Wie ich zu dem Buch gekommen bin? Es war ein Geschenk! Tatsache, es wurde uns geschenkt, dazu noch zu unserer Hochzeit... Nein, ich hab' das jetzt erst einmal nicht als 'Anspielung' verstanden, da ich bzw. wir doch bislang nur wenig mit Nordschweden gemein haben. Nein, das Buch wurde uns auch nicht von den Schweden-Aficionados aus unserem Bekanntenkreis geschenkt. Aber Spaß hatte ich dann doch beim Lesen dieses ungewöhnlichen Coming-of-age Romans, der den Leser in die entlegenen Gebiete Nordschwedens Ende der 1960er Jahre entführt und ganz und gar in seinen Bann zieht...
Also meiner Meinung nach übertreibt der Verlag, wenn er sich auf dem Cover mit der Rezension aus der 'Brigitte' brüstet mit "Das großartigste Buch des Jahres...". Am besten man relativiert das erst einmal mit der Quelle (=Brigitte), die sich ja nicht unbedingt mit literaraturkritischen Großtaten hervortut. Mikael Niemi legt mit 'Populärmusik aus Vittula' die schwedische Comedy-Variante eines typischen Entwicklungsromans vor, der (natürlich) nicht wirklich die Klasse eines seiner berühmten Vorbilder erreichen kann - und es höchstwahrscheinlich auch gar nicht darauf abzielt. Nun, Schweden, insbesondere Nordschweden ist für uns Mitteleuropäer mehr oder minder 'Terra Incognita', also unbekanntes Territorium. Daher kann uns der Autor ja Vieles darüber erzählen, und wir müssen dann es erst einmal glauben. Es ist ein hartes und raues Leben im tornedalischen Pajala, genauso rau wie seine Einwohner. Hier wachsen in den 1960er Jahren Matti und sein schweigsamer Jugendfreund Niila auf, in der Grenzregion zwischen Schweden und Finnland fernab vom Rest der Welt.
"Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier soviele Kinder geboren wurden. In vielen der Hütten gab es fünf Kinder, manchmal auch mehr, und der Name wurde zu einer Art Lobgesang der weiblichen Fruchtbarkeit." (Seite 12)
In haarsträubend komischen, mitunter auch traumartigen Episoden schildert Niemi das Leben und Heranwachsen seines Protagonisten, das geprägt ist von ausufernden Familienfeiern, Sauna- und Männlichkeitsritualen von barocken Dimensionen, sowie dem zaghaften Sichannähern an die den Protagonisten bislang unbekannte Welt des weiblichen Geschlechts. Zudem dringt auch die Popkultur - zunächst in Form einer geradezu unerhörten Schallplatte - in die fernen, gottverlassenen nordschwedischen Regionen vor. Der Effekt, den diese Musik auf die Freundinnen von Mattis großer Schwester ausübt, bleibt den beiden Freunden nicht verborgen, und schnell ist der Plan gefasst, selbst eine Popband zu gründen. Ok, ein Instrument spielen oder gar singen kann keiner der beiden, aber es ist ja bekanntlich der Wille, der zählt, sowie die Aussicht auf Anerkennung bei den Mädchen.
"Feierlich legte ich sie auf den Plattenspieler und senkte den Tonabnehmer. Drehte die Lautstärke auf. Es knisterte leise... Ein Lärm! Das Gewitter brach los. Ein Pulverfass explodierte und sprengte das Zimmer. Der Sauerstoff ging zur Neige, wir wurden gegen die Wände geschleudert, waren an die Tapete gepresst, während sich die Kammer in rasender Fahrt drehte. Wir klebten wie die Briefmarken fest, das Blut wurde uns ins Herz gepresst, sammelte sich in einem darmroten Klumpen, bevor alles kehrt machte und in die andere Richtung sprang, bis in die Finger und Zehenspitzen, rote Speerspuren von Blut im ganzen Körper, bis wir wie die Fische nach Luft schnappten." (Seite 89)
Matti beginnt also auf der Gitarre zu dilettieren, während sein Vater ihn beiseite nimmt, um ihn über die Risiken des Erwachsenwerdens aufzuklären. Das Gefährlichste für ihn sei immer noch das (in seinen Augen oft exzessive) Bücherlesen, das bekanntlich geradewegs zur Geisteskrankheit führt. Aber Matti hat ja statt Lesen andere Dinge im Kopf. Um den Traum von seiner Popband zu verwirklichen übernimmt er in den Ferien für einen Touristen eine überaus unappetitliche Rattenvernichtungsaktion, mit der er sich die heiß ersehnte Elektrogitarre finanzieren möchte. Die Aktion gerät außer Kontrolle, stinkende Leichenberge und Massengräber (für die Ratten) sind die Folge. Natürlich passt das zusammen mit der Tatsache, dass es sich bei dem Touristen um einen ehemaligen Wehrmachtssoldaten handelt, der seine finnischen Kriegserinnerungen schriftstellerisch aufarbeiten möchte. Als ob das Leben eines Heranwachsenden noch nicht kompliziert genug wäre...
Das Buch hat mich gut unterhalten, auch wenn ich mich öfters an der platten, von Kraftausdrücken durchsetzten Sprache gestört habe. Aber die gehört ja zum Heranwachsen dazu und gibt den Figuren ein entsprechend plastisches Gesicht. Auch wenn einige der Episoden wirklich köstlich sind, habe ich das Buch am Ende doch ein wenig enttäuscht aus der Hand gelegt. Aber so ist das ja auch mit dem Erwachsenwerden. Die wenigsten von uns sind doch Astronaut oder Geheimagent geworden.
Fazit: Origineller Coming-of-Age Roman aus der einsamen nordschwedischen Provinz, den man nicht allzu ernst nehmen sollte. Lesen (und Amüsieren) auf eigene Gefahr...