Sonntag, 8. Januar 2012

Viel Lärm um Nichts - T.C.Boyle 'Dr. Sex'

Zugegeben, es geht in dem Roman um die wohl 'wichtigste Sache der Welt', da Sex ja ohne jeden Zweifel zu den essentiell wichtigen Dingen unseres Lebens zählt und für den Fortbestand der menschlichen Rasse sorgt. Natürlich muss man auch nicht ständig darüber sprechen, auch wenn im vergangenen Jahrzehnt entsprechende, oftmals auf ein weibliches Publikum zugeschnittene US-Fernsehserien uns das Gegenteil nahelegen wollen. Doch es gab auch eine Zeit - und das ist noch nicht einmal so lange her - da war das Sexualverhalten unserer Artgenossen noch nicht einmal wissenschaftlich, d.h. statistisch untersucht worden. Aber das sollte sich schnell ändern und einer der dafür verantwortlichen Protagonisten war Dr. Alfred Charles Kinsey, der im Mittelpunkt des Romans 'Dr. Sex' von T.C. Boyle steht. Dabei macht der Autor klar, dass es sich um ein rein fiktionales Werk mit historischem Hintergrund handelt.

Alfred Kinsey ist von Haus aus eigentlich Zoologe, der seinen Forschungsschwerpunkt nach ausschöpfender Arbeit auf dem Gebiet der Gallwespen (von denen er Zeitlebens viele Tausende gesammelt hat), einem neuen, vielversprechenden Thema zugewandt hat: der Erforschung des menschlichen Sexualverhaltens mit modernen Methoden der Sozialwissenschaft und der Statistik. Der Roman beginnt in John Milks letzten Jahr auf der Universität. Um an der populären Vorlesungsreihe 'Ehe und Familie' teilnehmen zu können, wird der schüchterne Student von einer campusweit begehrten Kommilitonin sogar extra zu einer 'vorgetäuschten Verlobung' überredet.
"Der Ehekurs...eigentlich eine Vorlesung mit dem Titel 'Ehe und Familie' wurde von Professor Kinsey von der zoologischen Fakultät und einem halben Dutzend seiner Kollegen aus anderen Fakultäten angeboten und war die Sensation. Es waren nur Professoren und Dozenten, verheiratete und verlobte Studenten sowie Doktoranden beiderlei Geschechts zugelassen. Insgesamt würden 11 Sitzungen stattfinden, von denen fünf den soziologischen, psychologischen, ökonomischen, juristischen und religiösen Aspekten der Ehe gewidmet waren...aber in Wirklichkeit [waren sie] nichts weiter als Dekoration für die 6 unverblümten Vorträge (unter Verwendung audiovisueller Hilfsmittel), die Prok über die Physiologie ehelicher Beziehungen halten würde." (Seite 18)
Milk - selbst noch Jungfrau - ist fasziniert von dem charismatischen Professor Kinsey, von allen kurz nur 'Prok' genannt, und als er gefragt wird, ihm seine eigene 'Sex-Geschichte' im Rahmen der von Kinsey geführten Interviews zur Verfügung zu stellen, zögert er nicht lange. Schließlich wird er zu Kinseys erstem Mitarbeiter im neuen Projekt, das Sexualverhalten Amerikas mit Hilfe vertraulich durchgeführter, massenhafter Interviews zu erforschen.

Zwischen Milk und Kinsey entwickelt sich eine stark von Kinsey dominierte Beziehung, die sich dabei nicht nur auf das Berufliche beschränkt und der sich Milk nie mehr gänzlich wird entziehen können. Kinsey fällt dabei ganz typisch in die Kategorie der genialen aber überaus 'durchgeknallten' (exzentrischen) Zeitgenossen, wie sie T.C.Boyles Werke bevölkern, und hält dabei jedem Vergleich mit dem Wellness-Propheten John Harvey Kellogg (Willkommen in Wellville) oder dem Architekten Frank Loyd Wright (Die Frauen) stand. Natürlich 'lebt' Kinsey seine Arbeit, d.h. er lebt ein sexuell freizügiges Leben ohne auf die Konventionen der gängigen Moralvorstellungen Rücksicht zu nehmen und verlangt dies auch von seinen Mitarbeitern. Ein Konflikt ist da natürlich vorprogrammiert, zumal John Milks Ehefrau Iris sich nicht den von Kinsey eingeforderten sexuellen Freizügigkeiten hingeben will.

Genie und Wahnsinn liegen ja bekanntlich nahe beieinander und in meinem eigenen akademischen Leben habe ich auch schon die Bekanntschaft des einen oder anderen genialen Wissenschaftlers gemacht, der ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legte. Damit meine ich natürlich nicht die speziellen 'sexuellen' Marotten Alfred Kinseys, sondern das oftmals einseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Professoren und Doktoranden und der alttestamentarischen Selbstherrlichkeit mancher Lehrstuhlinhaber, die ihre Mitarbeiter lediglich als Leibeigene betrachten, von denen sie verlangen, ihr ganzes Leben der Forschung unterzuordnen. Natürlich weiß ich selbst aus erster Hand, dass man für sein (Forschungs-)Thema 'brennen' muss, um Herausragendes leisten zu können. Aber man kann es eben nicht von jemanden erzwingen.

Aber zurück zu T.C.Boyles Roman, der sich überaus unterhaltsam lesen lässt. In gewisser Weise erlebt man Kinseys Aufstieg zum wissenschaftlichen Ruhm und internationaler Popularität mit den Augen seines fiktiven Mitarbeiters John Milk aus nächster Nähe kennen. Und da sich der Roman über mehr als ein Lebensjahrzehnt des Gehilfen hinzieht, erlebt man auch, wie dieser charakterlich reift und sich weiterentwickelt. Daher liest sich das Werk eigentlich auch wie ein typischer Bildungs- bzw. Entwicklungsroman, aufgelockert durch die seltsam exzentrische Persönlichkeit des großen Forschers, in dessen Windschatten auch John Milk zu einem erwachsenen und selbstständigen Menschen heranreift. Allerdings fehlte dem Roman gegen Ende hin etwas der Spannungsbogen, so dass ich schließlich froh war, das letzte Drittel hinter mich gebracht zu haben.

Fazit: Wer das Leben eines Exzentrikers und des Auslösers der sexuellen Revolution quasi aus erster Hand kennenlernen möchte, dann nur zu ;-)



T. C. Boyle
Dr. Sex
Carl Hanser Verlag (2005)
472 Seiten
24,90 Euro







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