwischenkieferknochen, einem beim erwachsenen Menschen zurückgebildeten Knochen, dessen Existenz aber eine gemeinsame stammesgeschichtliche Entwicklung des Menschen und der Tiere nahelegte. Während Schiller vor seinem Herzog aus Stuttgart flieht, flieht Goethe vor seinen Verpflichtungen als Geheimer Rat am Weimarer herzoglichen Hof in seine gut 20 Monate währende Italienreise.
"Die Doppelexistenz als Pegasus und Amtsschimmel war ihm zu anstrengend geworden...Er fühlte seine poetische Ader austrocknen." (Seite 47)
Der reifere und erfahrenere Goethe sieht in Schiller auch immer ein wenig seine eigene jugendliche 'Sturm und Drang'-Zeit, die er als überwunden betrachtete. Revolution ist ihm etwas Schreckliches. Er ist zwar kein Verfechter der Adelsprivilegien, aber der mit der Revolution verbundene 'soziale Vulkanausbruch' ist ihm genauso wie alles andere 'Plötzliche und Katastrophische' verhasst, 'in der Natur ebenso wie in der Gesellschaft. Das Allmähliche zog ihn an. Er suchte nach Übergängen, vermied Brüche' (Seite 81). Diese Voreingenommenheit gegenüber Schiller verhinderte auch eine frühere Annäherung der beiden, so dass das 'glückliche Ereignis' ihrer näheren Bekanntschaft erst am 20. Juli 1794 stattfinden konnte.
"Wir gingen beide zufällig heraus, ein Gespräch knüpfte sich an, er (Schiller) schien an dem Vorgetragenen Teil zu nehmen, bemerkte aber sehr verständig und einsichtig und mir sehr willkommen, wie so eine zerstückelte Art die Natur zu behandeln, den Laien, der sich gern darauf einließe, keineswegs anmuten könne." (Seite 107)
Mit diesen Worten beginnt Goethe im Rückblick die Schilderung dieses ersten denkwürdigen Freundschaftsmoments, der die beiden Literaten für die folgenden 11 Jahre aneinander binden sollte.

Safranskis Darstellung ist übervoll mit Zitaten und kleinen Anekdoten, mit denen er es versteht die Persönlichkeiten seiner beiden Protagonisten plastisch zum Leben zu erwecken. Die schwierige Annäherung Schillers an Goethe während seiner anfänglichen Weimarer Zeit, gemeinsame Phasen hoher Produktivität sowie auch einzelner Trockenphasen, in denen der eine den anderen freundschaftlich beratschlagt und unterstützt, anhand zahlreicher Begebenheiten und Beispielen haben wir an dieser kurzen Hochzeit der 'Weimarer Klassik' teil. Für mich umso interessanter, da mir das Lokalkolorit aus meinen eigenen Jahren in Weimar und Jena sehr vertraut ist. Auch glaubt man manchmal ein kleines Augenzwinkern des ansonsten wissenschaftlich akribischen Autors zu erkennen, wenn er beispielsweise den Besuch Madame de Staels in Weimar schildert, zu dem sich Goethe durch gewollte Abwesenheit geschickt aus der Affäre zu ziehen versucht.
"Madame überraschte Weimar mit solch raffinierter Natürlichkeit, aber vorallem mit ihrer außerordentlichen Beredtheit. Man muss sich ganz in ein Gehörorgan verwandelt um ihr folgen zu können, berichtet Schiller, dem zuerst die Aufgabe zugefallen war, ihr gegenüber das geistige Weimar zu repräsentieren, da Goethe noch zögerte, von Jena herüberzukommen." (Seite 287)

Die epochemachende Freundschaft endete aber auch nicht mit Schillers viel zu frühem Tod 1805. Im Nachhinein steigerte und verklärte Goethe seinen Freund zusehends. Auch die Episode mit Schillers Schädel (der nachgewiesener Maßen gar nicht der von Schiller war) gibt zu denken. Dieser wurde 1826 anlässlich einer Erweiterung der Gewölbegrabstätte zusammen mit zahlreichen weiteren Gebeinen in Weimar exhumiert. Der Weimarer Bürgermeister Karl Leberecht Schwabe deklamierte dabei den größten gefundenen Schädel als Schillers Haupt, und dieser fand seinen Weg in Goethes Privatbibliothek, in der er ein gutes Jahr lang stehen sollte...
Am Ende fasst Goethe diese Freundschaft mit den folgenden Worten auf wunderbare Weise zusammen:
"Ein Glück für mich war es...dass ich Schillern hatte. Denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf Eins, welches denn unser Verhältnis so innig machte, dass im Grunde keiner ohne den anderen leben konnte." (Seite 310)
Fazit: Eine wunderbare, sorgfältig recherchierte und aufbereitete Chronologie einer epochemachenden Freundschaft zwischen den beiden deutschen Geistesgiganten, die unsere Kultur für immer prägen sollten. Anspruchsvoll, aber durchaus immer unterhaltsam und interessant zu lesen. Lesen!

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Samstag, 13. Februar 2010

Sexuelle Gewalt, Kaffee und belegte Brote - Stieg Larsson 'Verblendung'


Wenn ich ein allererstes Fazit zum gerade gelesenen ersten Band von Stieg Larssons Millenium-Trilogie ziehen soll - im Sinne von 'was habe ich Neues an Erkenntnissen gewonnen?' - dann ist es anscheinend die Tatsache, dass Schweden gerne zu jeder Tages- und Nachzeit frisch gebrühten Kaffee und belegte Brote genießen. Zumindest scheinen letztere eines der Hauptnahrungsmittel des Journalisten und Romanhelden Mikael Blomqvist zu sein, der in Stieg Larssons Kriminalromanen die männliche Identifikationsfigur liefert. Aber das alleine ist ja noch kein Grund, sich in die ersten knapp 700 Seiten der Trilogie von Bestsellern zu vertiefen.

Normalerweise zählen Kriminalromane - einmal abgesehen von den klassischen Vertretern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts - nicht gerade zu meiner bevorzugten Lektüre. Daher habe ich es auch guten Freunden zu verdanken, die uns alle drei Bände von Stieg Larssons Millenium-Trilogie geliehen und wärmstens ans Herz gelegt haben, dass sich dieses Buch überhaupt in meine Hände verirrt hat. Der erste Band ist in Deutschland unter dem Titel 'Verblendung' erschienen, wahrscheinlich weil der Verlag dachte, dass sich ein Roman mit dem (Original)Titel 'Männer, die Frauen hassen' nicht so gut verkaufen würde. Interessanterweise fiel mir gestern am Flughafen die englische Übersetzung in die Hände, die wiederum mit einem anderen Titel aufwarten konnte: 'The Girl with the Dragon Tattoo'. Ich glaube, wir dürfen froh sein, dass Klassiker wie 'Krieg und Frieden' oder 'Vom Winde verweht' (übrigens hier im biblionomicon besprochen) nicht heutzutage geschrieben wurden. Wer weiß, welche Titelverunglimpfungen uns dabei ins Haus stehen würden...

Was macht nun einen Roman wie 'Verblendung' so erfolgreich? Ist es die geschilderte Art von sexueller Gewalt, die uns hier gegenübertritt? Insgesamt ist das Genre der skandinavischen Krimis in Deutschland ja sowieso ein besonders erfolgreicher Dauerbrenner. Da diese aber bislang nicht zu meiner Lektüre zählen, kann ich leider nicht mit einem Vergleich aufwarten. Aber am besten erzähle ich erst einmal, worum es im Roman geht, natürlich ohne dabei die für Kriminalromane notwendige Auflösung zu verraten. Der Enthüllungsjournalist Mikael Blomqvist wird zu einer Geldstrafe und 3 Monaten Gefängnis wegen Verleumdung des Großindustriellen Wennerström verurteilt, weil er mit falschen Informationen hereingelegt wurde. Um seine Zeitschrift 'Millenium' zu schützen, zieht sich Blomqvist aus der Redaktion zurück und nimmt einen Auftrag des ehemaligen Unternehmers Henrik Vanger weit ab von Stockholm an. Alljährlich zu seinem Geburtstag erhält Henrik Vanger seit fast 40 Jahren anonym eine gepresste Blume geschickt. Das mysteriöse Geschenk steht im Zusammenhang mit seiner 1966 plötzlich verschwundenen Nichte Harriet. In all den Jahren seiner an eine Manie grenzenden Nachforschungen blieb ihm einzig der Schluss übrig, dass sie ermordet worden sein muss. Mikael Blomqvist bleibt laut Vertrag ein Jahr, um die Untersuchungen erneut aufzunehmen und eventuell neues Licht in das geheimnisumwitterte Familienleben der Vangers zu bringen, zu denen manch skurile und nicht gerade liebenswürdige Gestalten zählen.

Bevor Vanger Blomqvist den Auftrag anbietet, beauftragt er eine Agentur, die ihm umfassende Informationen über Blomqvist besorgen soll. Hier betritt Lisbeth Salander die Szene, ihres Zeichens eine genialisch begnadete Hackerin mit photografischem Gedächtnis, Tattoos und Piercings, auffallendem Sozialverhalten (Asperger-Syndrom?), 1.50 groß und 40 Kilo leicht. Sie erarbeitet (freiberuflich) ein Dossier über Mikael Blomqvist und gerät so langsam aber unaufhaltsam hinein in die spätere Aufklärungsarbeit um das Verschwinden von Harriet Vanger. Auf diesem Weg begegnen uns immer wieder (sexuell) gewalttätige Männer, seien es Salanders gerichtlich bestimmter, sadistischer Betreuer oder ein nach Bibelzitaten mordender Psychopath. Der ganze Roman gerät zu einer atemlosen Schnitzeljagd in der einzelne Puzzlestücke zu immer neuen Fährten führen, die den Leser in permanenter Spannung halten und nach Aufklärung verlangen. Dass neben der Gewalt hier auch wieder die Religion ins Spiel kommt, gepaart mit Alt-Nazis, Folter, Sexualität und Perversen, erinnert an das Erfolgsrezept Dan Browns, auch wenn Larsson bislang weniger mystisch daherkommt.

Das Interessanteste für mich am Roman ist das ungleiche Gespann Blomqvist und Salander, die gleich ihren klassischen Vorbildern Holmes und Watson den Fall zu lösen versuchen. Ganz klar kommt hier Lisbeth Salander die Rolle des Sherlock Holmes zu, zeigen doch beide soziale Auffälligkeiten und Skurilitäten bei gleichzeitiger Genialität. Blomqvist dagegen spiegelt weniger einen typischen Watson. Vielmehr verwundert seine 'unkompliziert freie' Einstellung gegenüber Partnerschaft und Sexualität, die übrigens auch bei Salander betont wird. Aber gerade auch diese Brüche in den handelnden Charakteren geben den Hauptfiguren eine interessante Note, so dass es dem geneigten Leser niemals langweilig wird. Dennoch hätte ich mir zumindest bei den Bösewichten der Geschichte etwas mehr Tiefgang gewünscht. So abnormal uns das Böse auch gegenübertreten mag, ist es doch auch das Wiedererkennen einzelner charakterlicher Merkmale in uns selbst, die uns erschauern lassen, wenn wir detaillierter in die abstruse Geisteswelt des Verbrechers eingeführt werden.
"Natürlich sind meine Taten sozial nicht akzeptabel, aber mein Verbrechen ist in erster Linie ein Verbrechen gegen die Konventionen der Gesellschaft. Der Tod kommt immer erst am Ende des Aufenthalts meiner Gäste, wenn ich ihrer überdrüssig geworden bin. Es ist immer wieder faszinierend ihre Enttäuschung zu sehen...Sie glauben, wenn sie mir zu Willen sind, dann werden sie überleben. Sie unterwerfen sich meinen Regeln. Sie fangen an, mir zu vertrauen, beginnen einen Kameraden in mir zu sehen, und bis zum Schluss hoffen sie, dass diese Kameradschaft etwas bedeutet. Die Enttäuschung kommt dann, wenn sie merken, dass ich sie an der Nase herumgeführt habe." (Seite 529)
Etwas seltsam auch das Zitieren von detaillierten Angaben zur verwendeten Computerhardware (iBook 400 MHz, etc.). Zwar zeigt dies, dass der Autor zum Zeitpunkt des Erscheinens (2005) auf der Höhe der Zeit war, lässt das Ganze aber heute in unserer besonders schnellebigen Zeit schon wieder etwas antiquiert wirken. Ich würde das ja gar nicht hier bemerkt haben, wenn es sich nicht durch das gesamte Werk gleich dem zuvor bemerkten 'Kaffee mit belegten Broten' hindurchziehen würde. Ich hatte sogar die Vermutung, dass es sich schlicht um Product Placement handeln könnte - werden doch Apple, Dell und IKEA prominent und immer wieder genannt -, das der aktuelle Rechteinhaber des millionenfach verkauften Romans teuer vermarktet. Dennoch bin ich gespannt, was die beiden Folgebände bringen werden, auch wenn ich mich jetzt erst einmal anderer Lektüre zuwenden werde.

Fazit: Ein flott zu lesender schwedischer Kriminalroman mit einem ungewöhnlichen Detektivgespann, einer ganzen Menge Gewalt und Sexualität, der aber durch seine spannende Konstruktion für äußerst kurzweilige Lektürestunden sorgen wird. Lesen!


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Freitag, 5. Februar 2010

Ein Brief verändert die Welt - Keith Devlin 'Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks'


Es dreht sich tatsächlich um einen Brief, der den Gang der Welt im 17. Jahrhundert für immer verändern sollte und der zur Grundlage unseres heute alltäglich gewordenen Verständnisses für Begriffe wie Risiko oder Wahrscheinlichkeit werden sollte. Genauer genommen geht es um den kurzen Briefwechsel zweier großer Mathematiker, der die Geburt der Wahrscheinlichkeitsrechnung einläuten sollte, und der den Rahmen für ein kurzes Buch eines wichtigen Kapitels der Mathematikgeschichte aufspannt.

Keith Devlin, seines Zeichens Mathematiker, ist seit 1983 Kolumnist der britischen Zeitung 'The Guardian' und produzierte zahlreiche populärwissenschaftliche Sendungen der BBC zum Thema 'moderne Mathematik'. Im vorliegenden Buch 'Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks' führt er uns auf unterhaltsame Weise in die Geschichte der mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnung ein. Das scheint auf den ersten Blick nur bedingt zu einer spannenden Lektüre werden zu können. Als Rezensent bin ich wahrscheinlich auch aufgrund meiner mathematischen Ausbildung ein wenig voreingenommen, weshalb ich auch bei den nicht so mathematik-affinen Zeitgenossen im Voraus bereits um Entschuldigung für eventuell nicht zu begreifende 'Begeisterung' über mathematikgeschichtliche 'Kleinigkeiten' bitten möchte...

Untertitelt wird das Buch vom Verlag C.H.Beck mit dem Untertitel "Eine Reise in die Geschichte der Mathematik". Dabei werfen wir lediglich einen kurzen Blick auf einen kleinen, aber wichtigen Teilbereich dieser Wissenschaft, dessen Konsequenzen heute immer und überall unseren Alltag und unser Leben bestimmen. Diese Wichtigkeit zu betonen wird Keith Devlin auch nicht müde, und so wird es dem Leser Kapitel für Kapitel immer wieder und wieder mit vielleicht etwas zuviel Pathos vorgebetet.

Wie so manches andere mal auch, muss ich mich fragen, wer für die Übersetzung der Titel bei den Verlagen die Verantwortung trägt. Im Original lautet dieser "The Unfinished Game. Pascal, Fermat, and the 17th Century Letter That Made the World Modern.". Der Originaltitel trifft absolut den Inhalt des Buches, schließlich geht es um eben diesen Brief, den wir Stück für Stück in den 10 Kapiteln des Buches präsentiert und erläutert bekommen, und der am Ende noch einmal komplett in Kapitel 11 abgedruckt wird.
"Heutzutage erscheint uns der Gedanke, dass Zukunft etwas mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hat, so selbstverständlich, dass wir uns das Leben kaum anders vorstellen können...." (Seite 9)
Was ist nun das Besondere an diesem Briefwechsel der beiden wohl größten Mathematiker ihrer Zeit? Pierre de Fermat ist vielleicht auch dem Nichtmathematiker ein Begriff. Die 'Fermatsche Vermutung' (heute 'Großer Fermatscher Satz'), ein Problem aus der Zahlentheorie, galt für Jahrhunderte als unlösbar, bis sie 1994 von Andrew Wiles tatsächlich bewiesen werden konnte. Ihr Ursprung lag in einem kleinen handschriftlichen Kommentar, den Fermat an den Rand eines Buches über Arithmetik des antiken Mathematikers Diophant kritzelte. Er habe dafür, so kommentierte er weiter, einen wunderbaren Beweis gefunden, für den aber der Platz am Rand dieses Buches nicht ausreiche. Und so bemühten sich ganze Mathematikergenerationen vergeblich, diesen 'verlorenen' Beweis der Fermatschen Vermutung zu erbringen. Dieses Vorgehen Fermats - eine mathematische Behauptung aufzustellen, aber deren Beweis nicht offenzulegen - hatte bei ihm übrigens Methode, wie Keith Devlin in seiner unterhaltsamen Lebensbeschreibung des großen Mathematikers berichtet. Übrigens war Fermat zeit seines Lebens lediglich ein mathematischer Amateur, d.h. sein eigentlicher Brotberuf war Anwalt. Er veröffentlichte keine mathematischen Schriften, sondern korrespondierte in Form von Briefen mit den Geistesgrößen seiner Epoche.

Fermats Gegenpart in diesem Briefwechsel war Blaise Pascal, ebenfalls ein Gigant in Sachen Philosophie und Mathematik. Sein Vater, Etienne Pascal war übrigens auch Mathematiker (und Steuereinzieher). Allerdings hielt er die Mathematik nicht förderlich für die moralische Entwicklung seines Sohnes und verweigerte ihm jeglichen Mathematikunterricht und mathematische Lektüre. Dies half allerdings nicht viel. Mit 12 Jahren bereits befasste sich der kleine Pascal heimlich mit Mathematik und entdeckte ohne fremde Hilfe die Grundlagen der Geometrie (er bewies, dass die Winkelsumme in einem Dreieck stets 180 Grad beträgt). Das Wunderkind veröffentlichte mit 16 Jahren seine erste wissenschaftliche Arbeit und konstruierte eine einsatzfähige, mechanische Rechenmaschine, um seinen Vater bei seiner Arbeit als Steuereinzieher zu unterstützen. (Den Programmierern und Informatikern unter uns dürfte Pascal durch die nach ihm benannte von Nikolaus Wirth entwickelte Programmiersprache bekannt sein.)

Das Problem, um das es sich im ersten im Jahre 1654 geschriebenen Brief des jungen Pascal an den berühmten Fermat drehte, war das Würfelspiel. Kurz beschrieben ging es darum, dass ein Spieler das gesamte Würfelspiel gewinnt, wenn er in 5 einzelnen Würfen gewonnen hat. Was passiert aber, wenn das Spiel bereits zuvor abgebrochen wird, wenn sagen wir, ein Spieler in 3 Würfen gewonnen hat und der andere nur in 2 Würfen. Wie muss dann der Gewinn aufgeteilt werden? Die Lösung zur Problematik des abgebrochenen Würfelspiels sollte zur Grundlage unserer modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung werden. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass zuvor der Begriff "Wahrscheinlichkeit", so wie wir ihn heute verstehen, keine Bedeutung hatte. Die Wahrscheinlichkeit beziffert die Chance eines Ereignisses, das noch nicht stattgefunden hat. Aus Sicht der damaligen Menschen, konnte aber kein Mensch Aussagen über die Zukunft machen, weil ja Gott alleine für diese verantwortlich ist und die Geschicke der Menschen leitet. Und Gott kann man nicht berechnen!

Mit der Geburt der Wahrscheinlichkeitsrechnung ändert sich das gesamte Weltbild. Die Zukunft wird tatsächlich berechenbar. Heute sind wir uns dessen bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit mit einem Flugzeug abzustürzen sehr, sehr gering ist. Wir schließen 'Wetten' auf dem Aktienmarkt ab, weil wir das Risiko einschätzen können. Jegliche Form des modernen Risikomanagements hängt mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff zusammen, und dieser nimmt seinen Ausgangspunkt in dem vorgestellten Briefwechsel.
"Nachdem das Problem des Spielabbruchs gelöst war und die Wahrscheinlichkeitstheorie akzeptiert wurde, setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Sterblichen über die Zukunft doch ein gewisses Maß an Kontrolle hatten." (Seite 60)
Das Buch gibt auch einen kurzen geschichtlichen Rückblick darauf, wie sich die Mathematiker vor Fermat und Pascal mit der Wahrscheinlichkeit herumgeschlagen haben, schließlich gab es bereits in der römischen Antike das Prinzip der 'Leibrente', d.h. man zahlt einmalig oder in Raten einen Betrag ein und erhält dann bis zu seinem Lebensende periodisch einen (festen) Betrag als Rente ausgezahlt. Der 'Rentenversicherer' schließt dabei eine Wette darauf ab, dass der Versicherte möglicherweise früher stirbt, als er dies dem Mittel nach täte.

Die Briefe Pascals und Fermats sind nicht wirklich einfach zu lesen - insbesondere, wenn man sich das Buch als Bettlektüre ausgesucht hat. Der Autor gibt sich aber große Mühe, diese in eine (fasst) allgemeinverständliche moderne Sprache mit einem Minimum an mathematischen Formeln zu übersetzen, was ihm nach meinem Dafürhalten sehr gut gelungen ist. Mir persönlich kam der Abriss der Mathematikgeschichte (der Wahrscheinlichkeit) etwas zu kurz - vor allem, wenn man den Untertitel der deutschen Ausgabe in Betracht zieht. Die Aufmachung des Buches besticht durch seinen sorgfältig gewählten, differenzierten Schriftsatz und die (leider etwas wenigen) Abbildungen. Ich hätte mir insgesamt noch etwas mehr Inhalt gewünscht.

Fazit: Ein sehr spezielles Buch das zwar ein Thema aufgreift, das heute zum Allgemeingut geworden ist, dessen mathematische Grundlagen doch für die meisten Laien einen Tick zu weit gehen werden. Trotz aller Allgemeinheit der Darstellung ist das Buch wahrscheinlich nur für einen kleinen Leserkreis interessant, für den das Buch dann selbst aber auch gerne etwas ausführlicher hätte ausfallen können.

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Sonntag, 31. Januar 2010

Fulminanter Genreauftakt des englischen Kriminalromans - Wilkie Collins 'Der Monddiamant'


Glaubt man doch im Allgemeinen, Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes stehe am Anfang der Gattung des englischen Kriminalromans, sollte man noch gut 20 Jahre weiter zurück in die Vergangenheit zurückgreifen und Wilkie Collins lange Zeit vergessenen und aus ungewohnter Perspektive geschriebenen Klassiker lesen, der bereits alle Elemente enthält, die den englischen Kriminalroman überhaupt ausmachen. Ein fulminanter Start für ein ganzes Literaturgenre also, das aber ebenso auf noch berühmtere Vorbilder zurückgreift...

Das 19. Jahrhundert, der 'Aufbruch der Moderne', erscheint uns aus unserer heutigen postmodernen Sichtweise oft als 'gute alte' und vor allen Dingen 'geruhsame' Zeit. Der Erdball aber begann bereits zu schrumpfen, die industrielle Revolution erreichte ihre ersten Höhepunkte, Telegrafie und Eisenbahn versetzten das damalige Leben in einen Zustand ungeahnter Beschleunigung. An der Grenze zu dieser Epoche liegt auch die Entstehung des literarischen Genres des Kriminalromans. Einer seiner ersten und heute leider zumindest im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannten Vertreter ist Wilkie Collins, der mit seinen Romanen 'Die Frau in Weiß' (1860, steht bereits auf meiner Leseliste) und 'Der Monddiamant' (1868) das Genre entscheidend prägen sollte.

Der Monddiamant, das ist ein außergewöhnlicher Diamant, der seinen Namen seiner Herkunft verdankt, da er ursprünglich an der Stirn einer indischen Mondgottheit angebracht seine wechselvolle und fluchbeladene Geschichte begann, ganz ähnlich dem Kohinoor der englischen Kronjuwelen. 1799 belagern englische Truppen das indische Seringapatham und der draufgängerische John Herncastle bringt den Stein in seinen Besitz und anschließend nach England.
"In puncto Tapferkeit - das muss man sagen - war er eine Mischung von Bulldogge und Kampfhahn mit einem Schuss von 'Wildem' dazwischen." (Seite 27)
50 Jahre später soll seine noch nicht mündige Nichte Rachel Verinder den Diamanten erben. Ihr Cousin Franklin Blake überbringt ihr den Stein aus dem sicheren Safe der Bank in London nach Yorkshire zum Landsitz der Familie Verinder. Doch seit der Stein aus Indien nach England verbracht wurde, suchen dessen ursprüngliche Besitzer ihn zurückzugewinnen. Überall durchzieht der Schatten der drei geheimnisvollen Inder den Roman, die dem Stein auf der Spur sind. Auf der Geburtstagsfeier der jungen Miss Verinder kommt es schließlich, wie es kommen muss. Am folgenden Tag ist der Diamant verschwunden und die Aufklärung des Verbrechens beginnt.

Collins lässt diesen Roman aus der ungewohnten Perspektive verschiedener Personen erzählen, deren Aufzeichnungen quasi wie in einer Art Briefroman den Ablauf der Handlung zusammenfügen. Als erstes tritt uns Gabriel Betteredge gegenüber, der fast 70 Jahre alte und etwas schrullige Haushofmeister der Familie Verinder, der die Geschehnisse bis zum ersten Abbruch der Ermittlungen schildert. Betteredges universeller Ratgeber dabei ist Daniel Defoes 'Robinson Crusoe', den er als Zitat in allen Lebenslagen versucht an den Mann zu bringen.
"Ich teile durchaus die Ansicht...wie man seine Frau aussuchen sollte...Sie müsste ihr Essen gut kauen und ihre Füße fest aufsetzen; dann wäre alles in Ordnung." (Seite 12)

Franklin Blake, Überbringer des Diamanten und Rachels Cousin, hat sich in seine Cousine verliebt und versucht sich ebenso wie Betteredge als Laiendetektiv an der Aufklärung des Falls. Dabei unterstützen die beiden den berühmten, extra aus London herbeigerufenen Sergeant Cuff, der seinen stümperhaften lokalen Vorgänger Inspector Seagrave ablösen soll. Auch hier wieder die Charakterisierung von Typen, wie sie später zum Standardinventar des englischen Detektivromans zählen werden: der tumbe lokale Polizeiinspektor wird vom genialen Profidetektiv abgelöst, Laien versuchen sich zusätzlich an der Aufklärung des Falls, darunter auch Franklin Blake als 'Gentleman Detective'. Zudem dient als Ort des Verbrechens ein englischer Landsitz. Godfrey Ablewhite, noch ein Cousin Rachel Verinders, hat ebenfalls ein Auge auf Rachel geworfen, wird jedoch bei seinem Antrag abgewiesen. Die Ermittlungen gehen voran, falsche Fährten werden gelegt, verfolgt und wieder verworfen, Rachel Verinder erweist sich als völlig unzugänglich und verweigert komplett ihre Mithilfe, wodurch sie ebenfalls in Verdacht gerät. Betteredges Aufzeichnungen enden mit dem Aufbruch Lady Verinders und ihrer Tochter nach London und dem damit vorläufigen Ende der Ermittlungen.
"Solange ich nun schon meine Erfahrungen auf den schmutzigen Wegen dieser schmutzigen kleinen Welt gesammelt habe, ist mir so etwas wie eine 'lächerliche Kleinigkeit' noch nie begegnet." (Seite 75)
Der Faden des Geschehens wird nun von Drusilla Clack aufgenommen, ihres Zeichens eine verarmten (unverheirateten) Cousine Rachels und eine Art religiöser Fanatikerin, die ständig versucht, ihre Verwandschaft 'auf den rechten Pfad der Tugend' zu führen und damit meist in mehr oder weniger lächerlichen Szenen endet. Erneut wagt Godfrey Ablewhite einen Antrag, stößt zunächst auf Zustimmung, wird dann aber schließlich doch wieder abgewießen. Was ist nur los mit dieser Rachel? Weitere Ermittlungen werden von Matthew Bruff, dem Anwalt der Familie Verinder und von Franklin Blake selbst geschildert, der schließlich dem Verbrechen auf die Spur kommen soll. Um die Exotik der Ausgangssituation aufzugreifen und weiter auszureizen, kommen jetzt auch noch Drogen und Drogenerfahrungen mit ins Spiel, was dem Roman schließlich auch einen modernen Charakter schenkt und gewiss zu seiner ursprünglichen Popularität beigetragen hat.

Natürlich klärt sich am Ende alles auf. Wie, das wird hier nicht verraten, um dem zukünftigen Leser die Spannung nicht zu nehmen. Ich hatte das Glück, eine sehr schöne Halblederausgabe des Romans von 1949 aus dem Hera Verlag zu ergattern (siehe Foto). Die alte Übersetzung von Sigfried H. Engel trägt einiges dazu bei, dass dem heutigen Leser die Handlung an manchen Stellen allzu beschaulich und langsam erscheinen mag. Andererseits wird den handelnden Figuren viel Spielraum zubemessen, um ihren Charakter zu entfalten. Schließlich konnte Collins noch nicht auf die Stereotypen zurückgreifen, die es heute in der Kriminalliteratur zu finden gibt, und die sich heute mit nur wenigen Worten charakterisieren lassen. Sehr schön gelungen sind vorallem die verschiedenen Erzählperspektiven. Sie halten die Spannung aufrecht und sorgen dafür, dass der Leser stets nicht mehr weiß oder erahnt, als die gerade erzählende Person. Neben den ernsteren Charakteren treten auch die beiden skurilen Typen Betteredge und Drusilla Clack auf, die zur Handlung einen humoristischen Einschlag beisteuern.

Der wohl berühmteste Vorgänger von Collins ist Edgar A. Poe, der mit seinem Meisterdetektiv Auguste Dupin das Genre schlichtweg begründete, das Collins gut 20 Jahre später in England erneut aufgriff und zu weiterer Vervollkommnung führte. Collins Romane besitzen wirklich bereits alle Eigenschaften und Charaktere, die ein moderner Kriminalroman heute in der ein oder anderen Abwandlung variiert. Schade nur, dass dieser Autor so lange in Vergessenheit geraten ist und erst wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (wenn auch zaghaft) auftauchte.

Fazit: Eine mit allen Wassern gewaschene, ungewöhnliche Kriminalgeschichte und vor allen Dingen ein Genreklassiker. Lesen!

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Samstag, 23. Januar 2010

Spiele der Macht im Alten Rom - Robert Harris 'Titan'


"Wir häufen für uns selbst Reichtümer an, während der Staat bankrott ist." Manche Dinge, so scheint es, die ändern sich nie. Auch wenn dieser Ausspruch Catos des Jüngeren aus dem Jahr 63 v. Chr. stammt, hat er auch heute noch nichts an seiner Aktualität verloren. So führt uns Robert Harris in seinem aktuellen Roman 'Titan' erneut ins alte Rom zurück und lässt uns die Zeit miterleben, in der Cicero als Konsul des Römischen Reiches auf dem Höhepunkt seiner Karriere die Verschwörung des Catilinas aufdeckt und vereitelt, bis er nur fünf Jahre später ins Exil gehen muss.

Ich hatte mich schon einige Zeit sehr darauf gefreut, den zweiten Band von Robert Harris Trilogie über das Leben des bekanntesten römischen Redners, Schriftstellers und Politikers Marcus Tullius Cicero, zu lesen. Den ersten Band 'Imperium', in dem Ciceros politischer Aufstieg bis hin zu den gewonnenen Konsulatswahlen im Jahr 64. v. Chr. geschildert wurde, hatte ich bereits 2007 gelesen und hier im biblionomicon besprochen. Um so spannender versprach die Fortsetzung zu werden, sollte es sich dabei doch um die vielen von uns aus dem Lateinunterricht bekannte 'Verschwörung des Catilinas' handeln, die die römische Republik an den Rande des Abgrunds führen sollte und die durch Ciceros Hilfe aufgedeckt und vereitelt werden konnte. Wir werden Zeuge von fünf besonders kritischen Jahren der römischen Geschichte zur Zeit des Niedergangs der Republik.
"Eine Zeitspanne, die wir sterblichen LUSTRUM nennen, die für die Götter aber nicht mehr als ein Blinzeln ist." (Seite 21)

Das Buch startet zur Jahreswende, dem Auftakt von Ciceros Konsulat, das er sich notgedrungen mit Gaius Antonius Hybrida teilen muss, einer wenig schillernden Marionettenfigur seiner politischen Gegner. Ein toter Sklavenjunge wird am Hafen aus dem Wasser gefischt, auf furchtbare Weise ausgeweidet. Wie sich herausstellen soll, stecken politische Verschwörer hinter diesem "Menschenopfer", mit dem sie ihre finsteren Pläne besiegeln wollten. Kopf der Verschwörergruppe ist Lucius Sergius Catilina, der bei der Wahl zum Konsulat von Cicero geschlagen wurde. Die Verschwörer bauen auf die politischen Spannungen zwischen Plebejern und Patriziern, dem gemeinen Volk und den Aristokraten. Auf abenteuerliche Weise gelingt es Cicero, hinter die Pläne der Verschwörer zu kommen und er wird seine erste berühmte 'Rede gegen Catilina' halten, die mit den vielzitierten Worten beginnt:
"Quo usque tandem, Catilina, abutere patientia nostra? - Wie lange noch, Catilina, willst Du unsere Geduld missbrauchen? " (Seite 221)
In all diesen politischen Verwicklungen taucht auch stets Gaius Julius Cäsar auf, dem es durch geschicktes Taktieren immer wieder gelingt aus allen Situationen für sich und seine politischen Ziele Kapital zu schlagen. Ciceros Waffe, die er geschickt wie kein Zweiter zu führen versteht, ist das Wort, während seine Gegner meist schlachterfahrene Strategen und Feldherren sind.
"In diesen Minuten glich Cicero einem ausgefuchsten Teppichhändler auf einem überfüllten Bazar, der verstohlen seinem Kunden erst über die Schulter blickt und dann nach hinten über die eigene Schulter schaut, dabei die ganze Zeit leise redet, beschwörend die Hände hebt und auf den Abschluss des Handels drängt." (Seite 196)"

"Ciceros größter Schwachpunkt als Staatsmann war seine Unkenntnis in militärischen Dingen." (Seite 117)

Denoch gelingt es ihm, ein Todesurteil für Catilina und seine Verschwörer durchzusetzen - doch dies soll ihm später noch zum Verhängnis werden. Zunächst ist er der Held der Stunde und wird sogar mit dem Titel 'Pater Patriae', dem Vater des Vaterlands geehrt. Sein Stern beginnt aber bereits kurz nach seinem Konsulatsjahr zu bröckeln. Pompeius Magnus, der große Feldherr, der in den vergangenen Jahren das römische Imperium im Osten bis weit über seine Grenzen hinaus 'befriedet' hat, kehrt zurück und bedrängt als neuer Machtfaktor die römische Hauptstadt. Marcus Licinius Crassus, vormals der wohl reichste Mann Roms, sichert sich nach allen Seiten hin ab und macht keinen Unterschied darin, mit wem er gerade paktiert, Hauptsache es gereicht ihm persönlich zum Vorteil. Übertroffen wird er darin nur noch von Cäsar. Nichts kann diesen davon abhalten, seine politischen Ziele mit allen Mitteln zu durchzusetzen. Am Ende muss Cicero um sein Leben bangen und wird ins Exil getrieben.
"Und weißt Du, warum Du so verdorben bist, Cäsar - schlimmer als Pompeius und Clodius, sogar schlimmer als Catilina? Du wirst solange keine Ruhe geben, bis wir alle vor dir auf die Knie gehen müssen." (Seite 520)
Der Roman selbst entpuppt sich bereits wie sein Vorgänger als wahrer "Pageturner". Flüssig geschrieben möchte man das Buch eigentlich gar nicht mehr aus der Hand geben. Erzählt werden die 5 Jahre der Handlung durch Ciceros Privatsekretär, dem Sklaven Tiro. Geschickt, denn so erleben wir diese Epoche aus der Sicht eines genauen Beobachters, der aber nicht in der Lage ist, die Beweggründe der handelnden Personen immer sofort zu durchschauen. Dieser Kunstkniff schafft den nötigen Abstand zu den vor über 2000 Jahren verstorbenen Personen der Handlung und macht das Miterleben für den Leser um so spannender. Immer wieder drängen sich dem Leser aber auch Parallelen zu den aktuellen politischen Themen auf, und man begreift, dass die moderne Welt gar nicht so modern ist, wie sie immer scheint. Politisches Intrigenspiel auf höchstem Niveau, das gab es bereits in der Antike und dagegen sind unsere Berliner Repräsentanten wahre Waisenknaben. Nur die Heuchelei, die steht heute weitaus höher im Kurs als noch vor 2000 Jahren. Damals nämlich war es durchaus legitim und in keiner Weise verwerflich, in aller Öffentlichkeit ganz unverfroren nach der politischen Macht zu gieren.

Aber bei aller Begeisterung gibt es auch einige Kritikpunkte. Erst einmal eine Frage an den Übersetzer bzw. wohl eher doch an den Heyne Verlag, der das Buch hier in Deutschland herausgebracht hat. Warum bitte in aller Herrgottsnamen habt ihr das Buch mit dem Titel 'Titan" verunstaltet?? Der Originaltitel lautet "Lustrum". Auch wenn es heute nicht mehr viele Bildungsbürger geben mag, die tatsächlich wissen, dass dieser Begriff für eine 5 Jahre andauernde Zeitspanne steht, der Autor selbst beendet ja das erste Kapitel seines Buches mit dem o.a. erläuternden Satz (Seite 21), in dem der Titel erklärt und auf ihn hingewiesen wird. Warum also ein anderer Titel? Warum in aller Welt Titan? Diese Frage hätte mir fast das Lesen verdorben. Der Begriff "Titan" taucht in den 540 Seiten des Buches nicht auf (wenn, dann habe ich ihn überlesen). Wahrscheinlich ist damit wohl Cäsar gemeint. Cicero kann es ja kaum sein, da er nach seinem Konsulatsjahr auf feinsäuberliche Art demontiert wird. Warum also, lieber Heyne Verlag? Da mag man es ja noch interessanter finden, dass der Roman auf der Webseite dieses Verlages sogar mit einem falschen Originaltitel (Conspiracy) geführt wird. Mein Rat: Suchen Sie sich für diese Art Bücher Lektoren, die wenigstens eine humanistische Schulbildung genossen haben und trauen Sie Ihren Lesern selbst ein klein wenig Bildungsarbeit zu.

Und wenn ich noch eine weitere Verlags-Schelte austeilen darf: Der auf dem Umschlag des Buches abgebildete Titusbogen ist zwar der älteste erhaltene römische Triumphbogen, doch er wurde 107 Jahre nach Ciceros Konsulat errichtet. Das wäre in etwa so, als würden auf dem Umschlag eines biografischen Romans über den US-amerikanischen Präsidenten Abraham Lincoln (Amtszeit 1861-1865) die Twin Towers des World Trade Centers (fertiggestelt 1973) abgebildet werden....Die englischen Kollegen von Hutchinson, bei dem der Roman im Original erschienen ist, die haben das wirklich besser hinbekommen (und das, obwohl Hutchinson ebenso wie Heyne eine Randomhouse-Tochter ist).

Robert Harris selbst ist ja gelernter Historiker. Dies zeigt sich auch vor allem darin, wie gut es ihm gelingt die wirklich komplexen politischen Handlungszusammenhänge in plastischer und stets spannender Manier zu entflechten und Schritt für Schritt aufzudecken. Natürlich wurde über die Catilinarische Verschwörung schon in der Antike geschrieben und es existiert dazu eine Menge historischer Literatur. Aber bei aller Genauigkeit ist mir doch folgendes aufgefallen. Das Buch startet zum Jahreswechsel des Jahres 63. v. Chr. In Rom fällt - im Roman - Schnee und es herrscht tiefster Winter. Da ich mich beruflich schon mehrmals mit unterschiedlichen Kalendern habe herumschlagen müssen, wurde ich hellhörig. Zwar stimmt es, dass auch das römische Jahr ab dem Jahr 153 v. Chr. mit dem 1. Januar begann, doch nicht umsonst reformierte Cäsar 45 v. Chr. das römische Kalendersystem und führte den nach ihm benannten julianischen Kalender ein, der in manchen Teilen der Welt sogar noch bis ins 20. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit behalten sollte. Dies war notwendig, weil der römische Kalender das Jahr nach dem Gang des Mondes berechnete und sich daher gegenüber dem Sonnenjahr immer weiter verschob. Cäsar musste 80 (!) Schalttage einfügen, um den Kalender wieder mit der Sonne und den Jahreszeiten zu synchronisieren. Damit startete Ciceros konsularisches Jahr bereits Mitte Oktober, eine Zeit, in der es in Rom wohl eher noch herbstlich warm war. Natürlich könnte es sich bei dem Jahr 63. v. Chr. um ein besonders kaltes Jahr gehandelt haben. Dem widerspricht aber Harris Beschreibung, als der Senat Anfang April in die Frühlingspause geht, und Ciceros Familie bereits warme und sonnige Tage an der See verbringt - was dann ja wohl eher Mitte Januar bedeutet.

Aber Harris charakterliche Schilderungen der Hauptpersonen sind qualitativ über jeden Zweifel erhaben. Insbesondere die innere Widersprüchlichkeit Ciceros, dem einerseits immer an Ehre und Gewissen sowie am Wohle des Landes gelegen ist, der andererseits aber auch nicht vor politischen Winkelzügen bis hin zum Betrug zurückschreckt. Besonders geheimnisvoll taucht dann immer wieder Cäsar auf. Ein hochintelligentes Monstrum, ein strategisches Genie, ein schillernder Frauenverführer, der immer wieder auf die Füße fällt und selbst noch aus Niederlagen Gewinn zu ziehen versteht. Ein ganz anderes, aber nichts desto trotz faszinierendes Charakterbild Julius Cäsars zeichnet Thornton Wilder in seinem ganz besonders zu empfehlenden Briefroman "Die Iden des März", in denen Cäsars letztes Lebensjahr in literarisch großartiger Weise geschildert wird.

Fazit: Ein auf jeder Seite spannendes Intrigenspiel um die Macht im alten Rom zur Zeit des Niedergangs der römischen Republik, das gewollt oder nicht, zahlreiche Parallelen in unsere heutige Zeit ziehen lässt und dadurch noch an Brisanz und Aktualität gewinnt. Meine o.a. Kritikpunkte sind - außer der Verlags-Schelte - wohl eher etwas für die "ewigen Besserwisser" unter uns und schmälern den Lesegenuss in keiner Weise. LESEN!

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Dienstag, 12. Januar 2010

Experimentelle Erzählkunst - Virginia Woolf: Mrs. Dalloway


Ich habe noch nie zuvor etwas von Virginia Woolf gelesen. Ehrlich gesagt, kannte ich ihren Namen bislang nur aus dem Theaterstück "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", das ja außer dem Namen nun eigentlich gar nichts mit Virginia Woolf zu tun hatte. Also, ich gehe einmal davon aus, dass wir alle schon einmal den Namen der Autorin in dem ein oder anderen Zusammenhang gehört haben, dass aber nur die wenigsten unter uns wirklich einen Roman von ihr gelesen haben...


Daher habe ich heute das Vergnügen, einen der 'großen' Romane der britischen Schriftstellerin und Verlegerin Virginia Woolf vorzustellen: "Mrs. Dalloway". Clarissa Dalloway ist anfang Fünfzig (etwas älter als die Autorin zur Zeit der Entstehung des Werkes) und plant für den Abend eine Gesellschaft zu geben. Der Roman spielt in der Jetztzeit (bezogen auf die Entstehung des Werkes, d.h. 1923) und die beiden Stränge der Haupthandlung umfassen einen Zeitraum von lediglich ca. 12 Stunden. Wir begleiten Mrs. Dalloway auf ihrem Weg durch London hin zu einem Blumengeschäft, wobei wir quasi 'live' ihren Gedankengängen folgen können. Sie trifft ihren alten Bekannten Hugh Whitbread, ein Snob, der einen kleinen Posten bei Hofe innehat, und der am Abend zu ihrer Gesellschaft erscheinen wird. Wieder zuhause angekommen, wo die Dienstboten mit den Vorbereitungen für den Abend beschäftigt sind, schneit unvorbereitet Peter Walsh, der seit vielen Jahren nicht mehr gesehene Jugendfreund Clarissas herein, gerade wieder aus dem fernen Indien zurückgekommen, um sich mit seinen Anwälten über eine Scheidung zu beraten. Es kommt bei dem unvermittelten Treffen zu einem intensiven emotionalen Moment, bei dem Peter, der es niemals richtig verwundet hatte, dass Clarissa Richard Dalloway an seiner Stelle geheiratet hatte, in Tränen ausbricht.
"Peter Walsh war aufgestanden und zum Fenster hinübergegangen und stand mit seinem Rücken zu ihr und wedelte mit einem Bandanno-Taschentuch. Herrisch und trocken und verzweifelt sah er aus, seine dünnen Schulterblätter hoben seinen Rock ein wenig; er putzte sich schnaubend die Nase. Nimm mich mit, dachte Clarissa leidenschaftlich, als breche er umgehend zu einer großen Reise auf; und dann, im nächsten Augenblick, war es, als wären die fünf Akte eines Stückes, das sehr aufregend und bewegend gewesen war, nun zu Ende und als hätte sie ein Leben lang in ihnen gelebt und wäre davongelaufen, hätte mit Peter gelebt, und jetzt war es zu Ende." (Seite 49)

Im zweiten Handlungsstrang der Geschichte gehen Septimus Warren Smith und seine Frau Lukrezia im Park spazieren. Septimus leidet unter traumatischen Kriegserlebnissen und wird von Wahnvorstellungen (sein gefallener Freund Evans erscheint ihm bei jeder Gelegenheit) und Depressionen (er droht mit Selbstmord) heimgesucht. Die beiden begegnen Peter Walsh im Vorübergehen kurz im Park (erste Verknüpfung der Handlungsstränge). Später wird Septimus seine Drohungen wahr machen und sich aus einem Fenster zu Tode stürzen. Sein behandelnder Arzt, Sir William Bradshaw ist Gast auf Clarissa Dalloways Abendgesellschaft - und so treffen sich am Ende die beiden Handlungsstränge als Bradshaw vom Selbstmord seines Patienten erzählt. Peter Walsh fühlt sich dort fremd und begegnet alten Freunden aus der Zeit, bevor er in den Kolonialdienst nach Indien gegangen ist und alle stellen sie fest, dass sie sich (wie auch die Zeiten) verändert haben.
"Die Entschädigung für das Altern, dachte Peter Walsh, als er Regent's Park verließ, den Hut in der Hand, war einfach das; daß die Leidenschaften so heftig wie je bleiben, aber man - endlich! - die Kraft erworben hat, die das Dasein um die höchste Würze bereichert - die Kraft, sich der Erfahrung zu bemächtigen, sie langsam um und um, ins Licht, zu kehren." (Seite 81)

Tja...viel passiert eigentlich nicht in diesem Roman. Dennoch ist er prall gefüllt mit den fließenden Gedanken der Hauptakteure, zwischen denen ständig hin und her gesprungen wird. Dies macht die Geschichte nicht gerade zu einer 'leichten' Kost, da man nicht einfach dem Fluss der Geschehnisse folgen kann, sondern ständig Gedankensprünge und unterschiedliche Perspektiven einnehmen muss. Interessant ist dabei immer das stetige Auftauchen der Glocke von Big Ben, deren stündliches Läuten den Fluss der Handlung streng strukturiert und auch synchronisiert.

"Die Uhr schlug. Die bleiernen Ringe lösten sich in der Luft auf." (Seite 189)

Irgendwie erwartet man ständig, dass doch noch etwas geschieht. Und eigentlich kann man sich auch nicht beklagen, denn es wird ein lebendiges Beziehungsgeflecht zwischen den auftretenden Personen entwickelt, dass sich aus kurzen Rückblenden in die gemeinsame Jugendzeit bis hin zur aktuellen Erzählzeit zusammensetzt. Insgesamt herrscht im Roman keine lebensbejahende und hoffnungsvolle Stimmung, eher das Gegenteil. Alles ändert sich, ist im Wandel begriffen. Das festzustellen, bleibt Clarissa Dalloway am Ende, als sie bei der Nachricht des Selbstmords eines Unbekannten am erkennt, dass sie noch einmal davongekommen war...

"Es gab etwas, worauf es ankam; etwas, von Geschwätz überwuchert, verunstaltet, verdunkelt, in ihrem eigenen Leben, das jeden Tag in Falschheit, Lügen, Geschwätz versank. Das hatte er [Peter Walsh] bewahrt. Der Tod war Trotz. Der Tod war ein Versuch, sich mitzuteilen, wenn Menschen die Unmöglichkeit empfanden, zum Innersten vorzudringen, das sich ihnen, mystisch, entzog; Nähe trennte; Entzücken verging; man war allein. Im Tod lag Umarmung." (Seite 187)

Starker Tobak, zugegeben, und wirklich nicht immer ein Vergnügen beim Lesen. Mrs. Dalloway war der zweite "experimentelle" Roman Virginia Woolfs, in dem sie ihre neuen Darstellungs- und Gestaltungstechniken (innerer Monolog und Bewusstseinsstrom) erprobte. Die Art und Weise erinnert mich an James Joyce, wenn auch manchmal kondensierter und intensiver. Tatsächlich hatte sie zuvor auch den 'Ulysses' gelesen, der ihrem Verlag angeboten wurde, dessen Publikation sie aber verwarf ("Ein primitives, ungebildetes Buch, scheint mir."). Der ursprünglich geplante Titel des Romans lautete "The Hours". Unter dem selben Titel erschien 1999 ein Roman von Michael Cunningham, in dem er drei Generationen von Frauen vorführt - unter anderem auch Virginia Woolf selbst - wie ihr Leben durch den Roman "Mrs. Dalloway" beeinflusst wird. "The Hours" wurde 2002 mit Meryl Streep, Julianne Moore und Nicole Kidman verfilmt, die für ihre Darstellung der Virginia Woolf in diesem Film den Oscar erhielt.

Fazit: Unzweifelhaft ein Stück Weltliteratur, auch wenn der Roman die Bezeichnung "experimenteller Roman" zu Recht wohl verdient hat und so wieder einmal nicht jedermanns Geschmack treffen wird. Als Leser sollte man (oder Frau) sich etwas Zeit nehmen und den Text auf sich wirken lassen, um seine Qualitäten erkennen zu können. Dahinter steckt aber zugegebenermaßen auch etwas Arbeit. Daher ist dies auf keine Fälle ein Roman für Zwischendurch, für den Nahverkehr am frühen Morgen oder für die kurze Zeit vor dem Einschlafen. Trotzdem LESEN!

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