Sonntag, 24. März 2013

Der Doktor und das Mädchen - Alissa Walser 'Am Anfang war die Nacht Musik'

20. Januar 1777. An diesem Wintermorgen geht der bekannteste Arzt der Stadt, verfolgt von seinem Hund, die Treppe vom Schlaftrakt zu seinen Praxisräumen hinab. Die honigbraunen Stufen erlauben bequeme Schritte und den Hundepfoten einen mühelos rhythmischen Trab. In diesem Haus gibt es keine schmalen Stiegen. Wie früher im Haus seiner Eltern. (Seite 9)

So beginnt Alissa Walsers Roman 'Am Anfang war die Nacht Musik' um den innovativen österreichischen Arzt Franz Anton Mesmer, Begründer der Lehre des animalischen Magnetismus, dessen Lehren und Methoden oft als Scharlatanerie abgetan wurden, dessen Einsichten aber auch die Theorie des Unbewussten in der Psychoanalyse vorwegnahmen und beeinflussten. Es hätte Franz Anton Mesmers großer Durchbruch werden können, der Fall der berühmten blinden Pianistin Maria Theresia Paradis, und er hätte seine neuen Methoden auch bei der Kaiserin Maria Theresia bekannt machen sollen, aber es kam ganz anders. Sein Scheitern im Fall der "Jungfer Paradis" wird im Mai 1778 für Mesmers Gegner aus dem akademischen Establishment trotz der anfänglichen Erfolge zum letztgültigen Beweis der Scharlatanerie seiner Methoden. Letztendlich liegt es aber auch an Mesmer selbst und seinem Unvermögen, seine Theorien und Heilmethoden in der akademischen Sprache der Vernunft zur allgemeinen Diskussion zu stellen.

1734 am Bodensee als Sohn eines Försters geboren, glaubte Franz Anton Mesmer an den Einfluss der Planeten auf Krankheiten und hielt mit seiner Theorie vom animalischen Magnetismus die breite Öffentlichkeit von Wien bis Paris in Atem. Im Zentrum seiner Lehre steht das von ihm als solches bezeichnete Fluidum, das alle lebendigen Körper durchströmt und am besten mit dem Qi des Taoismus verglichen werden kann. Krankheiten beruhten laut Mesmer auf der ungleichen Verteilung dieses Stoffes, angelehnt an die Säftelehre Hippokrates' und Galens. Ziel einer Mesmerschen Therapie war es demnach, die körperliche Harmonie wiederherzustellen. Dies erfolgte dergestalt, dass der Arzt mit den Patienten in eine Art Verbindung trat und durch „Magnetisierung“ versuchte, heilsame Krisen hervorzurufen. Aber zunächst einmal zurück zum Roman.

Am 20. Januar 1777 lernt Franz Anton Mesmer seine neue Patientin, die achtzehnjährige Tochter des K.u.K. Hofsekretärs von Paradis, kennen. Das blinde Mädchen ist eine bekannte Pianistin, die mit ihrem Können Kaiserin Maria Theresia höchstpersönlich beeindruckte und von ihr eine großzgige Apanage erhält. Die Jungfer Paradis war aber nicht immer schon blind. Vielmehr, so findet Mesmer heraus, erblindete das damals dreijährige Kind plötzlich über Nacht in Folge eines schockierenden Ereignisses. Alle Versuche der Ärzte waren bislang vergeblich und die Familie hofft auf den Wunderazt Mesmer, der seinerseits ebenfalls überzeugt ist, die Kranke mit Hilfe seines Magnetismus zu heilen und nimmt diese gegen den Widerstand ihrer Eltern in sein Haus-Spital auf. Tatsächlich zeigt Mesmers behutsames Vorgehen erste Erfolge und die junge Patientin scheint ihr Sehvermögen wiederzugewinnen - allerdings um den Preis, dass ihr Klavierspiel darunter leidet. Die Nachricht von der Blinden, die wieder sehen kann, verbreitet sich in Windeseile durch ganz Europa und Mesmer kann sich vor neuen Patienten kaum retten. Doch seine Gegner sind schnell dabei, von Betrug zu sprechen und gleichzeitig mehren sich die Gerüchte, der Arzt stehe mit seiner Patientin in einem unziemlichen Verhältnis. Als seine Tochter einen Rückfall erleidet verlangt Hofsekretär von Paradis deren Herausgabe und fordert Mesmer auf, mit seinen Betrügereien Schluss zu machen. Seiner Tochter redet er ein, die Wiedererlangung ihrer Sehkraft sei nichts als bloße Einbildung gewesen. In Misskredit gebracht beschließt Mesmer, Wien den Rücken zu kehren und gelangt über einen Abstecher in seine alte Heimat am Bodensee schließlich nach Paris, wo er auf die (nun wieder) blinde Pianistin treffen wird, deren Ruhm bis zum französischen König vorgedrungen ist.

In ihrem kurzen Roman schildert Alissa Walser die Ereignisse rund um den Fall der jungen Maria Theresia von Paradis, allerdings ohne auf Mesmers Theorien näher einzugehen. Die Erzählperspektive wechselt öfters und der Abstand zwischen Leser und Geschehen wird durch die großzügige Verwendung der indirekten Rede verstärkt. In diesem Punkt erinnerte mich der sprachliche Ausdruck an Daniel Kehlmanns 'Vermessung der Welt' ohne allerdings dessen allgegenwärtiges Augenzwinkern [1]. Dadurch nimmt sich in meinen Augen der Roman ein klein wenig zu ernst. Walser möchte die Modernität von Mesmers Methoden und dessen Fokussierung auf die Psyche des Patienten als grundlegenden Mitverursacher vieler Krankheiten in den Mittelpunkt der Geschichte stellen. Zwar spricht die FAZ in ihrer Rezension von einer "Virtuosität der Sprache und ihre Überschreitung, etwa durch genialische Neologismen", doch kann ich diese Begeisterung nur schwer teilen [2]. Im Gegenteil wirkt die Sprache oft zu sehr gekünstelt und man fragt sich, ob das jetzt wirklich nötig war. Insgesamt ist die Geschichte interessant und spannend erzählt, was aber auch ihren kurzen 200 Seiten geschuldet ist. Über längere Strecken jedoch könnte ich Alissa Walsers Erzählkraft auf diese Weise nicht ertragen und so ist man mehr oder minder froh, wenn man nach gelungener Lektüre wieder ohne weiter geschraubte Ausdrücke frei durchatmen kann.

Fazit: Historisch interessante und widersprüchliche Gestalt des Wunderarztes Mesmer und seines bekanntesten Falls in einer sprachlich opulenten Umsetzung, die leider nicht jedermanns Geschmack treffen wird.


Alissa Walser
Am Anfang war die Nacht Musik
Piper
256 Seiten
19,90 Euro





Referenzen:
[1] Sandra Kegel: Der Doktor und das blinde Kind, FAZ, 11.01.2010
[2] Ein Roadtrip der besonderen Art: Daniel Kehlmann 'Die Vermessung der Welt', 3.08.2011

Sonntag, 10. März 2013

Man trifft sich immer zweimal im Leben - Leo Perutz 'Der schwedische Reiter'

Ich hatte ja schon im vergangenen Jahr von Leo Perutz geschwärmt, als ich dessen endlos ineinander verwobene Prager Geschichtensammlung 'Nachts unter der steinernen Brücke' rezensierte. Eine Nachbarin, die ich mit meiner Begeisterung angesteckt hatte, hat sich mittlerweile sein gesamtes Werk beschafft und sogar in Gänze durchgelesen. Daher war ich sehr dankbar, dass ich auf ihr Vorwissen zurückgreifen konnte, bei der Auswahl, welches seiner Bücher wohl das nächste werden sollte, dass ich lesen und hier im Biblionomicon besprechen würde. Am Ende kam mir noch der Zufall zu Hilfe, der mir den 'schwedischen Reiter' in einer schönen DBG-Ausgabe (Deutsche Buch Gemeinschaft) aus den 1950er Jahren in die Hände spielte und das ist dabei herausgekommen...

Wie kann es sein, dass ein Mensch sich an zwei Orten zugleich aufhält? So pocht der schwedische Edelmann Christian von Tornefeld zur gleichen Zeit an das Schlafzimmerfenster seiner kleinen Tochter und spricht mit ihr, während er hunderte von Meilen entfernt auf dem Schlachtfeld Karls des XII. im Nordischen Krieg (1700-1721) kämpft, auf dem er schließlich fällt.
Maria Christine, geborene von Tornefeld und verwitwete von Rantzau, in zweiter Ehe vermählt mit dem königlich dänischen Staatsrat und außerordentlichen Gesandten Reinhold Michael von Blohme, eine in ihren jungen Jahren vielumworbene Schönheit, hat um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, als Fünfzigjährige, ihre Erinnerungen niedergeschrieben. (Seite 9)
Eben diese Maria Christine, deren Erinnerungen uns Leo Perutz präsentiert, ist niemand anderes, als die Tochter des schwedischen Reiters, dessen Geschichte hier erzählt werden soll. Tatsächlich aber ist es die Geschichte zweier Männer, die das Schicksal zusammenführt und die ihre Identität vertauschen. Im Jahre des Herren 1701, die Nachwirkungen des verheerenden Dreissigjährigen Krieges sind noch allerorten spürbar, treffen sie beide durch einen Zufall aufeinander. Der eine ein Landstreicher und Tagedieb, halb verhungert, zerlumpt, pragmatisch und stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht, und der andere ein vom rechten Wege abgekommener aristokratischer Deserteur, feige, mutterseelenallein, lebensmüde und vogelfrei. Beide sind verzweifelt und auf der Flucht, und gelangen gemeinsam an eine Mühle, deren dunklen Flügel sich gleich dem Schicksalsrad im Wind drehen. Vom Müller heißt es, er habe sich erhängt, und der Untote arbeite nun zur Strafe für den Bischof als Fuhrmann, um für Nachschub für die Knochenmühle im Erzbergwerk des Bischoffs zu sorgen. Der adelige Deserteur von Tornefeld schickt den Dieb zum nahe gelegenen Landgut seines Vetters und Taufpaten von Krechwitz, der ihm Geld und Kleider mitgeben soll und händigt dem Dieb zu seiner Legitimation einen silbernen Wappenring aus.

Allerdings ist der Gutsbesitzer bereits verstorben und das Gesinde hat das Landgut schon fast in den Ruin gewirtschaftet, da es an fachmännischer Aufsicht mangelt. Nur noch die Tochter, ein siebzehnjähriges Mädchen namens Maria Agneta von Krechwitz, bewirtschaftet das Gut mehr schlecht als recht und lässt sich von den dort einquartierten Dragonern des "Malefizbarons" Hauptmann Hans-Georg Lilgenau ausnutzen. Als der Dieb auf sie trifft, ist es für ihn Liebe auf den ersten Blick. Zurückgekehrt zur Mühle berichtet er von Tornefeld, dass sein Pate tot sei. Seine Cousine, so belügt er ihn, erinnere sich kaum seiner und hätte es ausgeschlagen, dem Tunichtgut von Tornefeld weiter zu helfen. So kommt es zum verzweifelten Tausch ihrer Identitäten. Von Tornefeld übergibt dem Dieb seinen Glücksbringer, die von seinem Urgroßvater geerbte Bibel des Schwedenkönigs Gustav Adolf und lässt sich vom untoten Müller zu den Minen des Bischofs verpflichten, um dort auf der Flucht vor den Dragonern unterzutauchen. Ein Abschied ohne Wiedersehen, so hat es den Anschein.

Doch der Dieb nimmt einen anderen Weg und wird zum Anführer einer Räuberbande, die mit großem Erfolg Kirchenbesitz plündernd durch die Lande Pommern, Polen, Brandenburg und Schlesien zieht. Nach einem guten Jahr beschließt der Dieb sein Räuberhandwerk aufzugeben, besteht gegen den Widerstand seiner Gesellen auf der Aufteilung der Beute und macht sich auf den Weg zum Landgut von Krechwitz. Als er dort in eine schwedische Offiziersuniform gekleidet eintrifft, sieht er die immer noch unverheiratete Maria Agneta in noch bedrängterer Lage, da nahezu alles verpfändet werden musste. Jetzt gibt sich der Dieb als Christian von Tornefeld mit Hilfe seines Wappenrings zu erkennen, der vom Heer des Schwedenkönigs auf dem Weg zum Gut seines Taufpaten ist. Er begleicht alle Schulden mit dem Erlös seines Diebesguts, heiratet die schöne Maria Agneta und führt das Landgut mit Hilfe seiner landwirtschaftlichen Fachkenntnisse zurück in den Wohlstand. Aber kann das Glück des 'schwedischen Reiters' von Dauer sein? Früher oder später wird ihn seine Vergangenheit noch einholen und das Rad des Schicksals wird sich erneut weiterdrehen...

Leo Perutz' Roman 'Der schwedische Reiter', geschrieben in den 1930er Jahren, erscheint wie ein einziger großer Anachronismus. Ein historischer Roman mit deutlich phantastischen, romantischen Elementen, langsam vorgetragenen pitoresken Schilderungen von Land und Leuten, altertümlich anmutender Sprache und heute nahezu unbekannten Ausdrücken, aber doch eine spannende Geschichte. Obwohl der geneigte Leser eigentlich genau weiß, wie das Ganze enden wird, löst Perutz die Spannung erst auf der allerletzten Seite. Ganz anders als seine zeitgenössischen Kollegen verlagert er sich ganz auf das althergebrachte Geschichtenerzählen und folgt nicht dem gerade modernen Psychologisieren, den inneren Monologen und Gedankenströmen. "Ich bemühe mich immer, so zu schreiben, wie meine Großmutter mir Geschichten erzählt hat." Umso interessanter ist es, dass Perutz ursprünglich Mathematik studierte und als Versicherungsmathematiker arbeitete. 1882 in Prag geboren, im ersten Weltkrieg schwer verwundet, widmet er sich ab 1918 ganz seiner schriftstellerischen Karriere. Doch der Erfolg hielt nicht lange an. Bereits 1928 begann er den 'Schwedischen Reiter'. Nach dem Tod seiner Frau zog sich Perutz einige Zeit aus dem öffentlichen Leben zurück und erst 1936 beendet er den 'Schwedischen Reiter', der aber nicht mehr nach Deutschland ausgeliefert werden durfte. "Deutschland für mich tot. Meine Bücher verramscht. Vaters Erbe verbraucht. Ich glaube, ich lebe schon von meinen Brüdern.“, so schrieb er zur Jahreswende 1934. Nach dem Anschluss Österreichs emigrierte Perutz 1938 zuerst nach Venedig, dann weiter nach Palestina. Nach dem Krieg kehrte er in den 1950er Jahren wieder nach Österreich zurück und versuchte an seine literarischen Erfolge anzuknüpfen, was ihm aber nicht mehr gelingen sollte. Zwar erntete seine Erzählungen "Nachts unter der steinernen Brücke"noch hohes Lob von der Kritik, jedoch ging der Verlag im Jahr nach der Veröffentlichung in Konkurs und das Buch konnte nicht mehr vertrieben werden.

Fazit: Ein altertümliches Stück Roman für Liebhaber anspruchsvoller historischer Erzählungen mit einer romantisch, phantastischen Note, die jedoch nie zu stark in den Vordergrund tritt. Lesen!


Leo Perutz
Der schwedische Reiter
Deutscher Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. (2004)
256 Seiten
9,90 Euro





Literaturangaben:

Sonntag, 3. März 2013

Anthony Horowitz 'Das Geheimnis des weißen Bandes'

Kein Wunder, dass der berühmteste Detektiv aller Zeiten nach dem Tod seines Schöpfers Sir Arthur Conan Doyle im Jahre 1930 anfing, ein bewegtes Eigenleben zu führen, dessen Nachwirkungen uns bis heute in den Bann ziehen. Zu den dabei eher erfreulichen Lichtblicken zählte auf alle Fälle die BBC Miniserie 'Sherlock', in der die originalen Fälle auf clevere Art und Weise in die heutige Zeit versetzt wurden und dem eigenbrödlerischen Soziopathen in Form eines durchgestylten megacoolen Nerds ein ikonenhaften Kontrapunkt hinzufügt wurde. So gierte auch die Fangemeinde nach dem Tod des Schöpfers von Anfang an nach neuen Fällen ihres Idols und ganze Heerscharen von Autoren bemühseligen sich seither, diesem Anspruch gerecht zu werden, um die originalen 56 Erzählungen und 4 Romane zu ergänzen.

Zu Sherlock Holmes kam ich ja wie die meisten meiner Generation durch das Fernsehen. Insbesondere  die Schwarzweiß-Klassiker mit dem smarten Basil Rathbone aus den 1940er Jahren sind es, an die ich mich erinnern kann und die mein Bild vom Meisterdetektiv nachhaltig geprägt haben. Aber auch - und das betrifft wohl eher nur unseren urdeutschen Kulturkreis - Hans Albers und Heinz Rühmann ("Jawoll meine Herr'n"). Insgesamt zählt die Internet Movie Database 270 Filmwerke - wobei ganze Serien als ein einzelnes Werk gezählt werden - in denen Sherlock Holmes seit 1900 seinen Auftritt hatte.  Zur Romanform kam ich erst, als ich an der Uni eine "einfache" Lektüre zur Verbesserung meiner Englischkenntnisse suchte und auf die Idee verfiel, dies am Besten mit Kurzgeschichten von Arthur Conan Doyle um den berühmtesten Detektiven der Welt, anstellen zu können. Da saß ich also mit einem Penguin-Taschenbuch und einem Langenscheidt Handlexikon im Zugabteil auf meinen Fahrten nach München und quälte mich durch 'Silver-Blace', 'The Adventure of the Musgrave Ritual' und viele andere Geschichten. Aber heute soll es ja nicht um meine "persönliche Sherlock Holmes Geschichte" gehen, sondern um die im Buchhandel heftig umworbene aktuellste Epigone von Anthony Horowitz mit dem Titel "Das Geheimnis des weißen Bandes".

An einem der letzten Novembertage des Jahres 1890 betritt ein Unbekannter das Haus in der Bakerstreet 221b und bittet Sherlock Holmes in einem ungewöhnlichen Fall um seine Hilfe. Kommt uns bekannt vor? Definitiv, so und nicht anders fängt es ja meistens an. Der Unbekannte stellt sich und als Mr. Carstairs, Kunsthändler aus Wimbledon vor, der sich an Sherlock Holmes wendet, da er von einem mysteriösen Fremden verfolgt wird, der kurze Zeit später tot in seinem Hotelzimmer aufgefunden wird. Die Neugier des Meisterdetektivs ist geweckt und die Spur führt zu einer von irischen Einwanderern in den USA geführten 'Flat-Cap Gang'. Beim Überfall auf einen Eisenbahnzug werden bei der Sprengung eines Safes wertvolle Gemälde aus Carstairs Galerie auf dem Weg zu ihrem neuen Besitzer in den USA zerstört. Carstairs beginnt auf eigene Faust mit den Nachforschungen und im Zuge der Ermittlungen wird einer der Bandenchefs von Privatdetektiven erschossen, während dessen irischem Zwillingsbruder die Flucht gelingt. Auf der Schiffspassage zurück nach England lernt Carstairs seine zukünftige Frau kennen, die jedoch von dessen Mutter und Schwester mit Argwohn betrachtet wird. Zurück in London wird er von einem Mann mit flacher Kappe verfolgt und wir sind wieder bei der Ausgangssituation der Geschichte angelangt, in der sich Carstairs an Sherlock Holmes wendet.

Spuren und Indizien führen Holmes zu einem zweiten Fall, in dem sich alles um ein mysteriöses 'House of Silk' dreht. Unter Holmes jugendlichen Helfern, einer Gruppe von Straßenjungen, die ihm als Informaten dienen und kleine Aufträge erledigen, verschwindet ein Kind, das den Mord an dem Mitglied der 'Flat-Cap Gang' zufällig beobachtet hatte. Schließlich wird der Junge scheußlich zugerichtet mit durchschnittener Kehle und einer weißen Seidenschleife am Arm gefunden. Holmes scheint plötzlich in ein Wespennest gestochen zu haben. Sein Bruder Mycroft warnt ihn nachdringlich, den Fall nicht weiterzuverfolgen, da sonst der ganze Staat ins Wanken geraten könnte und Holmes lernt die Macht des 'House of Silk' am eigenen Leibe kennen, als ihm selbst ein Mord in die Schuhe geschoben wird...

Ja, das Buch ist tatsächlich spannend geraten und es atmet auch die Atmosphäre, die wir aus Arthur Conan Doyles Geschichten kennen. Doch eigentlich wünscht man sich noch etwas mehr. Warum nicht ein wenig mehr Augenzwinkern, warum nicht ein wenig mehr Lokalkolorit? Ok, Conan Doyle war kein Dickens, wenn es um die Schilderung der skurilen Charaktere des viktorianischen Londons ging und in seinen Kurzgeschichten blieb oft kein Raum für allzuviel tiefsinnigen Humor. Vielleicht bin ich aber auch mittlerweile einfach zu verwöhnt und Horowitz versuchte ja nur, einen möglichst authentischen Sherlock-Holmes Roman zu schreiben. Das ist ihm ganz sicher auch gelungen.

Fazit: Gelungene Sherlock-Holmes Epigone, die es versteht, ein Thema, das uns aktuell bewegt in die Gedankenwelt ihres Schöpfers Arthur Conan Doyle auf unterhaltsame und spannende Weise hinein zu versetzen. Lesen!



Anthony Horowitz
Das Geheimnis des weißen Bandes
Insel Verlag, Frankfurt a. M., 2012
352 Seiten
19,95 Euro

Sonntag, 17. Februar 2013

Sibylle Berg: Vielen Dank für das Leben

Wie jedesmal freue ich mich sehr, an dieser Stelle einmal wieder eine Rezension von Claudia einzuleiten. Eine Rezension zu einem Buch, das ich selbst aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gelesen hätte. Gerade aus diesem Grund freue ich mich, weil damit das Biblionomicon auch etwas farbiger und vielschichtiger wird. Aber keine Vorschusslorbeeren, sondern lest lieber selbst:

Ich kann mich wirklich nicht beschweren – schließlich bin ich durchaus gewarnt worden. Aber als meine Nachbarin mich fragte, ob sie mir mal ein paar Leseexemplare aus ihrer Buchhandlung mitbringen solle, sagte ich natürlich: ja gerne! Sie vermutete, es solle sicher etwas „Anspruchsvolles“ sein. Naja, offenbar hatte ich einen Ruf zu verlieren und daraufhin habe ich mir etwas Anspruchsvolles gewünscht. Bekommen habe ich ein Buch von Sibylle Berg – ich gebe zu, dass ich bis dahin noch nichts von ihr gelesen hatte – inzwischen weiß ich auch warum! Völlig unbefangen bin ich gemeinsam mit Frau Berg auf mein Sofa gegangen und begann „Vielen Dank für das Leben“ zu lesen.

Die Geschichte sprach mich sofort an, fühlte ich mich doch gleich an Jeffrey Eugenides Roman „Middlesex“ erinnert, dessen Thematik mich sehr interessiert hat. Reingefallen, könnte sich Frau Berg denken, denn mit dem Roman hat ihr Werk so ziemlich gar nichts gemein. Aber beginnen wir am Anfang: Im Jahr 1966 kommt in der DDR ein Kind zur Welt:
Es ist ein ... fuhr sie fort, verstummte plötzlich, und schwere Stille wurde im Kreißsaal. Die Frau hörte nach Sekunden leisen Raunens ein Räuspern, dann wurde das Kind in ein Tuch gewickelt und ihr gereicht. Es ist gesund. Glaube ich. Sagte die Hebamme. Genaueres wird ihnen der Arzt sagen.“ (S. 13)
Kein Junge. Kein Mädchen, sondern ein Kind, dessen Geschlecht schlichtweg nicht definierbar scheint (zumindest nicht phänotypisch) verunsichert die sehr junge Mutter. Auf sich allein gestellt nimmt sie ihr Kind, das sie schließlich Toto nennen wird, mit nach Hause. Es ist ihr fremd, sie fühlt sich von dem Säugling geradezu beobachtet. Ihre Situation bessert sich nicht, als sie Toto beim Amt anmelden muss. Eine schroffe Beamtin (bisher waren eigentlich alle auftretenden Personen schroff zu ihr, sodass man schon Mitleid bekommt) kann es nicht fassen: „Das haben wir ja noch nie gehabt, dass ein Geschlecht unbestimmt ist, das kann ich so nicht dulden, wo kämen wir da hin, wenn jeder bei der Bestimmung seines Geschlechts nach Lust und Laune agiert.“ (S. 17). Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, bekommt Toto von seiner Mutter kurzerhand ein Geschlecht zugewiesen und wird ein Junge. Im Prinzip ist das der Ausgangspunk für eine Tragödie, die ihren Lauf nimmt, ja nehmen muss.

Toto wird in ein Kinderheim abgeschoben. In Anbetracht der ständigen Vernachlässigung durch die eigene Mutter, die sich im Vollrausch mit irgendwelchen Typen herumtreibt, sicher eine gute Entscheidung: „Fast rannte die Frau zurück in die Wohnung, eine Angst war da, Kind hätte sich etwas angetan, doch als sie die Tür öffnete und das Kind sah, wie es noch immer in unveränderter Position lag und abzuwarten schien, ahnte sie, dass sich mit ihm nie würde anfreunden können.“ (21).
Das Kinderheim ist so, wie man sich ein Kinderheim in der Literatur vorstellt: grauenerregend! Versunken in sich und seinem eingeschränkten Geist lebt oder besser existiert Toto, stets „ohne boshafte Gedanken oder Absichten“ (S. 53), denn die sind ihm/ihr fremd. Toto ist von Grund auf gut. Zarte Bindung erlebt er zu Kasimir, den man wohl als seinen einzigen positiven Eindruck in seinem bisherigen Leben bezeichnen kann. Dieser positive Eindruck hilft Toto die verachtenden und brutalen Übergriffe der Erzieherin zu überstehen. Frau Hagen terrorisiert ihre Schützlinge auf das Übelste. Toto entwickelt die Fähigkeit, sich aus den beängstigenden Situationen ‚hinauszufühlen‘:
„Frau Hagens Stimme überschlug sich, doch Toto hörte sie nicht. Er hatte einen Ort gefunden, wo er nichts mehr hörte, wenn er nicht wollte. Er lag hinter dem Brustbein, dort war es warm, dort hatte Kasimirs Hand gelegen.“ (S. 59)
...versöhnlich stimmt mich nach Totos Leid im Kinderheim, dass Frau Hagens ihr ‚gerechte‘ Strafe bekommt...Nach dem Heim kommt die Pflegefamilie. Auch hier ist er Repressalien ausgesetzt; lebt in einem Verschlag. Später bekommt Toto eine Wohnung hat eine Beziehung; setzt sich mit Homosexualität auseinander, was Sibylle Berg in epische Breite ausdiskutiert. Bis dahin hat mir die Geschichte gut gefallen. Toto ist mir ans Herz gewachsen. Der Leser fühlt mit. Hat Mitleid. Dann passiert das, was wohl in jedem ihrer Romane irgendwann passiert: er nimmt eine merkwürdige Wendung und, erlaubt mir die flapsige Wortwahl, dreht ab. Das, kam mir sofort in den Sinn, muss es sein, was viele potenzielle Leser schon beim Lesen des Namens ‚Sibylle Berg‘ auf dem Buchrücken abschrecken lässt.

Fazit: Wer Sibylle Berg mag, wird auch dieses Werk mögen. Für alle anderen gilt, lieber nicht!


Sibylle Berg
Vielen Dank für das Leben

Hanser Verlag, 2012
400 Seiten
21,90 Euro





Samstag, 2. Februar 2013

Steampunk! - William Gibson, Bruce Sterling 'Die Differenz Maschine'


Dem Phänomen 'Steampunk' in Verbindung mit alternativen Realitäten hatte ich mich bislang literarisch noch nie gewidmet. Allerdings wurde ich im vergangenen Jahr auf ein Buch aufmerksam, in dem die Geschichte der digitalen Revolution um ein ganzes Jahrhundert nach vorne verschoben wurde. Computer im 19. Jahrhundert, also im Zeitalter von Dampfmaschinen und Biedermeier? Naja, dachte ich mir... es gab da ja tatsächlich Charles Babagges berühmte Difference Engine, den mechanischen Vorläufer unserer heutigen Computer. Und dann noch ein Buch geschrieben von den beiden Vätern des sogenannten Cyberpunks William Gibson und Bruce Sterling? Das könnte interessant werden...

Wir schreiben das Jahr 1855 und die Geschichte hat einen anderen Verlauf genommen, als wir denken. Dank der perfektionierten mechanischen Computer - der Differenz Maschinen - des berühmten Mathematikers und Erfinders Charles Babbage befindet sich das britische Empire auf dem Höhepunkt seiner Wirtschaftsmacht. Allerdings verlangt dieser technische Fortschritt auch seinen Tribut.  London leidet unter einer geradezu apokalyptischen Hitzewelle, das ungebremste industrielle Wachstum hat zu immenser Luftverschmutzung und zu einem ätzenden Smog geführt, durch den sich die Londoner ihren Weg bahnen müssen. Das Computerzeitalter ist ein Jahrhundert vor seiner Zeit angebrochen und es sind die Wissenschaftler und Industriellen, die auch die politische Macht übernommen haben und jetzt den Ton angeben. An der Spitze der Regierung steht der skrupellose Lord Byron, der für die radikalen Technokraten das Zepter schwingt. England und Frankreich haben das alte Europa und den Rest der Welt untereinander aufgeteilt in ihren kolonialen Imperien. Es herrscht ein ungebremster Kapitalismus, getrieben von strenger Berechenbarkeit, unerbittlicher Pragmatik und schnellen Profit. Dampfgetriebene Automobile eilen auf ihren Autobahnen durch das am Qualm erstickende London, die Underground durchzieht mit ihren dampfbetriebenen Zügen die rauchgeschwängerten Katakomben der Großstadt. Die Technokraten sind an der Macht und die Operateure und Programmierer der dampfgetriebenen Computerungetüme prägen als neue Elite das Bild der Stadt.

Zu den Protagonisten der Handlung zählen sowohl fiktive als auch tatsächlich historische Charaktere: Sybil Gerard, Tochter eines berüchtigten Maschinenstürmers, eine „gefallene Frau“ und Prostituierte. Der Wissenschaftler Edward Mallory, seines Zeichens Paläontologe und Spezialist für prähistorische Dinosaurier. Die "Programmiererin" Lady Ada Byron, Tochter des Premierministers und Assistentin des großen Charles Babbage, zugleich mathematisches Genie und notorische Glücksspielerin. Und zuletzt der Diplomat Laurence Oliphant, Leiter des Außen-Geheimdienstes und einer der Drahtzieher hinter der ganzen Geschichte.

Die Prostituierte Sybil Gerard wird von ihrem Freier Mick Radley, einem begabten Programmierer in der Entourage des in seiner Heimat ungeliebten texanischen Freiheitskämpfers und Ex-Präsidenten Sam Houston unter die Fittiche genommen. Mit ihm zusammen soll sie in geheimer Mission nach Paris aufbrechen, doch Radley wird ermordet und Sybil muss Hals über Kopf mit einem Koffer voller geheimnisvoller Lochkarten aus Sam Houstons Besitz fliehen. Der Paläonthologe Edward Mallory ist gerade von einer seiner Forschungsreisen nach England zurückgekehrt. In seinem Gepäck befindet sich der sagenhafte "Land-Leviathan", eine Art Brontosaurus, dem er seinen ganzen Ruhm verdankt. Durch Insiderinformationen und Wettglück gelangt er zu einem stattlichen Vermögen, doch noch auf der Rennbahn macht er unfreiwillig Bekanntschaft mit einem zwielichtigen Pärchen, dem er eine anscheinend entführte Dame entreißen kann. Diese entpuppt sich als niemand anderes die Tochter des Premierministers, die berühmte Lady Ada Byron, die "Königin der Maschinen". Bevor sie wieder verschwindet, drückt sie Mallory einen geheimnisvollen Kasten mit Lochkarten in die Hand. Doch diese Lochkarten sind anscheinend hoch begehrt und so gerät der Wissenschaftler in arge Bedrängnis, während er einer weltumspannenden Verschwörung auf die Spur kommt.

Meine Erfahrungen mit alternativen Realitäten in der Literatur sind leider begrenzt, doch glaube ich, dass man schon eine gehörige Menge an historischem Wissen mitbringen muss, um diese Geschichte in ihrer ganzen Breite wirklich schätzen zu können. Oft sind es die nur am Rande aufblitzenden Seitenhiebe, die man in den richtigen geschichtlichen Kontext setzen muss, um deren Originalität genießen zu können. Tatsächlich wurde der historische Sommer 1858 von den Londoner Zeitgenossen als "The Great Stink" bezeichnet und ging als solcher in die Geschichte ein. Es war ein ungewöhnlich heißer Sommer und London wuchs sehr viel schneller als seine dringend benötigte Kanalisation. Die Themse und viele ihrer Zuflüsse im Stadtgebiet waren extrem stark verschmutzt. Die hohen Temperaturen förderten die Vermehrung von Bakterien und der daraus resultierende Gestank war derart unerträglich, dass sogar Regierung und Gerichte einen Umzug aus der Stadt ernsthaft erwogen. Auch die Differenz-Maschine gab es wirklich, aber erst ihr Nachfolger, die nur auf dem Reißbrett konzipierte "Analytical Engine" war ein nach heutigen Maßstäben frei programmierbarer Computer, der aber aufgrund der damals nicht realisierbaren feinmechanischen Exaktheit niemals in die Tat umgesetzt werden konnte. William Gibsons und Bruce Sterlings negative Utopie einer auf Dampfbetrieb aufbauenden digitalen Revolution scheint weit hergeholt, aber es ist die darin enthaltene Kritik an der Natur des Menschen und des ungebremsten Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, der durch diese Überhöhung umso deutlicher in den Vordergrund gerät. Dabei erlauben sich die beiden Autoren auch das ein oder andere Augenzwinkern, etwa wenn sie Karl Marx in die USA auswandern lassen, wo er ausgerechnet in Manhattan eine sich der freien Liebe hingebende Kommune gründet. Mir persönlich hat dieses Spiel mit der Historie recht gut gefallen, doch befürchte ich, dass es einen Leser leicht überfordern könnte, falls dieser nicht über genügend Hintergrundwissen über Informationstechnik und die Geschichte des 19. Jahrhunderts verfügt. Allerdings halte ich die lobhudelnde Kritik der New York Times als vollkommen übertrieben, die behauptet, dass "wer die digitale Revolution verstehen will", dieses Buch gelesen haben müsste.

Fazit: Ungewöhnliche und originelle alternative Realität, spannend erzählt für Liebhaber des 19. Jahrhunderts, die mit einem Computer gut umzugehen wissen und für alles offen sind ;-) Lesen!



William Gibson
Bruce Sterling

Die Differenz-Maschine
Heyne Verlag, München, 2012.
624 Seiten
9,99 Euro

Montag, 14. Januar 2013

Peter Heather "Invasion der Barbaren"

Wer unter diesem Titel einen actionlastigen historischen Roman erwartet, den muss ich leider enttäuschen. Vielmehr handelt es sich um eine voluminöse Abhandlung der geschichtlichen Entwicklungen innerhalb des 1. nachchristlichen Jahrtausends in dessen Zuge der Untergang des römischen Reiches und der Aufstieg des fränkischen Reiches, der Wikinger und der Slawen hin zur Entstehung Europas ausführlich behandelt wird.

Der Historiker Peter Heather ist auf diesem Gebiet kein Neuling. Bereits in seinem 'Untergang des römischen Reiches' tat er sich mit der These hervor, dass die Ursache desselben weniger in den innenpolitischen Entwicklungen des Reiches als vielmehr in der durch den Einfall der Hunnen ausgelösten Völkerwanderungsbewegung der germanischen Volksstämme begründet liege. Ich bin kein Historiker und möchte auch in keiner Weise in die Argumentation der hier aufeinanderprallenden Lager eingreifen, sondern lediglich Peter Heathers Buch "Invasion der Barbaren" aus der Sicht eines interessierten Laiens beurteilen. Zunächst einmal gliedert Heather den umfangreichen Stoff chronologisch was ich gegenüber einer geographisch angelegten Ordnung begrüße. Der erste Teil des Buches widmet sich dabei dem Untergang des (west-)römischen Reiches, während der zweite Teil dem Aufstieg der Slawen, Franken und Wikinger in der Nachbarschaft des Fränkischen Reiches und des Oströmischen Reiches sowie der islamischen Welt gewidmet ist.
"Form und Verlauf der Migration der Barbaren im 1. Jahrtausend wurden maßgeblich durch die soziookonomischen und politischen Transformationen der Gesellschaften des barbarischen Europa und ihrer Interaktion mit den imperialen Mächten ihrer Zeit bestimmt." (Seite 12)
So lautet Heathers Kernthese, die er argumentativ ausführlich darlegt. Die ersten 300 Seiten des Buches widmen sich im Wesentlichen der beständigen Bedrängung des römischen Reiches durch zahlreiche „Barbarenstämme“, die allerdings ebenfalls untereinander jeweils in vielfältige Konflikte verstrickt lagen. Eine beabsichtigte Zerschlagung oder Zermürbung des Imperiums lag diesen Völkern daher meist fern. Viel wichtiger war zunächst das eigene Überleben, auch wenn die Völkerwanderungen der ersten Jahrhunderte einen gewichtigen Teil zur Auflösung der alten Ordnung beitrugen. Im Jahr 476 war das Ende des weströmischen Reiches durch Absetzung des Kaisers Romulus Augustulus unweigerlich besiegelt, eine Neuordnung Europas kündigte sich an und Merowinger, Franken, Slawen, Sachsen, Wikinger und zahlreiche weitere Völkerschaften standen in den Startlöchern um die Macht zu übernehmen.

Dass sich das alles natürlich alles andere als geordnet vollzog liegt auf der Hand. Und so verwickelt sich auch Peter Heathers flüssig und unterhaltsam geschriebenes Buch immer wieder in das undurchdringliche Dickicht und Durcheinander der vielfältigen Bewegungen und Ströme der unterschiedlichen Volksgruppen und Stämme. So fällt es dem Leser manchmal schwer, den Überblick zu behalten, da Heather nicht nur versucht die Fakten darzustellen, sondern ebenfalls die Argumentationen und logischen Gedankengänge bereithält, die zu ihrer Rechtfertigung bei der oft dünnen Quellenlage dienen sollen. Leider bleibt der Eindruck, dass es nicht immer gelang, alle Widersprüche vollständig aufzulösen. Glücklicherweise - und das macht dieses Buch auf alle Fälle lesenswert - beschränkt er sich nicht auf der bloßen Darstellung der gesamtgeschichtlichen Ereignisse, sondern bietet auch immer wieder anekdotische Details und Begebenheiten, die das monumentale Werk auflockern. Alles in allem habe ich nach der Lektüre den Eindruck, die Tür in dieses turbulente erste Jahrtausend wenigstens einen kleinen Spalt breit geöffnet zu haben. Dennoch bleiben weite Strecken weiterhin im Dunkeln. So bleibt es aber spannend, was die Geschichtsforschung wohl in Zukunft noch über diese "dunklen" Zeiten bereithält.

Fazit: Umfangreiches historisches Werk, das versucht etwas Licht zu bringen in eine gesamteuropäische Geschichte des ersten Jahrtausends. Nur etwas für wirklich daran Interessierte.


Peter Heather
Invasion der Barbaren - Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus
Klett-Cotta, Stuttgart (2011)
667 Seiten
39,95 Euro

Mittwoch, 2. Januar 2013

2012 - Ein garantiert statistikfreier Rückblick

Wenn ich etwas unerträglich finde, dann sind dies (quantitative) Lesestatistiken, wie man sie der Tage zu Dutzenden in diversen "Buchblogs" findet. Wenn der Blogautor sein Seelenheil darin findet, der Welt zu verkünden, was für ein toller Hecht man wäre, da man die Seiten zu Tausenden gefressen habe, an diversen "Lese-Competitions" teilgenommen habe und die Zielvorgaben gleich einem kommunistischen Fünfjahresplan zielstrebig übertroffen habe, dann kann ich nur verständnislos den Kopf schütteln. Für mich ist Lesen Genuss! Und wie bei jedem Genuss kommt es mir nicht darauf an, möglichst viel in Masse zu genießen, sondern möglichst viel Genuss aus dem zu Genießenden zu ziehen. Und das kann bisweilen auch schon einmal etwas länger dauern, insbesondere, wenn man ins Nachdenken über das Gelesene kommt. Daher mein Rat an all die frustrierten Leser, die fassungslos diese wahnwitzigen Statistiken der "Vielleser" bestaunen: Um Gottes Willen nehmt euch daran bloß kein Beispiel! Lest so viel ihr wollt, so langsam ihr wollt, so oft ihr wollt. Fangt nicht an zu zählen! Bemesst die Qualität des Gelesenen und vor allen Dingen die Qualität des Lesers nicht an der Menge der konsumierten Seiten! Natürlich gibt es viel mehr zu lesen als ich oder irgendjemand sonst auf der Welt tatsächlich lesen könnte. Aus diesem Grund sind die vielen Rezensionen, die man in Blogs oder in der Presse findet auch so hilfreich. Sie helfen uns bei der Auswahl unserer Lektüre und verhindern, dass wir unsere knapp bemessene Lesezeit an "taube Nüsse" verschwenden. Daher auch in diesem Jahr ohne große Worte von meiner Seite aus eine kurze Zusammenstellung meiner "Lieblingslektüre" 2012:


Platz 1:
Stephen King
Der Anschlag
Heyne, 2011
1056 Seiten

Ich hätte nie gedacht, dass ich dass einmal zugeben müsste, aber für mich war es 2012 einfach das beste Buch, das ich gelesen habe. Großes Kino, spannend geschriebene, wohlrecherchierte und gut durchdachte Geschichte. Allen nur wärmstens zu empfehlen!
Zur Rezension im Biblionomicon.



Platz 2:
Umberto Eco
Der Friedhof in Prag
Hanser Verlag (2011)
528 Seiten


Es ist ihm noch einmal gelungen, dem Großmeister aller Verschwörungstheoretiker, ein spannendes und vor historischen Fakten nur so wimmelndes Werk zu schaffen. Allen eingeweihten und hartgesottenen Fans wärmstens ans Herz gelegt wird Eco dadurch wahrscheinlich aber nur schwerlich neue Anhänger unter der Generation iPad gewinnen können.
Zur Rezension im Biblionomicon.


Platz 3:
Günter Grass
Die Blechtrommel
dtv (1993)
784 Seiten

Große Literatur, große Sprachgewalt. Ein Meilenstein in der deutschen Literaturgeschichte von einem großartigen Erzähler!
Zur Rezension im Biblionomicon.





Platz 4:
Fredrik Sjöberg
Der Rosinenkönig - oder Von der bedingungslosen Hingabe an seltsame Passionen
Verlag Galiani Berlin (2011)
236 Seiten

In liebenswerter Detailfülle erzähltes kleines Büchlein über einen heute vergessenen bemerkenswerten Sonderling, der uns mit seiner Liebe zum Detail und seinen "Stehaufmännchenqualitäten" auch heute noch durchaus zum Vorbild gereicht.
Zur Rezension im Biblionomicon.



Platz 5:
C.H.Beck (2011)
428 Seiten

Auszüge aus einem für die Nachwelt bestimmten Tagebuch des 18. Jahrhunderts aus privilegierter Perspektive, das einem nach einigen Anfangsschwierigkeiten durchaus fesselnd in seinen Bann ziehen kann. 




Weitere Jahresrückblicke:

Samstag, 29. Dezember 2012

Alice und die Mondknochen - Jonathan Caroll 'Laute Träume'

Die Analogie zwischen Lewis Carolls 'Alice im Wunderland' und dem Roman seines Namensvetters Jonathan Carroll 'Laute Träume' liegt nahe. Zwar fällt die Heldin der 'Lauten Träume' nicht wie Alice in einen Kaninchenbau, aber in ihren Träumen erlebt sie nicht minder fantastische Geschichten.

Die Geschichte beginnt mit einem Doppelmord. In einem New Yorker Mietshaus erschlug der unscheinbare Nachbar Mutter und Schwester.
"Der Axtmörder wohnte eine Treppe tiefer. Wir kannten uns, weil er ständig seinen kleinen hässlichen Hund ausführte, den ich immer streichelte, wenn ich den beiden zufällig im Hausflur begegnete." (erster Satz)
Cullen, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird, sitzt währenddessen mit ihrem Mann und Baby Mae am Frühstückstisch. Im nebensächlichen Plauderton schweift die Geschichte ab und Cullen erzählt uns, wie sie ihren Mann kennenlernte, über den Umweg einer vorangegangenen unglücklichen Beziehung verbunden mit einem Schwangerschaftsabbruch. Doch was zunächst als eine Nebensächlichkeit abgetan wird, wirft deutliche Schatten in Gestalt von Cullens immer wiederkehrenden, lebhaften Träumen, in denen sich eine Art Fortsetzungsgeschichte in einer fantastischen Welt namens Rondua entspinnt. In ihren Träumen hat Cullen eine Aufgabe gemeinsam mit einer Menge Fabelwesen und ihrem ungeborenen Sohn Pepsi zu erfüllen, während sie in der realen Welt in New York das Leben einer jungen Mutter zu bestehen hat. Mit der Zeit wird ihr klar, sie war nicht zum ersten Mal in Rondua, doch diesmal ist es an ihrem Sohn Pepsi, die große Aufgabe zu erfüllen, die darin besteht, das Land mit Hilfe der fünf Mondknochen zu retten. Mehr und mehr gerät Cullen in den Sog ihrer lebhaften Traumwelt und die Grenzen zwischen Traum und Realität beginnen zu verwischen. Als ihr der Regisseur Weber Gregston bei einem Interviewtermin zu nahe kommt, schlägt sie ihn mit einem magischen Blitz nieder. Der vom Blitz Getroffene ist nicht nur plötzlich in sie verliebt, vielmehr beginnt er ebenfalls vom Traumland Rondua zu träumen. Doch was steckt tatsächlich hinter Cullens Träumen, in denen sich der Konflikt zwischen Gut und Böse immer mehr zuspitzt und der sich mehr und mehr in die Realität hinein erstreckt?

Klingt doch eigentlich gar nicht schlecht, oder? Nur irgendwie hat es der Roman trotz des fulminanten ersten Satzes nicht geschafft, mich wirklich in seinen Bann zu ziehen. Irgendwie wirkt die anfänglich im Plauderton erzählte Geschichte etwas halbbacken, trotz des im starken Kontrast dazu gipfelnden Endes. Die fantastische Welt ist in meinen Augen viel zu blass geraten und wird meist nur punktuell angedeutet, während die New Yorker Realität Cullens durchgehend interessant und unterhaltsam, wenn auch mit einigen Längen geschildert wird. Immerhin schien Jonathan Carroll das Thema der Traumwelt Rondua für interessant genug gehalten zu haben, fünf weitere Romane darin spielen zu lassen, auf deren Bekanntschaft ich jetzt allerdings verzichten werde.

Fazit: Starker Anfang, gute Idee, aber leider mit gezogener Handbremse ausgeführt.

Jonathan Carroll
Laute Träume (engl. Bones of the Moon)

Phantastische Bibliothek Nr. 197
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M.,
1997
200 Seiten

Sonntag, 16. Dezember 2012

Psychologisches und Konstruiertes - Philip Sington "Das Einstein Mädchen"

Was für ein bescheuerter Titel für einen Roman. Aber wie heißt es doch: 'Don't judge a book by the cover' und daher also auch nicht notwendigerweise nach dessen Titel. Natürlich hat das Buch etwas mit Albert Einstein zu tun. Zudem spielt es laut Klappentext auch in meiner Nachbarschaft, eine Kombination von der ich mir einiges versprach. Aber wir werden sehen....

Die Handlung des Romans von Philip Sington spielt vorwiegend in Berlin sowie Potsdam und Caputh, letzteres der Standort von Albert Einsteins berühmten Sommerhaus, zur Zeit kurz vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Eine wunderschöne junge Frau wird halbnackt und bewusstlos im Wald nahe Caputh aufgefunden und in die Berliner Charité eingeliefert.  Der einzige Hinweis auf Ihre Identität bleibt zunächst ein Handzettel, der bei ihr gefunden wurde, auf dem eine öffentliche Vorlesung Albert Einsteins zum 'aktuellen Stand der Quantentheorie' angekündigt wird. Als die Frau wieder zu sich kommt, kann sie sich an nichts erinnern, weder daran, wer sie ist, noch wie sie in diese Lage gekommen ist. Der Psychiater Martin Kirsch, aus dessen Perspektive der Roman erzählt wird,  nimmt sich des interessanten Falls der von der Presse als 'Einstein-Mädchen' bekannt gemachten Frau an. Als er versucht, mehr über seine Patientin herauszufinden geschieht das Unerhörte und der Arzt entwickelt eine starke Zuneigung zu seiner Patientin. Da Kirsch in einem wissenschaftlichen Aufsatz auf die Schwächen der Psychologie als exakte Wissenschaft hingewiesen hatte, erweckt er die Aufmerksamkeit eines führenden nationalsozialistischen Wissenschaftlers, der ihn für seine Zwecke im Gesundheitswesen einspannen will. Doch alles gerät in Bewegung. Kirschs Verlobung mit einer reichen Industriellentochter gerät zur Farce, seine Kollegen hintertreiben seine Bemühungen und im Zuge seiner "Ermittlungsarbeiten" führt die Spur über den entlegensten Winkel Serbiens nach Zürich zu Mileva Einstein, Albert Einsteins Exfrau und dessen Sohn Eduard, der auf dem Weg war, ein brillianter Psychiater zu werden, aber an Schizophrenie erkrankt und in der bekannten Züricher Burghölzli Klinik vor der Öffentlichkeit weggeschlossen lebt. Die anfangs spannende Geschichte endet in einem reichlich konstruierten, tragischen Ende, in das auch Albert Einstein selbst mitverwickelt wird.

Ich habe das Buch im englischen Original gelesen und war am Anfang vom Sog der geheimnisvollen Geschichte und ihren Referenzen an die tatsächlichen Ereignisse der Zeit mitgerissen. Doch leider geriet die Erzählung mit Fortschreiten der Handlung in meinen Augen leicht aus dem Ruder. Vom langwierigen Psychologisieren über das unvermeidliche Sichverlieben des Arztes in die mysteriöse Schönheit hin zu einem Ende, das mit Gewalt an den Haaren herbeigezogen scheint. Leider hat es Philip Sington nicht geschafft, mich mitzunehmen in die turbulenten 1930er Jahre Berlins, das im Roman eher wie eine abgestandene Theaterrequisite mehr oder weniger blass daherkommt. Hier hatte ich mehr erwartet. Auch konnte ich mich nicht mit dem Protagonisten und seinem Innenleben anfreunden. Der in anderen Rezensionen gelobte "echte, ernsthafte und politische Tiefgang" reißt es dann auch nicht heraus, zumindest habe ich diesen nicht in gleichem Maße empfunden. Ebenso entspreche ich nicht der Einschätzung vom 'Einstein-Mädchen' als "Unterhaltungsroman auf hohem Niveau". Hätte er dies, erschiene das Ende weniger konstruiert und mehr plausibel.

Fazit: Unterhaltungsroman mit historischem Hintergrund und ein wenig Berliner Lokalkolorit, von dem ich mir mehr erwartet hatte.

 Philip Sington
 Das Einstein-Mädchen

 Deutscher Taschenbuch Verlag
 (2012)
 464 Seiten
 9,95 Euro

Montag, 10. Dezember 2012

Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich...

Um auch gleich bei den untreuen Ehefrauen zu bleiben (vgl. Effie Briest aus dem letzten Beitrag), darf in dieser Rubrik natürlich auch nicht Tolstois 'Anna Karenina' fehlen. Insbesondere da gerade auch eine Neuverfilmung in den Kinos anläuft, sollte man wieder einmal die Werbetrommel für das zugegebenermaßen umfangreiche literarische Werk rühren, dessen gut 1200 Seiten ihren bedeutungsschwangeren Tribut zollen. Also nichts für zwischendurch aber perfekt für die Zeit zwischen den Jahren, auch wenn diese Zeit für die ausschweifenden Tolstoischen Erzählarabesquen recht knapp bemessen scheint. Aber schon der erste Satz dieses Werkes ist ein ganz besonderer. Wusstest Ihr übrigens, dass er in Muriel Barberys 'Die Eleganz des Igels' zitiert wurde?


Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie ist auf ihre Weise unglücklich.
...und damit ist schon viel über die Geschichte gesagt. Wir wissen ja, dass untreuen Ehefrauen in der mitunter moralintriefenden Literatur des 19. Jahrhunderts ein ganz bestimmtes Schicksal beschieden war. Das ist ähnlich wie mit dem Untergang der Titanik. Wir alle wissen wie es endet. Trotzdem fasziniert uns die Geschichte immer wieder aufs Neue.

Leo Tolstoi: Anna Karenina, Erstausgabe 1878.

Eine komplette Rezension zu Leo Tolstois 'Anna Karenina' gibt es hier bei den Damen von leselink.de.