Montag, 1. November 2010

So fern und doch so nah... - Samuel Pepys Tagebuch


Vor sage und schreibe 350 Jahren führte der Beamte des Londoner Flottenamtes Samuel Pepys über 10 Jahre hinweg ein Tagebuch sorgfältig und in Kurzschrift, d.h. nicht für jedermann zu lesen. Diesem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass wir heute einen ungeahnten Einblick in das Leben des barocken Londons in den Jahren 1660-1669 gewinnen, aus der sehr persönlich gefärbten Perspektive eines bürgerlichen Aufsteigers und Genießers in der Zeit der Restauration des englischen Königtums unter Karl II. nach dem Tode Oliver Cromwells.


10. März 1666:
„Die meisten Männer, die es in der Welt zu etwas bringen, vergessen das Vergnügen während der Zeit, in der sie ihr Vermögen machen. Sie warten, bis sie es geschafft haben, und dann ist es zu spät, sich daran zu erfreuen.“
Tja, und genau das tut er auch, dieser Samuel Pepys, Beamter im Londoner Flottenamt, der es zum Präsidenten der Royal Society, zum Abgeordneten und Staatssekretär bringen soll. Dabei lässt er uns minutiös teilhaben an kleinen und großen Ereignissen in seinem Leben. 1633 in bescheidenen Verhältnissen geboren, ließ ihm ein wohlhabender Verwandter, Edward Montagu, der spätere Earl of Sandwich, eine gute Ausbildung angedeihen und nahm ihn unter seine Fittiche. Die Wirren der frühen Restaurationszeit nach dem Tode Cromwells überstand er als Sekretär Edward Montagues, der maßgeblich an den politischen Manövern zur Wiedereinführung der englischen Monarchie beteiligt war, unbeschadet und trat 1660 eine Stelle als Schreiber im Londoner Flottenamt an. Hier beginnt auch das besagte Tagebuch, das er annähernd 10 Jahre lang führen sollte.
8. März 1660
"Früh aufgebrochen. In Deal Pferde genommen. Hatte viel Mühe mit der Gitarre des Königs und mit Fairbrother, dem Halunken, dem ich aufgetragen hatte, zu Fuß zu gehen und sie zu tragen. Ich glaubte nämlich, ihn verfehlt zu haben. In Canterbury angekommen und dort gegessen. Den Pfarrer aufgesucht und die Überreste von Becketts Grab besichtigt...Nach Gravesend gekommen. Dort ein hübsches Mädchen geküsst, das erste, das ich seit langem gesehen hatte.
Mit Mylord zu Abend gegessen...Müde und erhitzt bei Mr. Moore zu Bett gegangen."
Seit 1665 gehörte Pepys auch der Royal Society an und lernt dort bedeutende Wissenschaftler seiner Zeit kennen, wie Isaac Newton, Christopher Wren, John Wilkins oder Robert Hooke, auch wenn er - wie er zugibt - deren Vorträge und Ausführungen nicht immer ganz verstand. Insbesondere sind es diese "kleinen" Schwächen, die er seinem Tagebuch anvertraut und die ihn für uns so lebensnah erscheinen lassen -- auch wenn er nicht unbedingt der liebenswerteste Zeitgenosse gewesen sein muss. Seine Freude und Begeisterung für guten Wein, Musik, Theater und natürlich das andere Geschlecht -- alles Dinge, die seiner puritanischen Erziehung zuwiderlaufen -- scheinen grenzenlos. Der Puritaner meldet sich nur in Form kleiner Gelübde zurück, die er alljährlich zum guten Vorsatz nimmt, um seinem Konsum an Alkohol und Vergnügen Herr zu werden.
20. August 1662:
"Mittag bei einem Mr. Barwell. Seine Frau sehr üppig gebaut, ihre Dienerin ein hübsches, braunhaariges Mädchen. Spüre, dass meine alte Neigung zum Wein wieder stärker wird."
Aber auch die großen historischen Ereignisse, wie die Ankunft des Königs Karl II. in England und das Wiedererstarken der Monarchie, der Krieg gegen die Holländer, die Pest und das große Feuer in London erleben wir aus Pepys ganz eigener Perspektive.
3. September 1665:
"Zog meinen neuen farbigen Seidenanzug an und meine neue Perücke. Was wohl für eine Mode in Perücken kommt, wenn die Pest vorüber ist? Jetzt wagt niemand, Haare zu kaufen, aus Angst, es könnte von einer Pestleiche stammen...Niemand nimmt sich die Probleme des Landes zu Herzen, jeder denkt nur an seinen persönlichen Vorteil oder an sein Vergnügen, der König kümmert sich nur um sein persönliches Wohlergehen - so treibt alles dem Untergang zu..."
Aber zu großer Popularität haben es doch die freizügigeren Stellen des Tagebuchs gebracht, auch wenn diese nur einen kleinen Teil des Pepyschen Universums einnehmen. Aber nichts bleibt ungesühnt. Natürlich bekommt Frau Pepys auch irgendwann Wind von den Eskapaden ihres Gattens und das wird nicht ohne Folgen bleiben...Aber bis dahin erfreuen wir uns an so herrlichen Einträgen wie diesen, den ich nicht weiter kommentieren muss:
2. Februar 1666:
"Zu Lord Brouncker, dort mit meiner lieben Mrs. Knipp zusammen gesungen. Stieg abends in ihre Kutsche, nahm sie auf meinen Schoß, spielte mit ihren Brüsten und sang."
Ein Buch wie dieses kommt nicht ohne Anhänge aus. Pepys Zeit ist nur den wenigsten von uns geläufig und so sind die vielen Erklärungen und Hintergrundinformationen unabdingbar sowohl für das Verständnis als auch für den Genuss des Werkes. Meine kleine Reclam-Ausgabe stellt auf ihren gut 400 Seiten auch nur einen Ausschnitt aus den insgesamt 9 Bänden der Pepyschen Hinterlassenschaft mit ihren mehr als 4.000 Seiten dar, die jetzt bei Zweitausendeins komplett erschienen sind (die kommen übrigens auf meinen persönlichen Wunschzettel). Wer sich von Pepys Charme überzeugen möchte, dem sei schon einmal das unten verlinkte Pepys Projekt anempfohlen, in dem das Tagebuch in deutscher Sprache als täglich fortgeschriebenes Blog zu lesen ist.

Fazit: Üppig, barockes Tagebuch eines minutiösen Chronisten seiner Zeit, der nichts hat anbrennen lassen, kein Blatt vor den Mund nimmt und uns öfters einmal einen Spiegel vors Gesicht hält. Großartig! Prächtig! Unbedingt lesen!

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