Donnerstag, 25. Oktober 2007

Ein bibliophiler Höllentrip - Matthew Pearls 'Dante Club'

Die Hölle -- so sagt eine Redensart -- das sind wir selbst. Vielmehr noch finden wir sie oft in uns selbst oder wir bereiten sie uns und anderen. Unsere Vorstellung von der Hölle ist geprägt von Dante Alighieris berühmter Schilderung aus dem ersten Teil seiner Göttlichen Kommödie, der ' Divina Commedia', diesem epischen Meisterwerk der italienischen Renaissance, das auch im Zentrum des Romans 'Der Dante Club' von Matthew Pearl steht.

Boston, 1865, der US-amerikanische Bürgerkrieg ist seit einem knappen Jahr zu Ende. Präsident Lincoln wurde von dem verwirrten Schauspieler John Wilkes Booth mit den Worten "Tod den Tyrannen" im Theater hinterrücks ermordet. Die immer noch junge USA ist gerade dabei, ihre kulturelle Identität zu finden. Die Kulturschaffenden, das sind in erster Linie die Dichter und Literaten. Allen voran, Henry Wadsworth Longfellow, ehemaliger Harvard-Literaturprofessor, der es sich zur Aufgabe erkoren hat, das größte literarische Werk der Menschheit -- Dante Alighieris 'Göttliche Kommödie' -- möglichst werkgetreu ins Englische zu übersetzen und damit die erste amerikanische Version der 'Commedia' zu schaffen. Bei dieser übersetzerischen Großtat unterstützen ihn die beiden Professoren und Dichter James Russel Lowell und Oliver Wendel Holmes, ihr Verleger J.T. Fields und der Historiker George Washington Greene. Um ihr gemeinsames Unternehmen in die Tat umzusetzen, gründeten die illustren Herren den Dante Club, der sich zu wöchentlichen Sitzungen trifft, bei denen die Übersetzungsvorschläge Longfellows kritisch diskutiert werden. So weit bewegen wir uns auf dem Boden der geschichtlichen Tatsachen.

Eine abscheuliche Mordserie an bekannten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens erschüttert Boston. Insbesondere die Grausamkeit der Todesumstände und die damit verbundenen Leiden der einzelnen Opfer geben der zur damaligen Zeit recht unorganisierten Polizei Rätsel auf. Zudem kämpft die Polizei ebenso um die Akzeptanz der ersten farbigen Polizeibeamten -- sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Bevölkerung. Doch den Professoren des Dante Clubs wird schnell klar, dass sich der Täter anscheinend Dantes Werk als Handlungsanleitung erkoren hat. Doch -- und das macht die Sache rätselhaft -- in den USA existieren bislang noch so gut wie keine (damals nur britischen) Übersetzungen von Dantes Schriften. Es muss sich also aller Wahrscheinlichkeit nach entweder um einen Sprachexperten oder eben um einen Muttersprachler handeln, der nicht nur der alten italienischen Sprache Dantes mächtig ist, sondern zudem auch noch ein Experte des Werkes selbst ist -- so wie gerade auch die Mitglieder des Dante Clubs. Die Professoren sind nun erst einmal alles andere als die geborenen Detektive -- und das vermag Matthew Pearl sehr gut darzustellen. Alle kämpfen sie mit ihren privaten Problemen: Longfellow mit dem tragischen Verlust eines geliebten Kindes (und seiner Frau), Professor Lowell mit dem Harvard-Aufsichtsgremium, das seine Dante-Vorlesungen als papistische Propaganda verunglimpft und verbieten möchte, und Professor Holmes mit großen Selbstzweifeln und einem gebrochenem Verhältnis zu seinem als Kriegsheld heimgekehrten Sohn, der zu allem Ärger auch noch Jura studiert.

"Auf halbem Weg des Menschenlebens fand ich mich in einen finstern Wald verschlagen, Weil ich vom rechten Weg mich abgewandt" -- so heisst es am Anfang von Dantes Kommödie. In dieser Situation sehen sich die Protagonisten des Buches ebenso mit dem eigenen Fehlen konfrontiert. Die Morde sind tatsächlich schrecklich und den Visionen Dantes nachempfunden. Dante denkt sich in seinem 'Inferno' für jede Sünde die passende Strafe, den sogenannten 'Contrapasso' (Wiedervergeltung) aus. Dieser Contrapasso besteht darin, dass die Tat des Sünders in gewisser Weise gegen ihn selbst umgekehrt wird. Die Simonisten etwa -- also Priester, die sich haben bestechen lassen oder die Kirchengelder für private Zwecke veruntreut haben -- trifft der Dichter kopfüber im Boden eingegraben und wie lebendige Kerzen an den Füßen brennend. Ein Schicksal, das auch eines der Opfer im Buch teilen wird.

Wir werden Zeuge der professoralen Schnitzeljagd nach dem dantesquen Mörder, aber der Mörder scheint unserem Dichterkreis immer einen Schritt voraus zu sein. Nicolas Rey, Bostons erster farbiger Polizist, ist ebenfalls hinter dem Täter her und gerät schließlich auf die Spur unserer Professoren. Er wird zum Verbündeten, aber die Dante-Jünger geraten von einer Sackgasse in die nächste. Matthew Pearl schildert das Leben in der winterlichen Metropole des 19. Jahrhunderts in sehr eindringlicher Weise. Die aus dem Bürgerkrieg heimgekehrten Veteranen können sich ebenso wenig leicht wieder in ihr bisheriges Leben integrieren, wie dies den Vietnam-Heimkehrern oder den Veteranen des Irak-Krieges heute gelingen mag. Die Schrecken des Krieges, sie waren damals wie heute im Stande, einem Menschen für immer um den Verstand zu bringen. Und ebenso gibt es und gab es in Amerika Rassismus. Die eingewanderten Iren hetzen gegen die Italiener und die Farbigen aus dem Süden, weil sie ihnen die wenigen Jobs wegnehmen. Auch waren nicht alle Nordstaatler tatsächlich auch Gegner der Sklaverei. Ebenso gibt es Spannungen zwischen den (meist irischen) Katholiken und den vorherrschenden protestantischen Unitaristen. All diese Gegensätze vermag der ebenfalls in Harvard studierte Autor treffend und lebhaft in Szene zu setzen.

Ich habe das Buch in der englischen Originalausgabe gelesen und kann daher erst einmal nichts zur sprachlichen Qualität der deutschen Übersetzung sagen. Im Original wechselt Pearl zwischen dem damaligen Slang der einfachen Leute und Kriminellen und der professoralen Hochsprache. Etwas gewöhnungsbedürftig und wirklich gar nicht so einfach zu verstehen. Im Gegensatz zu den letzten beiden englischsprachigen Büchern, die ich gelesen und hier besprochen habe ('A Short History of Everything' und 'Jonathan Strange & Mr. Norrel') ist der Dante Club sprachlich anspruchsvoller. Die Auflösung der Mordfälle werde ich an dieser Stelle nicht liefern, um dem zukünftigen Lesern die Spannung nicht zu verderben. Im Gegensatz zu den akuellen Bestseller-Thrillern von Dan Brown oder Michael Crichton herrscht hier nicht atemlose, hektische Spannung und eine beständige Abfolge von Cliffhangern, sondern es wird die Psychologie der Beteiligten ausgiebig ausgelotet. Für die Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts erschien diese Zeit der Industrialisierung und der frühen Moderne als ebenso hektisch und atemlos wie uns die heutige. Aber -- und das ist gut so -- Matthew Pearl nimmt sich Zeit für seine Figuren, die man beim Lesen schnell lieb gewinnt und die auch für manche Überraschung gut sind.

Andererseits macht das Buch Appetit auf deutlich mehr Dante. Sei es, diesen einmal wieder zu lesen bzw. auch ihn das erste mal richtig kennen zu lernen. Als Jugendlicher hat mich vor allem der erste Teil von Dantes Kommödie, das Inferno, begeistert. Ein architektonischer Entwurf einer jenseitigen Welt, in der man seinen Sünden entspechend bestraft wird -- und das für alle Ewigkeit. Dante und sein Führer Vergil durchmessen sämtliche Höllenkreise (die Hölle ist angelegt im Stil eines Trichters aus neun konzentrischen Kreisen, je tiefer man hineingerät, desto härtere Strafen erwarten die Sünder) und Dante setzt seinen Weg fort, (im 2. und dritten Teil) über den Läuterungsberg (Purgatorio) schließlich hinauf in himmlische Sphären (Paradiso). Dabei bekommt der Leser viele Zeitgenossen Dantes zu Gesicht, denen er einen wohlbedachten Platz in seiner Nachweltarchitektur hat zukommen lassen. Da der Leser von heute aber weder mit den Lebensumständen des 14. Jahrhunderts noch mit Dantes Zeitgenossen vertraut sein wird, ist jede Ausgabe der Kommödie üblicherweise mit tonnenschweren Fußnoten und Erklärungen versehen -- was dem Lesegenuss aber keinen Abbruch tut. Viele Zeitgenossen Dantes sahen in der Kommödie kein fiktives Werk, sondern waren von der Realität von Dantes Reise durchaus überzeugt. Aber Dantes Reise ist auch eine Reise in die Abgründe des eigenen Ichs. Und das ist es, was uns dieses Werk auch heute noch so nahebringt.
Als Jugendlicher habe ich übrigens nicht mit Dantes Original angefangen, sondern bin über eine Science Fiction Geschichte überhaupt erst zum Thema gekommen. Larry Nivens und Jerry Pournelles 'Das zweite Inferno' (leider nicht mehr im Handel erhältlich...), eine an die Realität der 70er Jahre angepasste Version von Dantes Inferno. Sicher mehr oder weniger Trivialliteratur, aber doch ein erster Einblick in die Welt Dantes garniert mit Aktualisierungen für unsere heutige Zeit.

(Nachtrag: ebenfalls als von Dante inspiriertes Werk gibt es hier im biblionomicon noch eine Rezension zu Andrew Davidsons 'Gargoyle')

Fazit: Der Dante Club ist wieder mal ein Professorenroman par excelence, diesmal in Gestalt eines Thrillers, der sich nicht mythologischen oder historischen Motiven annimmt, sondern das Werk Dantes im Spiegel des 19. Jahrhunderts Revue passieren lässt und uns den großen amerikanischen Dichter Longfellow und seine Dichterfreunde näherbringt. Die Handlung entwickelt sich überaus spannend und man wird mit zahlreichen Informationen aus der Zeit und dem Werk Dantes sowie mit dem Boston des 19 Jahrhunderts auf unterhaltsame Weise vertraut gemacht. Das richtige Buch für lange dunkle Winterabende.....und natürlich zu lesen im Original!

Links:

  1. Dantes 'Göttliche Kommödie' in deutscher Übersetzung, vollständiger Text bei Projekt Gutenberg (Übersetzung: Karl Steckfuß)

  2. Die Werke von Henry Wadsworth Longfellow, im Original bei Project Gutenberg

  3. Henry Wadsworth Longfellows Übersetzung von Dantes Göttlicher Kommödie bei Project Gutenberg

  4. Matthew Pearls Homepage

  5. Book Reviews zu 'The Dante Club' bei reviewsofbooks.com

  6. Buchrezension zum Dante Club aus der New York Times



sonstige Links: