Sonntag, 7. August 2011

Präzision und Vorurteile - Dava Sobel 'Längengrad'

Eigentlich hatte ich hinter dem Titel einen historischen Roman um das geschichtlich verbürgte Problem der Längengradbestimmung erwartet, aber Dava Sobels Essay fasst die historischen Details dieser spannenden Geschichte sachlich präzise und dennoch überaus unterhaltsam in chronologischer Weise zusammen. Dabei ist es den heutigen Zeitgenossen gar nicht bewusst, dass die Bestimmung der genauen Position auf See ein immens wichtiges Problem war, dessen Lösung lange Zeit nahezu unmöglich schien.

Worum geht es überhaupt? Versetzen wir uns einfach einmal zurück in das Zeitalter der Entdeckungen. Wir alle kennen die Geschichte(n) um Christoph Kolumbus und wie er seine Geldgeber versuchte zu überzeugen, dass er eine westliche Route nach Indien finden könnte und dass die Entfernung dorthin quer über den Atlantik doch gar nicht so weit wäre. Das Problem dabei ist klar. Die Erde hat die Gestalt einer Kugel. Um die Entfernung zweier beliebiger Punkte voneinander zu bestimmen, muss ich wissen, (a) wie groß die Kugel insgesamt ist und (b) welche Koordinaten beide Punkte auf der Kugel besitzen.

Kann die exakte Position nicht bestimmt werden, gerät jede Seefahrt zum Vabanque Spiel. So schrieb Samuel Pepys 1683 während einer Reist nach Tanger in sein berühmtes Tagebuch:
"Angesichts der ungewissen Positionsbestimmungen und der absurden Theorien, die in diesem Zusammenhang aufgestellt werden, und des Durcheinanders, das unter den Leuten herrscht, ist völlig klar, dass sich nur durch göttliche Vorsehung, durch Zufall und aufgrund der Weite des Meeres nicht noch mehr Katastrophen in der Seefahrt ereignen als ohnehin schon."(Seite 27)
Jeder Punkt auf der Kugel wird durch den jeweiligen Breitengrad (in Nord-Süd-Richtung) und Längengrad (in Ost-West-Richtung) exakt in seiner Position bestimmt. Wie können wir nun diesen Punkt feststellen? Die Erde dreht sich in 24 Stunden einmal um sich selbst und in ca. 365 Tagen einmal um die Sonne. Damit bewegt sich der Sternenhimmel scheinbar um uns herum. Die Erdachse ist dabei gegenüber der Sonne geneigt, so dass die Sonne im Laufe des Jahres am Himmel wandert, d.h. wenn ich stets zur Mittagszeit den Sonnenstand betrachte, schwankt dieser in fest vorgegebenen Grenzen bzgl. meiner aktuellen nördlichen bzw. südlichen Breite. Auf diese Weise bestimmen Seefahrer schon seit langer Zeit, auf welchem Breitenkreis sie sich befinden. Ein Sextant hilft dabei, die Höhe der Sonne zur Mittagszeit zu bestimmen.

Anders steht es mit der geografischen Länge. Hier gibt es eigentlich keinen festen Bezugspunkt am Himmel, nach dem wir uns zu seiner Bestimmung richten könnten. Eine einfache Methode bestünde aber darin, zu wissen, wie groß die Zeitdifferenz zwischen zwei geografischen Punkten ist, d.h. wie spät ist es gerade in meinem Heimathafen, während ich unter fernen Gestaden exakt zur Mittagszeit den Stand der Sonne bestimme? Wäre diese zeitliche Differenz bekannt, könnte man auch den jeweiligen Längengrad einfach berechnen, indem man für das komplette Erdenrund die 24 Stunden herannimmt, die die Erde für eine Drehung um sich selbst benötigt. Beträgt die zeitliche Entfernung eine Stunde, dann beträgt die geografische Distanz genau 1/24 des 360° Vollkreises, d.h. 360°/24=15°.

Jetzt sind diese Angaben noch relativ zur Erdgröße zu betrachten, d.h. zur Bestimmung der exakten Entfernung müssen wir wissen, wie groß die Erde ist. Dieses Problem konnte bereits in der griechischen Antike gelöst werden. Eratosthenes von Kyrene löste das Problem des Erdumfangs im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, indem er die Schattenlängen zur Mittagszeit an einem bestimmten Tag des Jahres sowohl in Alexandria am Mittelmeer als auch im entfernten Syene (dem heutigen Assuan) maß, das annähernd auf dem selben Meridian (Längengrad) lag. Mit Hilfe einer einfachen Dreiecksberechnung gelang es Eratosthenes, den Erdumfang erstaunlich exakt zu berechnen.
"Unter Zuhilfenahme der Himmelskörper konnten nun die Dimensionen der Erde korrekt wiedergegeben werden. Als Ludwig XIV. eine revidierte Landkarte von Frankreich vorgelegt wurde, die auf korrekten Längengradmessungen beruhte, soll er sich beklagt haben, dass er mehr Land an seine Astronomen verloren habe, als an seine Feinde."(Seite 40)
Aber das sind ja nur die Geschichten hinter der eigentlichen Geschichte in Dava Sobels faszinierendem Buch. Beim Streit um die Lösung des Längengradproblems, für das das englische Parlament im Jahre 1714 eine Prämie von damals sagenhaften 20.000 Pfund ausgesetzt hatte, gab es zwei grundsätzlich verschiedene Lösungsansätze, deren Vertreter sich bis aufs Messer bekämpften. Da gab es die alteingesessenen Astronomen und Physiker, die eine mathematisch anspruchsvolle und praktisch sehr aufwändige Bestimmung des Längengrades mit Hilfe astronomischer Phänomene vorschlugen, und auf der anderen Seite die Präzisionsgerätehersteller, die eine Uhr erfinden wollten, die zum Einen über lange Zeit ganggenau sein musste und andererseits auch unter den unwirtlichen Bedingungen auf einem schwankenden und immer nassen Schiff präzise funktionieren musste.
"In der Folge wurde der Ausdruck 'den Längengrad finden' zum Synonym für ein aussichtsloses Unterfangen"(Seite 70)
'Längengrad' ist die Geschichte des Uhrmachers John Harrison, dessen Entwicklungsarbeit eines ganggenauen und robusten Chronometers zu einer wahren Gralssuche gerät. Immer wieder hat er gegen die Widerstände und Schikanen seiner Widersacher zu kämpfen, die ihm stets seine fehlende akademische Ausbildung zum Vorwurf machen. Auf unterhaltsam eloquente Weise gelingt es Dava Sobel, dem Leser diese spannende Geschichte um John Harrisons Jagd nach der genauen Zeit und den lebenslangen Kampf um seine Anerkennung in ihrem Essay nahezubringen.

Fazit: Es muss nicht immer ein Roman sein. Die Geschichte alleine ist oft schon spannend genug, selbst wenn es sich um 'trockene' Wissenschaft handelt. Lesen!


Dava Sobel
Berlin Verlag (2005)
240 Seiten
8,95 Euro