Montag, 28. Dezember 2009

Kartenwahrheiten und wahre Wahrheiten - Reif Larsen: Die Karte meiner Träume


Natürlich waren es die Illustrationen, Karten und Zeichnungen, die dieses Buch auf den ersten Blick so ungewöhnlich wie auch interessant erscheinen ließen, auch wenn man erst ein wenig Zeit braucht, um sich an den holprigen Stil zu gewöhnen, da man immer wieder durch bildunterstützte Einschübe im Lesefluss unterbrochen wird, erweist sich Reif Larsons Roman am Ende doch als echter "Pageturner".

Obwohl ein Romandebut, brachte es Reif Larsens "The Selected Works of T.S. Spivet", wie "Die Karte meiner Träume" mit Originaltitel heißt, schon bereits vor seinem Erscheinen im Frühjahr 2009 in die Schlagzeilen, da Penguin Press Reif Larsen einen Vorschuss von fasst einer Million US-Dollar gezahlt haben soll, bevor zehn weitere Verlagshäuser in die entstandene Bieterschlacht um die künftigen Publikationsrechte eingestiegen sind...

Tecumseh "Sparrow" Spivet (kurz T.S.) ist 12 Jahre alt und ein begnadeter Kartograph. Er lebt zusammen mit seiner älteren Schwester Gracie (Girlie-Pop und Pink-umrandetes iBook), seinem wortkargen Rancher-Vater (Western-Videos und Billy-the-Kid Schrein im Wohnzimmer) und seiner akademischen Mutter Dr. Clair (verhinderte Käfer-Wissenschaftlerin, seit 20 Jahren auf der Suche nach einem "Phantom"-Käfer) auf einer kleinen Farm in Montana, also weitab der pulsierenden modernen Metropolen dieser Welt. Alles, was T.S. umgibt, angefangen von Alltagskleinigkeiten bis hin zu zu kartografisch-statistischen Großprojekten, alles verwandelt er dank seiner grafisch-wissenschaftlichen Begabung in Landkarten, die er in Bergen von Notizbüchern festhält und in diversen Bücherregalen geordnet archiviert. Dr. Yorn, ein Freund und Bekannter seiner Mutter unterstützt ihn bei seinen Projekten, die ihm - ohne das Wissen seiner Familie - bereits Veröffentlichungen in bekannten wissenschaftlichen Zeitschriften eingebracht haben. Zudem reicht er die Zeichnungen ohne T.S. Wissen bei einem Wettbewerb des berühmten Smithsonian Instituts ein, den er prompt gewinnt. Bei einem Anruf des Smithsonian gibt sich T.S. als Erwachsener aus und wird zur Gala-Veranstaltung nach Washington und als Gastwissenschaftler für ein Jahr an das Smithsonian Institut eingeladen.
"Wenn du nicht tust, was du tun kannst, dann tötest du einen Teil deiner selbst, und dieser Teil wird nicht wieder nachwachsen." (Seite 273)
Aber T.S. ist eben nur ein 12-jähriger kleiner Junge, zudem mit einem traumatischen Erlebnis belastet, das die ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen hat. Sein jüngerer Bruder Layton ist in Folge eines gemeinsamen Experiments beim Überprüfen eines Gewehrs mit Ladehemmung ums Leben gekommen und T.S. fühlt sich dafür verantwortlich. Insbesondere scheint niemand in der ganzen Familie dem anderen tatsächlich zuzuhören oder mit dem anderen zu reden. So packt T.S. seinen Koffer mit den wichtigsten Kartographen-Utensilien und verlässt die elterliche Farm im Morgengrauen, um mit einem nahe an der Farm vorüberfahrenden Güterzug gleich einem Hobo die verwegene und abenteuerliche Reise quer durch die USA nach Washington anzutreten.
"Ich gehörte hier nicht hin. Ich wusste das schon lange...Ich passte nicht in dieses Land der Berge. Ich würde nach Washington gehen. Ich war Wissenschaftler, Kartograph, ich wurde dort gebraucht." (Seite 74)

In einem Notizbuch, das er seiner Mutter beim Abschied entwendet hat, findet er anstelle taxonomischer Untersuchungen über Käfer die Geschichte seiner Ur-Urgroßmutter Emma Englethorpe Spivet, promovierte Kartografin und eine der ersten Professorinnen der USA, die auf einer kartografischen Expedition in den Westen des Landes seinen Ur-Urgroßvater Tearho Spivet, einen finnischen Einwanderer kennen und lieben gelernt hatte. Auf seiner Reise lernt T.S. viel über sich und seine Familie, er passiert unbeschadet ein Wurmloch (vielleicht hat er das aber auch nur geträumt), erreicht trotz aller Hindernisse, Gefahren und Abenteuer Washington und wird tatsächlich Mitglied des sagenumwobenen Megatherium-Clubs des Smithsonian. Auch wenn ich das Ende der Geschichte hier noch nicht verraten möchte, sollte ich erwähnen, dass einige der oft überschwenglich positiven Kritiken auf dieses Erstlingswerk vor allen Dingen das Ende und die Auflösung des Romans kritisieren. Ein abschließendes Urteil darüber sollte man sich aber am besten doch selbst bilden.
"Eine Karte ist mehr als das (Punkte und Striche), sie verzeichnet nicht nur, sie erschließt und schafft Bedeutung, sie ist ein Brückenschlag zwischen hier und dort, zwischen scheinbar unvereinbaren Ideen, die wir nie zuvor im Zusammenhang gesehen haben." (Seite 163)
Dieses Buch kommt daher wie ein sorgsam illustriertes Roadmovie, das uns das Innenleben eines Wunderkinds vor Augen führt, dessen Familienleben etwas aus den Fugen geraten zu sein scheint. T.S. analytisch nüchterne Weltsicht erinnert mich stark an den autistischen Titelhelden Christopher Boone, der in Mark Haddons Roman "The Curious Incident of the Dog in the Night-time" die Aufklärung des Mords am Nachbarshund in Sherlock-Holmes-Manier aufnimmt und sich dabei ebenfalls auf eine für seine Verhältnisse mehr als große Reise begibt (die Rezension der Geschichte findet sich auch hier im Biblionomicon). Aber im Gegensatz zu Christopher Boone ist T.S. natürlich kein Autist. Seine wenigen, aber doch vorhandenen sozialen Kontakte beschränken sich aufgrund seiner beeindruckenden Fähigkeiten auf seinen wissenschaftlichen Ziehvater Dr. Yorn und in der Hauptsache auf seine Familienmitglieder. Selbst in Washington angekommen, wird er als 12-jähriges Wunderkind in den Medien herumgereicht und jeder möchte seine Popularität für eigene Zwecke nutzen. Einen wahren Freund zu finden ist schwerer als man denkt.


Was mich selbst etwas verwirrt hat, ist der seltsam anmutende und kaum vorhandene Umgang mit den neuen Medien, die zumindest im (natur- und ingenieurs-)wissenschaftlichen Leben seit Jahren schon präsent sind. Der Roman spielt in der Jetztzeit - auch wenn einigen kritischen Anmerkungen zum US-amerikanischen Staatsoberhaupt ("Der Präsident ist ein Scheißer", Seite 397) anzumerken ist, dass wir uns im Roman wohl eher unter der Bush-Administration befinden. Aber der Repräsentant des angesehenen Smithsonian Instituts hat anscheinend keinerlei Versuche gemacht, den Preisträger, den er für einen Lehrstuhlinhaber hält, im Internet zu recherchieren. Colleges und Universitäten besitzen Homepages, auf denen Informationen zum Lehr- und Forschungspersonal zu finden sind - und das schon seit Jahren. Auch scheint T.S. selbst keinerlei Neigung bzw. Zugang zum Internet zu besitzen, da es doch auch speziell für ihn eine ungeheuere Bereicherung seines wissenschaftlichen Horizonts mit einer Unmenge von Daten- und Kartenmaterial darstellen würde, ganz zu schweigen von den Möglichkeiten, seine eigenen Arbeiten zu veröffentlichen. Natürlich ist es wahrscheinlich, dass eine Farmerfamilie im mittleren Westen ohne Kabelfernsehanschluss auch nicht über einen Breitbandinternetanschluss zu Hause verfügt (so spielen T.S. und sein Bruder noch auf einem alten Apple IIGS Computerspiele...). Aber zumindest die wissenschaftlich arbeitende Mutter, die Schule oder aber Dr. Yorn als T.S. wissenschaftlicher Ziehvater sollten das Internet nutzen. Wahrscheinlicher ist es aber eher, dass der Autor selbst keine große Internet-Affinität besitzt. T.S. selbst mag das Arbeiten mit dem Computer nicht und zieht das Schöpferische und Gestaltende seiner zeichnerischen Begabung dem Programmieren vor, "...am Computer fühlte ich mich nur wie ein Handlanger", Seite 164. Aber abgesehen von dieser - in meinen Augen - kleinen Ungereimtheit, habe ich die Lektüre dieses ungewöhnlichen und abenteuerlich spannenden Romans sehr genossen!
"Mittelmäßigkeit ist eine Pilzkrankheit des Geistes...(Dr. Clair)" (Seite 354)
Fazit: Ein ungewöhnlich ausgestatteter Roman, der uns mitnimmt auf eine wunderbare Reise und uns unsere Welt aus einer altklug kindlichen Perspektive zeigt, in der eine nie versiegende Neugier steckt, die wir uns alle zu eigen machen sollten. Sicher wieder einmal nichts für jedermann, aber trotzdem LESEN!

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